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REPRESSION/1609: Andrea Nahles - türkische Schleifen ... (SB)



Frei nach ihrem Lieblingsmotto, sich die Welt so zu machen, wie sie ihr gefällt, ist Andrea Nahles in ihrer unbeschwert-brachialen Art wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten. Dabei hat sie doch nur offen auf den Punkt gebracht, was auch der Rest der Großen Koalition denkt, aber eher nicht in dieser Deutlichkeit aussprechen würde. Bei näherem Hinsehen erweist sich die empörte Kritik an ihrem Fauxpas zumindest in Kreisen von Union und Sozialdemokratie als Sturm im Wasserglas. Was hat die SPD-Vorsitzende den Zeitungen der Funke Mediengruppe erzählt, das die wahlverwandte politische Konkurrenz lauthals Verrat schreien ließ?

"Es kann die Situation entstehen, in der Deutschland der Türkei helfen muss - unabhängig von den politischen Auseinandersetzungen mit Präsident Erdogan", so Nahles. "Die Türkei ist ein Nato-Partner, der uns nicht egal sein kann. Es ist in unser aller Interesse, dass die Türkei wirtschaftlich stabil bleibt und die Währungsturbulenzen eingedämmt werden." [1] Fehlt da nicht etwas? Sollte man Erdogan, den Trump gerade in den Schwitzkasten genommen hat, bei dieser Gelegenheit nicht wenigstens als Gegenleistung für etwaige finanzielle Rettungsanker abverlangen, etwas weniger Gegner umzubringen, einzusperren, zu entlassen und mundtot zu machen? Oder die gerade abgeschaffte parlamentarische Demokratie zumindest in Ansätzen wiederherzustellen? Und was soll das bedeuten, die politischen Kontroversen mit Erdogan auszuklammern, als sei er kein autokratischer Machthaber mit diktatorischen Ambitionen?

Liest man weiter, wird aber schnell deutlich, daß auch Andrea Nahles ihre Lektion gelernt hat. Sie weiß natürlich, was man in solchen Fällen sagt, wenn einem das Hemd wirtschaftlicher, politischer, militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit viel näher als der Rock sogenannter Menschenrechte ist, auf die man gerade deswegen ebenso obligatorisch wie folgenlos pochen muß. Den für September geplanten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten in Deutschland findet sie richtig: "Die Bundesregierung muss mit der Türkei auf allen Ebenen im Gespräch bleiben." Aber, jetzt kommt's: "Es ist meine klare Erwartung an die Bundeskanzlerin, dass natürlich auch kritische Fragen angesprochen werden - hierzu gehört insbesondere das Festhalten und die Inhaftierung von deutschen Staatsangehörigen in der Türkei."

Na bitte! Daß nicht nur deutsche Staatsangehörige, sondern Zehntausende weitere Menschen willkürlich verhaftet wurden, in türkischen Gefängissen sitzen und nicht selten gefoltert werden, hätte die SPD-Vorsitzende beiläufig erwähnen können, ginge es ihr nicht vor allem darum, mit Erdogan vierhändig zu spielen. Der bedient bekanntlich die Klaviatur politischer Geiselnahme recht virtuos und hat prompt - oder will man an Zufall glauben? - die Journalistin Mesale Tolu endlich ausreisen lassen. Das gilt freilich nicht für ihren Lebensgefährten wie auch jene acht weiteren deutschen Geiseln in türkischer Haft, die der Despot als Trümpfe im Ärmel behält.

Nahles zu Hilfe kommt aus dem politischen Off Sigmar Gabriel, der den welterfahrenen Ex-Außenminister gibt und mit einer kühnen These nachlegt. Wie er argumentiert, müssen wir "im eigenen Interesse alles tun, um die Türkei im Westen zu halten". Die USA gingen zu weit, Sanktionen gegen einen NATO-Partner anzuwenden und zu versuchen, "ein ohnehin wirtschaftlich angeschlagenes Land über die Klippe zu schieben". Eine isolierte Türkei hält er für brandgefährlich: "Ich fürchte, früher oder später werden in der Türkei nationalistische Kräfte - ebenso wie im Iran und Nordkorea - nach der Atombombe greifen, um sich unangreifbar zu machen."

Da selbst Erdogan, der ansonsten vor nichts zurückschreckt, noch nie öffentlich von der Atombombe gesprochen hat, stellt sich schon die Frage, was Gabriel umtreibt, diesbezüglich als Stichwortgeber in die Bresche zu springen. Er selber hat bekanntlich in seiner Amtszeit dem türkischen Präsidenten im Alleingang weitreichende Zugeständnisse in Aussicht gestellt, dann aber ein Stück zurückrudern müssen, als die Frage aufkam, wer ihn eigentlich dazu legitimiert habe. Der frühere SPD-Vorsitzende hat offenbar eine recht entgegenkommende Vorstellung davon, was es heißt, mit einem solchen Machthaber im Gespräch zu bleiben.

Und was meint die Union dazu? Im Grunde nichts anderes als Nahles, auch wenn sie ihr im Vorbeigehen vors Schienbein tritt und wirtschaftspolitische Naivität attestiert: "Wenn Erdogan diese Haltung nicht grundsätzlich ändert, machen Wirtschaftshilfen keinen Sinn, dann wäre das vergeudetes Geld", erklärt der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt. Die zart aufkeimende Hoffnung, der Unionspolitiker meine mit "Haltung" womöglich Erdogans repressives Treiben an allen gesellschaftlichen Fronten nicht nur im eigenen Land, verwelkt fast im selben Atemzug. Die Ursache für die Wirtschafts- und Währungskrise in der Türkei seien "die fahrlässigen Äußerungen" des türkischen Staatschefs hinsichtlich der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Rechtsstaatlichkeit, so Hardt. "Wenn die türkische Regierung allerdings umschwenken würde, könnte man über Hilfen nachdenken. Wir haben ein Interesse an einer starken Türkei - aus politischen und ökonomischen Gründen." [2]

Erdogan soll endlich Maßnahmen ergreifen, um die Krise abzuwenden, ansonsten kann er machen, was er will, so die Botschaft der Bundesregierung. Schließlich geht es um deutsche Exporte, deutsche Investitionen und deutsche Unternehmen in der Türkei, denen er fahrlässig in die Parade fährt. Davon abgesehen mehren sich in den zwar nie wirklich gefährdeten, aber doch lange Zeit vordergründig belasteten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei die Zeichen weiterer Entspannung. Mitte letzter Woche hatte Staatspräsident Erdogan mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert, sein Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak sprach tags darauf mit seinem deutschen Kollegen Olaf Scholz, die Vorbereitungen für einen Besuch Recep Tayyip Erdogans in Deutschland laufen auf vollen Touren.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkische-waehrungskrise-nahles-bringt-deutsche-hilfe-fuer-tuerkei-ins-gespraech-1.4096518

[2] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-union-stellt-bedingungen-fuer-moegliche-tuerkei-hilfe-1.4097640

20. August 2018


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