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REPRESSION/1613: Ankara - gebeugtes Recht, gebeugter Nacken ... (SB)



Es ist für Deutschland von strategischem Interesse, dass wir unsere Beziehungen zur Türkei konstruktiv gestalten. Die Türkei ist mehr als ein großer Nachbar, sie ist auch ein wichtiger Partner Deutschlands.
Außenminister Heiko Maas bei seinem Türkeibesuch [1]

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich - dieser Kalauer aus der Mottenkiste abgestandener Lebensweisheiten feiert im Wellenschlag deutsch-türkischer Beziehungen Wiederauferstehung. Hing der Haussegen zwischen Berlin und Ankara kürzlich noch reichlich schief, stehen nun die Zeichen ganz auf Versöhnungskurs. Der Antrittsbesuch von Außenminister Heiko Maas in der Türkei wird als diplomatische Meisterleistung und voller Erfolg gefeiert. In inniger Umarmung nannten Maas und sein türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu einander "lieber Freund", als könne nichts und niemand ihr herzliches Einvernehmen trüben. Der hochrangige Gast aus Deutschland sprach auch mit Parlamentspräsident Binali Yildirim, worauf er sogar mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zusammenkam, was bei einem solchen Besuch protokollarisch nicht zwingend ist.

Die zurückliegenden Monate erbitterten Streits sind Schnee von gestern, jetzt steht die rasante Normalisierung der Beziehungen auf der Tagesordnung. Die Reise des deutschen Außenministers war die erste einer ganzen Serie gegenseitiger Besuche beider Regierungen. Am 21. September treffen sich die Finanzminister in Berlin, Erdogan kommt am 28. und 29. September zum Staatsbesuch nach Deutschland, im Oktober reist Peter Altmaier mit einer Wirtschaftsdelegation in die Türkei. Maas faßte das Grundverhältnis zwischen Berlin und Ankara in folgender Formel zusammen: "Es ist für Deutschland von strategischem Interesse, dass wir unsere Beziehungen zur Türkei konstruktiv gestalten. Die Türkei ist mehr als ein großer Nachbar, sie ist auch ein wichtiger Partner Deutschlands." Ob Flüchtlingsabwehr, Wirtschaftsbeziehungen oder Repression gegen die Linke - die Staatsführungen sind wesensverwandt, brauchen einander und kollaborieren, was immer man einander zeitweise an Grobheiten um die Ohren haut.

"Statt Imagepflege für Despoten zu betreiben und mit Erdogan zu kungeln, braucht es klare Ansagen, die den Demokraten in der Türkei den Rücken stärken", kritisierte die stellvertretende Linksfraktionschefin Sevim Dagdelen die Reise des Außenministers. Maas hatte zuvor die Freilassung der sieben aus politischen Gründen in der Türkei inhaftierten deutschen Staatsbürger zur Bedingung für eine Normalisierung gemacht. "Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Türkei, insbesondere die Menschenrechtslage, uns Sorgen bereitet und unsere Beziehungen überschattet. Davon zeugen nicht zuletzt die nach wie vor zahlreichen Haftfälle." Er habe die Einzelfälle bei seinen Gesprächen mit Erdogan und Cavusoglu angesprochen, heißt es dazu nichtssagend seitens des Auswärtigen Amts.

Die stets kolportierte Ratio, man bekomme politische Gefangene am ehesten auf dem Wege klammheimlicher Kontakte und inoffizieller Kanäle frei, die ihrer Natur nach das Licht der Öffentlichkeit scheuen, trifft allenfalls in wenigen prominenten Einzelfällen zu. Für alle übrigen Häftlinge verschlechtert sich die Lage eher noch, wenn die Freilassung nicht ein humanitäres Gebot, sondern Gegenstand eines Kuhhandels ist. Wer in diesem Sinne nichts zu bieten hat, und das gilt für Zehntausende Gefangene in türkischen Gefängnissen, bleibt der Vergessenheit überantwortet, wenn in der verschwiegenen Währung politischer und wirtschaftlicher Freikaufgeschäfte gefeilscht wird. Das Erdogan-Regime hat massenhaft Menschen unter fadenscheinigsten Bezichtigungen hinter Gitter gebracht und mitunter auch Geiseln genommen, deren Haft oder Freilassung je nach Bedarf zu bestimmten Zwecken verfügt werden kann. Als Deniz Yücel im Februar nach einem Jahr in türkischer Untersuchungshaft endlich freigelassen wurde, nahmen die Behörden fast zeitgleich drei prominente türkische Literaten und Regierungskritiker fest. Erdogans Signal, daß Tauschgeschäfte keinesfalls mit Milde oder gar einem Ende der Repression zu verwechseln seien, hätte deutlicher kaum ausfallen können.

