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REPRESSION/1576: Krieg den Flüchtlingen und NGOs im Mittelmeer (SB)



Das maßgeblich unter deutscher Führung entwickelte strategische Konzept der Flüchtlingsabwehr sieht vor, die Abschottung Europas soweit vorzuverlagern, daß möglichst wenige geflohene Menschen die Ägäis und das Mittelmeer erreichen. Nachdem das Abkommen mit dem türkischen Regime die östliche Route weitgehend verschlossen hat und Griechenland eine zusätzliche Pufferfunktion aufgezwungen wurde, konzentriert sich der Kampf gegen die Flüchtlinge nun auf den nordafrikanischen Raum. Durch die Kopplung von Hilfsgeldern an Maßnahmen zur Kontrolle und Schließung der Fluchtwege werden die Regierungen Nigers, Malis und des Tschads zur Kollaboration veranlaßt, die bislang weitgehend unbegrenzte Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge über die Ländergrenzen hinweg einzuschränken. In den Anrainerstaaten des Mittelmeers sollen Lager eingerichtet oder ausgebaut werden, um sogenannte illegale Migrantinnen und Migranten einzusperren und zurückzuschicken. Die dritte und letzte Komponente dieses gestaffelten Kordons ist eine verschärfte Überwachung der offenen See mit dem Ziel, möglichst viele Flüchtlinge abzufangen und an die afrikanische Küste zurückzubringen.

Die italienische Regierung bereitet derzeit den Einsatz von Schiffen, Flugzeugen und Drohnen vor der libyschen Küste vor, um die Abschottung voranzutreiben. Wie schon jetzt die mit EU-Geldern aufgerüstete libysche Küstenwache Schiffbrüchige wieder ans Festland zurückbringt, will das offenbar bald auch die italienische Marine tun. Nachdem sich der Chef der libyschen Regierung der Nationalen Übereinkunft, Fajiz al Sarradsch, mit seinem wichtigsten innerlibyschen Widersacher, General Chalifa Haftar aus Tobruk, in Paris soweit geeinigt hatte, daß von dessen Seite kein größerer Widerstand zu erwarten ist, hat er in Rom formell um diese Militärhilfe gebeten, die ihm umgehend gewährt wird. Die noch erforderliche Zustimmung des italienischen Parlaments und die Abstimmung innerhalb der EU dürften Selbstgänger sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits Unterstützung zugesagt, und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte nach seinem Besuch des italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni "praktizierte Solidarität" der EU. Es dürfe sich nicht die Situation von 2015 wiederholen, als Zehntausende Flüchtlinge in Griechenland aufliefen. Damals sei Griechenland alleingelassen worden. [1]

Unterdessen wird die Bezichtigung, wer Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rette, leiste verdeckte Schlepperdienste, mit voller Wucht in Stellung gebracht. Nachdem 400 Flüchtlinge ertrunken waren, hatte die italienische Marine im Rahmen der Operation "Mare Nostrum" im Herbst 2013 begonnen, Flüchtlinge zu retten und nach Sizilien zu bringen. Dies mußte sie nach einem Jahr Ende Oktober 2014 auf Druck der EU-Staaten einstellen, die anstelle dessen die Operation "Triton" der EU-Grenzschutzagentur Frontex lostraten. Anfang Juli 2017 wurde auf einem Treffen der EU-Innenminister im estnischen Tallinn ein "Verhaltenskodex" beschlossen, den die italienische Regierung nun den NGOs aufzwingen will, die im Mittelmeer Menschen aus Seenot retten. Private Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Moas, Sea-Eye, Sea-Watch, SOS Méditerranée, Jugend Rettet oder Proactive Open Arms, die 40 Prozent aller Menschen in Seenot vor dem Ertrinken retten, sollen künftig eine "rigorose Einhaltung der Sicherheitsprinzipien garantieren".

Wie Vertreter der betroffenen NGOs erklären, sei ein Sicherheitskodex überflüssig, da sich alle beteiligten Gruppen strikt an das internationale Seerecht hielten und eng mit der Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom (MRCC) zusammenarbeiteten. Man stelle den Kodex überdies in Frage, wo er ihrer Auffassung nach geltende See- und Völkerrechte außer Kraft setze. Letztlich versuche Italien, die Retter von ihrem Einsatzgebiet vor Libyen fernzuhalten, erklärte Ruben Neugebauer von Sea-Watch. Das widerspreche der obersten Priorität, Menschen zu retten. Der Kodex sieht vor, daß die Retter künftig die Schiffbrüchigen selbst zum nächsten sicheren Hafen bringen und nicht an ein größeres Schiff abgeben. Auf diese Weise würden die zumeist kleinen Gruppen der NGOs immer wieder aus ihrem Operationsgebiet abgezogen und ihre Kosten in die Höhe getrieben, bis ihnen die Luft abgedreht ist. Zudem wird den NGOs verboten, in die libyschen Hoheitsgewässer einzudringen, auch wenn Flüchtlinge sich dort in Lebensgefahr befinden. Auch sollen die NGOs hinnehmen, daß italienische Polizisten auf ihren Schiffen mitfahren, um unter den Flüchtlingen Schleuser aufzuspüren.

