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REPRESSION/1490: Massenhaft und ausdauernd - sozialer Widerstand in der Türkei (SB)




Rund 5000 Verletzte, drei Tote und eine unbekannte, wahrscheinlich in die Tausende gehende Zahl von Festgenommenen war die Bilanz des Versuchs der Staatsgewalt, den Aufstand in der Türkei zu unterdrücken, schon vor dem heutigen Angriff der Polizei auf den Taksim-Platz. Zu unterstellen, die Demonstrantinnen und Demonstranten hätten die sogenannten Sicherheitskräfte zu der massiven Brutalität genötigt, mit der sie den Protesten gegen die türkische Regierung unter Präsident Tayyip Erdogan entgegentreten, hieße das herrschende Gewaltverhältnis auf den Kopf zu stellen. In türkischen Knästen sitzen rund 10.000 politische Gefangene, zumeist Mitgliederinnen und Mitglieder der Kurdischen PKK, aber auch Kommunistinnen und Kommunisten vor allem der DHKP-C. Körperliche Übergriffe auf diese Gefangenen sind an der Tagesordnung, zudem sind die Haftbedingungen erniedrigend und menschenfeindlich.

In der Türkei müssen nicht nur Journalistinnen und Journalisten Angst haben, daß es ihnen wie mehr als 70 ihrer Kolleginnen und Kollegen ergeht, die zumeist wegen der bloßen Thematisierung kurdischer Ansprüche auf rechtliche Gleichstellung im Gefängnis sitzen. Ganz normale Bürgerinnen und Bürger werden unter Terrorismusverdacht gestellt und verhaftet, wenn sie gegen Antiterror-Paragraphen verstoßen, die bloße Worte kriminalisieren. Über 25 Menschen wurden verhaftet, weil sie sich auf Twitter zu den Protesten geäußert haben. Die Polizei führt derzeit Personenkontrollen auf Istanbuler Straßen durch, bei denen sie die Handys der Betroffenen daraufhin untersucht, ob sie soziale Medien nutzen, um sich an den Protesten zu beteiligen.

Die Massenbewegung gegen die AKP-Regierung wurzelt zu einem Gutteil in der alltäglichen Repression, mit der insbesondere politische Aktivistinnen und Aktivisten konfrontiert sind. Sie richtet sich auch gegen die Einschränkung der persönlichen Lebensweise durch den Versuch, islamische Sittengesetze durchzusetzen. Sie widersetzt sich der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die Millionen arbeitslos macht und die Kosten der Lohnarbeit senkt, um die alte wie neue Bourgeoisie noch reicher zu machen. Sie protestiert gegen die neoliberale Stadtentwicklung, die den Menschen keinen Raum mehr für Begegnungen und Aktivitäten läßt, die sich der Bilanzierung in den Kennziffern wirtschaftlichen Wachstums entziehen. Sie ist nicht einverstanden mit dem Kriegskurs des Präsidenten, der sich an die Spitze der NATO-Aggression gegen Syrien gesetzt hat, um neoosmanischen Ambitionen zu frönen.

Das schiere Ausmaß des Aufstandes, der allein in Istanbul Millionen auf die Beine brachte, um durch die eigene Präsenz Stellung gegen die Regierung zu beziehen, wie die Ausdauer, mit der seit nun fast zwei Wochen vor allem am Bosporus wie in Ankara, aber auch in zahlreichen anderen Städten des Landes protestiert wird, belegen den grundsätzlichen Charakter des sozialen Widerstands. Selbst wenn es den Demonstrantinnen und Demonstranten nicht gelingt, die Regierung zum Rücktritt zu zwingen, was auch nur eines unter mehreren Zielen des Protestes ist, so haben sie schon jetzt einen Entwicklungssprung im Sinne des kämpferischen und solidarischen Eintretens für die eigenen Interessen vollzogen, der nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen ist.

Allein der heterogene Charakter der wie eine Springflut von Occupy Gezi ausgegangenen Bewegung zwischen linken Organisationen und anarchistischen Gruppen, sozialökologischen Initiativen, Recht-auf-Stadt-Bewegten, LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten, politisch bis dahin überhaupt nicht aktiven Menschen sowie zahlreichen Anhängern des Republikgründers Kemal Atatürk, die vor allem in Ankara mit der türkischen Nationalfahne präsent sind, könnte eine neue Kultur basisdemokratischer Verständigung entstehen lassen. So sollen Anhänger der ehemaligen Regierungspartei CHP erklärt haben, man habe sie 20 Jahre lang über die Situation in den mehrheitlich kurdischen Gebieten des Landes getäuscht. Überhaupt ist die Kritik an den etablierten Medien groß, nachdem diese tagelang versuchten, die Proteste schlicht zu ignorieren. Als traditionelle Garanten der Staatsmacht wissen die Sender und Zeitungen nicht damit umzugehen, daß plötzlich ganz viele Menschen sehr deutliche Worte für die politischen Verhältnisse im Land finden, die sie ihrem Verlautbarungsjournalismus nicht entnommen haben können.