Auch nach dem Besuch des "lieben Freundes" Heiko Maas in Ankara scheint die humanitäre Bilanz eher negativ auszufallen. Die Türkei hat einen aus politischen Gründen inhaftierten Deutschen freigelassen, jedoch gegen den Betroffenen eine Ausreisesperre verhängt. Weitere Angaben machte das Auswärtige Amt aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht. Zugleich wurde bekannt, daß bereits im Juli 2017 erstmals ein deutscher Staatsbürger im Zusammenhang mit dem Putschversuch verurteilt worden ist. Der 55jährige Familienvater Nejat U. hatte lange in Aachen gelebt und war 2000 in die Türkei zurückgekehrt. Er wurde wegen angeblicher Mitgliedschaft in der verbotenen Gülen-Bewegung zu neun Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Warum die Öffentlichkeit erst jetzt davon Kenntnis bekommen hat, ist nicht bekannt. [2]

Im bulgarischen Warna steht derzeit der 44jährige Kurde Mehmet Y. aus Bonn, ebenfalls deutscher Staatsbürger, in einem Hotel unter Hausarrest. Die Türkei hatte einen Interpol-Haftbefehl auf den Weg gebracht, der am 2. September zu seiner Festnahme am Flughafen führte. Er darf das Hotel nicht mehr verlassen, in dem er mit seiner Frau die Ferien verbringen wollte. Medienberichten zufolge hatte ihn ein Gericht in der türkischen Stadt Adana 1999 wegen angeblicher Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Wie seine Ehefrau Gülsen Y. mitteilte, seien die beiden seit Jahren gemeinsam in verschiedene EU-Länder und auch nicht-EU-Länder gereist, ohne daß es je Probleme gegeben hätte. Mehmet Y. hatte sich während seiner Studienzeit in den 1990er Jahren in der Türkei für die kurdische Sprache engagiert und einige Zeit in Haft verbracht. Daraufhin floh er nach Deutschland, wo er politisches Asyl erhielt und 2009 eingebürgert wurde. Er betreut in Bonn für die Caritas unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Gülsen Y. war Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Gründerin des Bildungs- und Integrationsvereins "hevi e.V.". Ob er in die Türkei abgeschoben wird, entscheidet das Gericht, wenn weitere Informationen vorliegen. Nach Angaben des Auswärtigen Amts wird Mehmet Y. seit seiner Festnahme konsularisch betreut. Die Bundesregierung respektiere aber die Unabhängigkeit der Justiz in Bulgarien. Zu laufenden Verfahren gebe man generell keine Auskunft. [3]

Soeben wurde in Ankara ein weiterer kritischer Journalist verhaftet. Einheiten der Antiterrorpolizei nahmen den österreichischen Autor Max Zirngast sowie zeitgleich zwei türkische Staatsbürger fest. Augenzeugen zufolge wird ihm vorgeworfen, seine ehrenamtlichen Tätigkeiten für eine alternative Sommerschule für Kinder aus armen Familien dienten der Unterstützung einer "Terrororganisation in Nordsyrien". Andere Quellen vor Ort führten die Festnahme auf seine "politischen Publikationen" zurück. Zirngast setzt seit 2015 sein Studium der Politikwissenschaften in Ankara fort und publiziert als Journalist und Autor unter anderem in der jungen Welt, im Internetportal Re:volt, im US-Magazin Jacobin und in türkischer Sprache für die sozialistische Monatszeitschrift Toplumsal Özgürlük. Er engagierte sich auch in Wahlkampagnen der HDP und organisierte Seminare über den Marxismus. [4]