Die EU habe durch das Verweigern sicherer und legaler Einreisewege die humanitäre Krise selbst geschaffen, die zu lösen sie sich weigere, so Neugebauer. Im Grunde sei es nicht die Aufgabe der Zivilgesellschaft, dort eine Lösung zu finden, doch solange diese Krise anhalte, übernähmen die NGOs diese Arbeit und übten durch ihre Anwesenheit Druck aus, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Sie retteten Menschenleben, was nach dem internationalen Seerecht eine Selbstverständlichkeit sei: "Und deswegen stören wir, weil wir da das Konzept des Sterbenlassens an Europas Grenzen untergraben. Aus diesem Grund versucht man uns da halt wegzubringen." [2]

Was die Flüchtlinge in Libyen erwartet, sind Schreckenslager, die deutsche Diplomaten in einem Schreiben an das Auswärtige Amt als "KZ-ähnlich" beschrieben haben. Schlepperbanden beraubten, folterten, vergewaltigten und töteten die Menschen. Seitdem das bekannt geworden ist, fällt es der EU schwer, die Behauptung aufrechtzuerhalten, sie wolle und könne eine menschenwürdige Verwahrung der Flüchtlinge in diesem Land sicherstellen. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron mußte dieser Tage nach einem Vorstoß, er wolle noch in diesem Sommer sogenannte Hotspots für Flüchtlinge in Libyen einrichten, umgehend wegen Sicherheitsbedenken zurückrudern. Stattdessen soll zunächst die Machbarkeit solcher Registrierungsstellen in einem Grenzgebiet von Libyen, Niger und dem Tschad geprüft werden. In Libyen selbst sei dies "momentan nicht möglich, könnte aber kurzfristig der Fall sein", verlautete aus dem Elysée-Palast. [3]

Mit diesen Registrierungsstellen sollen nach offizieller Version Menschen ohne Chancen auf Asyl von der gefährlichen Überquerung des Mittelmeers abgehalten werden. Solche Hotspots hat die EU bereits in den europäischen Hauptankunftsländern Italien und Griechenland eingerichtet. Migranten werden dort mit Unterstützung von Experten der EU-Grenzbehörde Frontex und der europäischen Asylagentur Easo registriert. Prinzipiell geht es darum, dem Recht auf ein Asylverfahren formal Genüge zu tun oder zumindest diesen Eindruck zu erwecken, ohne die Flüchtlinge weiter oder überhaupt nach Europa gelangen zu lassen. Auch dies Teil des gestaffelten Systems der Flüchtlingsabwehr, die Zug um Zug verschärft und ihrer humanitären Maskierung entkleidet wird.

Daß ein Schiff der rechtsradikalen "Identitären Bewegung", das Migranten im Mittelmeer abfangen und nach Afrika zurückbringen wollte, im Hafen von Famagusta in der Türkischen Republik Nordzypern festgesetzt wurde, ist vorerst noch ein Kuriosum am Rande. Der Kapitän der gecharterten "C-Star" und neun Besatzungsmitglieder wurden offenbar wegen des Vorwurfs der Schlepperei vorübergehend festgenommen, da 20 Flüchtlinge an Bord gewesen sein sollen. Wie die Identitären auf Twitter schrieben, habe es sich um eine Gruppe von "20 angehenden Seemännern" gehandelt, die auf dem Schiff einen "kostenpflichtigen Trainingseinsatz" abgeleistet hätten. Daß fünf dieser Männer Asylanträge in Nordzypern gestellt hätten, sei auf eine Intrige von NGOs zurückzuführen. Die "Identitäre Bewegung" wird in Deutschland seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Aktion "Defend Europe" richtet sich nicht nur gegen Migranten, sondern auch gegen Hilfsorganisationen, die Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot retten wollen. [4]

Solcher Helfershelfer bedarf die EU eher nicht, da sie ihr Geschäft mit eigenen Mitteln und Maßgaben zügig vorantreibt. Wie ein Sprecher der Bundesregierung in einer aktuellen Stellungnahme erklärte, bemühe sich Deutschland gemeinsam mit der EU und ihren Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich und Italien, darum, die illegale Migration über die zentrale Mittelmeerroute einzudämmen.


Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fluchtroute-mittelmeer-konkurrenz-auf-hoher-see-15125202.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/ngo-einsaetze-im-mittelmeer-dieser-verhaltenskodex-ist.694.de.html

[3] http://www.focus.de/politik/ausland/nach-ankuendigung-aus-dem-elysee-palast-frankreich-rudert-bei-hotspots-fuer-libyen-wegen-sicherheitsbedenken-zurueck_id_7407226.html

[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/identitaere-im-mittelmeer-schiffscrew-von-rechter-bewegung-festgenommen/20116654.html

28. Juli 2017


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