Es ist kein Zufall, daß Erdogan gestern Gesprächsbereitschaft signalisiert hat und heute bislang vergeblich versuchte, den Taksim-Platz in Istanbul räumen zu lassen, sondern eine bewährte Strategie, die Widerstandsbereitschaft oppositioneller Bewegungen zu schwächen. So wird der Taksim-Platz seit Dienstagmorgen angegriffen, und die Berichte, die von einem relativ zurückhaltenden Vorgehen der Polizei sprechen, können dies bestenfalls im Vergleich zu den Gewaltexzessen der Vortage tun. Der zehnstündige Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas- und Blendgranaten, möglicherweise auch Gummigeschossen gegen die Besetzerinnen und Besetzer hat wieder zu zahlreichen Verletzungen geführt. Zum Schutz von Verhafteten herbeigeeilte Anwälte wurden selbst verhaftet, das medizinische Personal, das sich freiwillig um die Verletzungen der Demonstrantinnen und Demonstranten kümmert, wurde mehrere Male nicht zu den Betroffenen gelassen.

Daß aus den Reihen der Verteidiger des Platzes Brandsätze und Steine flogen, ist mit der These, es handele sich dabei um Agents provocateurs der Polizei, nur unzureichend erklärt. Es kann bei einem so breit gefächerten Protest kaum ausgeschlossen werden, daß sich in Anbetracht des aggressiven Vorgehens der Staatsgewalt auch unter den Demonstrantinnen und Demonstranten Militanz entwickelt. Im Falle der Demokratiebewegung in Syrien wurde die Eskalation der Gewalt in westlichen Hauptstädten schnell gutgeheißen, witterte man doch die Möglichkeit, den Protest für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Die Katastrophe dieses keineswegs als Bürgerkrieg zu bezeichnenden, sondern von verschiedenen Seiten her internationalisierten Konflikts hält einzelne NATO-Staaten nicht davon ab, weiterhin die Lieferung von Waffen an die inzwischen weitreichend von islamistischen Milizen gebildeten Rebellen wie die Einrichtung einer Flugverbotszone, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem zwischenstaatlichen Krieg führte, zu verlangen.

Ganz anders im Fall der Türkei. Es handelt sich um einen NATO-Staat von großer Bedeutung für die Politik des Militärbündnisses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere in Hinsicht auf den Versuch, einen Regimewechsel in Syrien als Auftakt zur Ausschaltung der libanesischen Hisbollah und der Herrschaft des schiitischen Klerus im Iran herbeizuführen. Die NATO mischt in der Region kräftig mit und schürt die Kriegsgefahr auch in der Türkei, wo der Widerstand gegen die antisyrische Politik der eigenen Regierung stetig wächst. Dementsprechend verhalten ist die Kritik von Regierungen, die keine Scheu haben, sich in die inneren Angelegenheiten mißliebiger Staaten einzumischen, an Erdogan und der AKP-Regierung. Um so wichtiger sind die Solidaritätsdemonstrationen und -veranstaltungen, die in zahlreichen europäischen Städten stattfanden und stattfinden.

Denn der nationale Wettbewerbsstaat ist bei aller Konkurrenz zu seinesgleichen keineswegs, wie häufig behauptet wird, zu einer dezentralisierten, subsidiären, nurmehr funktional definierten Form von Governance transformiert worden. Er hat die Machtfülle des zentralistisch administrierten Regierungsapparats lediglich in transnationale Instanzen des finanz-, wirtschafts-, arbeits- und bevölkerungspolitischen Kommandos überführt und damit qualifiziert. EU, NATO, IWF, EZB, WTO und zahllose weitere Schnittstellen auf der mittleren Ebene des gouvernementalen Managements verrichten ihre Aufgaben in der relativen Undurchdringlichkeit bürokratischer Apparate. Technisch-wissenschaftliche Intelligenz, polizeilich-geheimdienstliche Repression, militärische Intervention und kulturindustrielle Animation präsentieren sich als bloße Dienstleister am Kunden. Der Eindruck, nicht sachbezogener und funktionsorientierter sein zu können, wird allerdings nur so lange aufrechterhalten, als sich das mit allen Mitteln hochentwickelter Regierungstechnik verfügte Marktsubjekt nicht anschickt, das ungebrochen räuberische und unterdrückerische Interesse seines administrativen Gegenübers zu erkennen und aufzuheben.

Im breiten Charakter des Protestes liegt die große Chance, eine Verständigung unter Menschen und Gruppen der türkischen Gesellschaft zu erzielen, die auch durch innovative Methoden und Agenturen der Herrschaftsicherung nicht zu spalten und zu vereinahmen ist. Gerade darin dürfte die hauptsächliche Stoßrichtung der Sachwalter oligarchischer, religiöser und ökonomischer Macht liegen. Die Chance, unbeherrschbare und unverfügbare Verhältnisse unter Menschen zu schaffen, erweist ihre Stärke vor allem darin, derartige Strategien zu durchschauen und zu bekämpfen. Der subjektive Charakter des Protestes bietet viele Einfallstore zu seiner Neutralisierung und sogar Verkehrung. Er verkörpert in Anbetracht der bereits vollzogenen Atomisierung der sozialdarwinistischen Konkurrenzgesellschaft aber auch eine denkbar große Annäherung an fast vergessene Fähigkeiten und Qualitäten der kollektiven Selbstorganisation und des sozialen Widerstands.

Fußnoten:

Mehrsprachiger Ticker zur Entwicklung in der Türkei:
http://turkishspring.nadir.org/index_ger.html

Bilder von den Protesten:

http://occupygezipics.tumblr.com/

11. Juni 2013