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REPRESSION/1605: NSU-Prozeß - nicht wirklich abgeschlossen ... (SB)



Solange die Fragen der Betroffenen und Hinterbliebenen nicht gehört und beantwortet wurden, die staatliche Rolle und Verwicklungen des Verfassungsschutzes nicht aufgeklärt sind, solange das Netzwerk des NSU und seiner Unterstützer nicht enttarnt ist, so lange darf es keinen Schlußstrich unter das Kapitel NSU-Komplex geben.
Bündnis gegen Naziterror und Rassismus [1]

Im NSU-Prozeß vor dem Oberlandesgericht München sind die Urteile gesprochen. Ist damit der Gerechtigkeit Genüge getan? Diese Frage können nur Nicht-Juristen stellen, lernt doch der Nachwuchs der Jurisprudenz im allerersten Akt fachspezifischer Initiation, Recht von Gerechtigkeit trennscharf zu scheiden. Ersteres kodifiziert die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Zweck, sie jederzeit wirksam durchzusetzen, wozu es zwangsläufig des staatlichen Gewaltmonopols bedarf. Mithin erschöpft sich die juristische Handwerkskunst darin, in den strukturellen Polaritäten zu navigieren, die Teile ein und desselben Rechtssystems und diesem verpflichtet sind. Während also das Recht unvereinbare gesellschaftliche Widersprüche negiert und die herrschende Ordnung für allgemeingültig erklärt, wird Gerechtigkeit in die Sphäre subjektiven Empfindens ausgelagert, das je nach Interessenlage höchst unterschiedlich ausfallen kann. Es stellt sich also insbesondere die Frage, wie durchsetzungsfähig diese Interessen sind und was demzufolge zu tun und zu lassen sei.

Hat das am 6. Mai 2013 eröffnete Mammutverfahren, das einer der längsten und aufwendigsten Indizienprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte war, der Wahrheitsfindung gedient? Nach 438 Tagen, in denen 1000 Ordner Prozeßakten produziert, fünf Angeklagte mit insgesamt 14 Verteidigern, aktuell noch 91 Nebenkläger mit 58 Anwälten sowie 765 Zeugen gehört und geschätzte 66 Millionen Euro verbraten wurden, könnten die Antworten der direkt oder mittelbar Beteiligten kontroverser nicht sein. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat es geschafft, formale Standards einzuhalten und das Verfahren "revisionssicher" zu gestalten, so daß er nach vollbrachtem Lebenswerk im kommenden Jahr zufrieden in Pension gehen kann. Zufrieden dürfte auch Bundesanwalt Herbert Diemer sein, der mit seiner 488seitigen Anklageschrift schon vorab die Weichen gestellt hatte, worüber verhandelt und was ausgeblendet wird. Götzl schloß sich der juristisch umstrittenen Sichtweise der Anklage an, daß Zschäpe als Mittäterin an den zehn dem NSU zugerechneten Morden, zwei Bombenanschlägen und fünfzehn Raubüberfällen zu verurteilen war, obwohl sie an keinem der Tatorte anwesend gewesen sein soll. Doch was die Bundesanwaltschaft als ihren eigentlichen Erfolg verbuchen kann, ist das gelungenes Manöver, die staatliche Beteiligung am NSU-Komplex der Aufklärung zu entziehen.

Aufklärung hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2012 bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer in Anwesenheit von Hinterbliebenen der zehn Ermordeten [2] versprochen: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen." [3] Wie wir heute wissen, wurden keine Kosten und Mittel gescheut, um einen beispiellosen Schauprozeß zu inszenieren, der den Rechtsstaat zelebrieren und genau diese rückhaltlose Aufklärung verhindern sollte. Der Bundesanwalt hat die These eines isolierten Trios mit wenigen Unterstützern von Anfang an durchgesetzt und bereits in seinem Abschlußplädoyer vom Sommer 2017 die Bemühungen der Nebenklage, weitere Hintergründe der Taten und der staatlichen Beteiligung aufzuklären, als "Fliegengesurre" und "Irrlichter" diskreditiert. [4]

Dabei war die Dichte an V-Personen, die durch die Ämter für Verfassungsschutz in der radikalisierten rechten Szene eingesetzt wurden, beeindruckend: Wie engagierte Teile der Nebenklage ans Licht brachten, waren im Umfeld des NSU mindestens 42 V-Personen tätig. So bleibt eigentlich nur der Schluß, daß die Dienste nicht nur alles wußten, sondern am NSU-Komplex aktiv beteiligt waren. Folglich gab es jede Menge zu decken, zu vertuschen und zu schreddern, was ja auch umfänglich geschah. Verraten mußten die Geheimdienste nichts, deren Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften und der Polizei vor allem durch die Geheimhaltungsrichtlinie von 1973 geregelt ist. Diese räumt ihnen weitreichende Befugnisse ein, den Behörden der Strafverfolgung Informationen zum Schutz der eigenen Quellen vorzuenthalten. So sagte Klaus-Dieter Fritsche, von 1996 bis 2005 Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, 2012 im ersten Bundestagsuntersuchungsausschuß zum NSU, es dürften keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Damit definierte er das Staatswohl als Vorrang staatlicher Interessen selbst vor der Aufklärung schwerster Straftaten. Darauf konnte die Bundesanwaltschaft, die mit den Ämtern für Verfassungsschutz zusammenarbeitet, im NSU-Prozeß aufsatteln.