Nach Angaben des Stockholm Center for Freedom (SCF) befinden sich derzeit 237 Journalisten und Medienschaffende in türkischer Haft. Der Welt-Journalist Deniz Yücel und die für die Nachrichtenagentur Etha tätige Mesale Tolu sind freigekommen und konnten nach Deutschland ausreisen. Neben vielen anderen wartet der freie Journalist und Sozialarbeiter Adil Demirci seit dem Frühjahr auf seine Freilassung. Um seine Deutungsmacht auf breiter Front durchzusetzen, schaltet das Erdogan-Regime auf diese Weise kritischen Journalismus aus und treibt parallel dazu die Gleichschaltung der Medien voran. Der 1941 geborene Theaterregisseur und Kolumnist Aydin Engin, eine journalistische Legende in der Türkei, berichtet von einem Aufkauf fast der gesamten Medienlandschaft durch Erdogan-nahe Kreise. Heute gehörten 92 Prozent der Printmedien und 94 Prozent der visuellen Medien Firmen, die niemals der AKP-Führung zuwider handeln würden. Diese Medien seien vollständig zu Regierungsorganen geworden.

Engin hat wegen seiner Arbeit im Gefängnis gesessen und viele Jahre im deutschen Exil verbracht. Er hat 14 Jahre für die renommierte türkische Oppositionszeitung Cumhuriyet gearbeitet, deren Chefredakteur er zeitweise war. Vor zwei Jahren wurde er zusammen mit anderen Journalisten der Zeitung in Untersuchungshaft gesteckt. Nun hat er wie viele andere seiner Kollegen bei der Cumhuriyet gekündigt, weil nach einem erzwungenen Führungswechsel nationalistische Hardliner die Führung der Zeitung übernommen haben. Die 1924 von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufene Tageszeitung, seit geraumer Zeit auch der deutschen Leserschaft als letzter Ort einer kritischen Berichterstattung in seinem Land bekannt, gebe es so nicht mehr, schreibt Engin in seiner Abschiedskolumne. [5]

All das ist dem deutschen Außenministerium offenbar sehr viel genauer als der Öffentlichkeit bekannt. Wenn der Deckel darauf gehalten wird und Maas Bedingungen wie die Freilassung aller deutschen Gefangenen formuliert, ohne nachhaltig auf ihre Erfüllung zu drängen, hindert Erdogan nichts daran, den Speicher seiner Geiseln wohlgefüllt zu halten, auch wenn er mitunter ein Faustpfand um politischer Vorteile willen preisgibt. Für Nachschub ist schnell gesorgt. Als strategischer Partner der Bundesregierung weiß er sich ohnehin auf der sicheren Seite und kann ungerührt abwettern, was bisweilen an Schelte aus Berlin herüberweht. Erdogan steht ökonomisch am Abgrund, wird von Trump in die Währungskrise getrieben, sieht sich zum Juniorpartner Moskaus und Teherans degradiert und droht seine Hilfstruppen islamistischer Halsabschneider in Nordsyrien zu verlieren. Da tut es wohl, daß die Bundesregierung nicht im Traum daran denkt, ihm in seiner prekären Großwetterlage wenigstens abzuverlangen, die Schraube der Repression ein Stück zurückzudrehen, bevor man ihm unter die Arme greift. In gelöster Stimmung herzt man einander und tanzt ungerührt über den Folterkellern, wie man es immer getan hat.


Fußnoten:

[1] www.merkur.de/politik/maas-trifft-erdogan-und-cavusoglu-in-ankara-zr-10213144.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2018-09/auswaertiges-amt-tuerkei-freilassung-deutscher-nejat-u-fethullah-guelen

[3] www.dw.com/de/bulgarien-prüft-auslieferung-eines-deutschen-in-die-türkei/a-45443207

[4] www.jungewelt.de/artikel/339720.max-zirngast-in-ankara-verhaftet-erdogan-nimmt-geisel.html

[5] www.zeit.de/politik/ausland/2018-09/tuerkei-opposition-cumhuriyet-uebernahme-pressefreiheit-journalismus

13. September 2018


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