Im Zuge der Produktion von Deutungsmacht hat sich die Version behördlichen Versagens im Falle des NSU auf breiter Front durchgesetzt. Das ist fatal, trennt doch Versagen und Beteiligung ein himmelweiter Unterschied, zumal die jeweils zu ziehenden Konsequenzen in diametral entgegengesetzte Richtungen streben. Die These geheimdienstlichen Versagens führte zum Ruf nach einer Qualifizierung und Zentralisierung der Nachrichtendienste, die im Kontext des Ausbaus repressiver Staatlichkeit massiv angeschoben werden. Geht man hingegen davon aus, daß der NSU-Komplex nicht zuletzt ein Geschöpf der Dienste oder zumindest gewisser Fraktionen innerhalb derselben ist, käme einem der Ruf nach besseren Geimdiensten eher nicht über die Lippen, läge doch die Forderung weit näher, sie abzuschaffen. Warum das unter den herrschenden Verhältnissen des "tiefen Staates" (oder einfach nur Staates) nicht möglich ist, bedürfte allerdings einer Diskussion, die noch dezidiert zu führen wäre.

Da bei Prozeßende allenthalben davon die Rede war, es dürfe kein Schlußstrich gezogen werden, gilt es nun sorgsam zu prüfen, was damit jeweils gemeint ist. Es sollten ja keine Bremser mit im Boot sitzen, die schon beim ersten Ruderschlag den Kurs ändern. Da Zschäpes Verteidiger Revision angekündigt haben, weil die Verurteilung wegen Mittäterschaft "juristisch nicht haltbar" sei, ist das letzte Wort ohnehin noch nicht gesprochen. Wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer erklärt, der Prozeß dürfe "kein Schlußpunkt" sein, und hinzufügt, der Rechtsextremismus müsse "auch in Zukunft" entschieden bekämpft werden, stellt sich denn doch die Frage, wo das in der Vergangenheit geschehen sein soll. Stephan Thomae aus der FDP-Fraktion käut die These eines "gravierenden Behördenversagens" wieder und fordert gar ein Konzept "für eine umfassende Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur". Und der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke, hofft, daß die "Urteilsverkündung ein weiterer Schritt für die Betroffenen und Angehörigen ist, das Erlebte zu verarbeiten". Wer Zynismus in salbungsvolle Worte zu packen versteht, ist seines Postens würdig.

Hingegen fordert Die Linke weitere Aufkärung, da die Angehörigen ein Recht auf die Wahrheit hätten. Mit dem Urteil im NSU-Prozeß sei der Komplex nicht aufgeklärt, der Verfassungsschutz habe dies verhindert. Auch der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, moniert, daß der Verfassungsschutz "die Aufklärung behindert", "massenhaft Akten geschreddert" und in "allen Untersuchungsausschüssen gemauert" habe. Kein Schlußstrich, auch was Helfer und Hintermänner des NSU betreffe, dessen Netzwerk weiter vorhanden sei. Ähnlich äußerten sich die Türkische Gemeinde in Deutschland, der Zentralrat der Muslime wie auch mehrere Anwälte der Nebenklägerinnen. Das bundesweite "Bündnis gegen Naziterror und Rassismus" hat am Tag der Urteilsverkündung Aktionen und Demonstrationen in München und 25 weiteren Städten organisiert. Auch "NSU-Watch" will zusammen mit den Hinterbliebenen weiterhin für Aufklärung, weitere Prozesse und Untersuchungsausschüsse kämpfen.

Die zehn Mordopfer des NSU gehören zu den mindestens 174 Menschen, die laut unabhängigen Recherchen seit 1990 von Neonazis ermordet wurden. Staatlicherseits sind lediglich 83 von ihnen als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Die Ideologie des NSU wird von denjenigen geteilt, die Asylbewerberheime in Brand stecken und dabei Tote billigend in Kauf nehmen. [5] "Ich will nicht das Gefühl haben, jeden Tag weitere Täter auf der Straße zu treffen. Das muß aufhören", fordert Gamze Kubasik, die Tochter des vom NSU im Jahr 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik. "Der NSU hat meinen Vater ermordet, die Ermittler seine Ehre kaputt gemacht. Sie haben ihn damit ein zweites Mal ermordet." Ein Prozeß könne das Vertrauen nicht wiederherstellen. Vielmehr müsse der Kampf um Aufklärung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/335742.gegen-schlussstrichmentalität.html

[2] Opfer des NSU: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter

[3] www.merkur.de/politik/urteil-im-nsu-prozess-im-live-ticker-beate-zschaepe-mordes-schuldig-gesprochen-zr-10023437.html

[4] BERICHT/075: Linke Buchtage Berlin - schadensbegrenzte Beteiligung ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb075.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/335727.nichts-vergeben-nichts-vergessen.html

11. Juli 2018


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