Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1614: Migration - nichts den Populisten überlassen ... (SB)



Der kurzfristige Weg ist, die Menschen zu retten, die sich noch immer auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer begeben, ihnen aber zugleich zweifelsfrei klarzumachen, dass das nicht der Weg nach Europa ist. (...) Wer erkennt, dass er keine Chance mehr hat, nach Europa einreisen zu dürfen, wird auch das Risiko des eigenen Todes dafür nicht mehr in Kauf nehmen wollen.
Wolfgang Schäuble zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik [1]

Wolfgang Schäuble, seit 46 Jahren Mitglied des deutschen Parlaments, hat in seiner politischen Laufbahn hochrangige Regierungsämter bekleidet und einflußreiche Positionen innegehabt. Er hat 1990 maßgeblich den deutsch-deutschen Einigungsvertrag mit ausgehandelt, war lange Zeit Innenminister und übernahm mitten in der Finanzkrise 2009 das Finanzministerium. Bis 2017 war er in diesem Amt als Zuchtmeister Europas beispielsweise bei der Eurokrise und der sogenannten Griechenlandrettung 2010 und 2011 einer der mächtigsten Administratoren des Kontinents. Seit Ende vergangenen Jahres ist er nicht länger Herr über Milliarden, sondern Präsident des Bundestages. Im zweitbedeutendsten Staatsamt hinter dem des Bundespräsidenten ist Schäubles Einfluß auf eine protokollarisch-symbolische Funktion geschrumpft. Wenn der 75jährige dennoch wie zu Beginn der Haushaltsdebatte das Wort ergreift, folgen daraus nicht wie in der Vergangenheit legislative und exekutive Taten, die gravierende Auswirkungen auf das Leben von Millionen Menschen haben. Dennoch sollte man seine Aussagen nicht als parlamentarischen Dekor unterschätzen, spricht daraus doch ein politisches Establishment, das den Aufstieg der Bundesrepublik zur europäischen Führungsmacht erfolgreich betrieben hat.

Wird ihm Altersmilde attestiert, so speist sich diese Mutmaßung in erster Linie aus einem gewissen Kontrast zu den Tagen, in denen er mit eiserner Hand die Eurozone zusammenhielt und zugleich dem Diktat deutscher Vorteilsnahme mittels der EU-Institutionen unterjochte. Die zürnende Nemesis am Himmel der niederkonkurrierten südeuropäischen Volkswirtschaften trug seine bittere Miene und verlangte ihnen mit seiner Stimme unermeßliche Sparopfer ab. Die Einheit Europas zu beschwören und im selben Atemzug Unterwerfung zu erzwingen, war der notwendige Gleichschritt, um den Produktivitätsvorsprung der Bundesrepublik mit ungehinderter Wucht gegen die schwächeren Partner dieser zur Schicksalsgemeinschaft verklärten Mesalliance zu wenden. Die ideologische Deutungsmacht der Berliner Regierungspolitik fand ihren volkstümelnden Niederschlag im nationalistischen Schlachtruf, die fleißigen Deutschen dürften sich nicht von den Pleitegriechen die Butter vom Brot nehmen lassen, was maßgeblich dazu beitrug, dem Aufstieg der Rechten den Boden zu bereiten.

Heute sieht sich Schäuble als zur Ordnung rufende Gouvernante des zeternden Bundestags mit einer AfD konfrontiert, die im Gestus der Herrenmenschen die anderen Parteien vor sich her und dorthin treibt, wo sie selbst schon lange ist. Wenngleich er sich vehement dagegen verwahrt, sein Lebenswerk von den Rechten beerben zu lassen, die dessen essentielle Konstruktion der gesamteuropäischen Verfügungsmacht niederzureißen drohen, gibt er doch die Schnittmenge mit dem deutsch-identitären Vorherrschaftsanspruch keineswegs preis. Als er vor versammelten Abgeordneten Fremdenfeindlichkeit und Gewaltexzesse anprangerte, mahnte er zugleich, die Sorgen der Bundesbürger ernst zu nehmen. Im Harnisch der vorgeblichen Neutralität seines Amtes gab er dem Parlament seine Lesart von Ausgewogenheit vor.

Was er damit meint, erschließt ein aktuelles Interview mit dem Handelsblatt, in dem Wolfgang Schäuble unter anderem zur Flüchtlingspolitik Stellung nimmt. Er schlägt einen Bogen von der damaligen Finanzkrise, die man gemeinsam durch die Gründung des Rettungsfonds ESM überwunden habe, zur Migration als einer der größten Herausforderungen der Gegenwart. Angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums mit bald zwei Milliarden Menschen allein in Afrika dürfe man nicht den Kopf in den Sand stecken und sich hinter den eigenen Grenzen eingraben, da diese großen Fragen nur gemeinsam zu beantworten seien. Schäuble plädiert entschieden für einen übergreifenden Ansatz, der über einzelne Abkommen mit Nachbarstaaten wie etwa der Türkei hinausgeht.

Es gelte immer wieder unter Beweis zu stellen, daß die rechtsstaatlich verfaßte freiheitliche Demokratie mit dem Prinzip der Repräsentation die beste aller Möglichkeiten sei, so Schäuble. Er läßt es jedoch bei diesem Bekenntnis nicht bewenden, sondern gibt zu bedenken, daß die neuen Partner in Osteuropa eine gewisse Schwerfälligkeit beklagten. Das müsse man ernst nehmen, da Demokratie zwar nicht einfach sei, aber auch darauf verpflichte, zu Entscheidungen zu kommen, mahnt er eine forcierte Gangart an. Um Europa zu retten, bedürfe es einer Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik, indem man diese Thematik "schnell, effizient, flexibel und pragmatisch gemeinsam" handhabe.

Was soll das konkret bedeuten? Der kurzfristige Weg sei, die Menschen zu retten, die sich noch immer auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer begeben, ihnen aber zugleich zweifelsfrei klarzumachen, daß das nicht der Weg nach Europa ist. Wer erkenne, daß er keine Chance mehr hat, nach Europa einreisen zu dürfen, werde auch das Risiko des eigenen Todes dafür nicht mehr in Kauf nehmen wollen, so Schäubles Logik forcierter Abschreckung. Er sympathisiert ausdrücklich mit dem Entwicklungsökonomen und Migrationsforscher Paul Collier von der Universität Oxford, der seinerzeit Merkels "Wir schaffen das" scharf kritisiert hatte. Die Kanzlerin habe Deutschland und Europa schwere Probleme aufgebürdet. Das hinderte Collier indessen nicht daran, 2016/2017 Berater des Bundesfinanzministeriums zu werden und "Compact with Africa" (Partnerschaft mit Afrika) mitzuentwickeln.

Natürlich vergißt Schäuble nicht, das obligatorische Credo zu liefern, man müsse den Fluchtursachen zu Leibe rücken. Er denkt dabei aber nicht im Traum an den deutschen Wirtschaftskrieg gegen die afrikanischen Länder. Vielmehr schwebt ihm vor, "dem einen oder anderen verbrecherischen oder terroristischen Regime in Afrika (...) mit begrenzter Gewalt" die Leviten zu lesen, also mit Waffengewalt zu Werke zu gehen. Der Kontinent brauche eine Chance, seine Riesenherausforderungen selbst zu stemmen, verkleidet er die Zurückweisung deutscher Verantwortung in eine Ermunterung zur afrikanischen Selbstverwirklichung. Es sei nicht so, daß Afrika kein Potential hätte. Aber das werde nicht dadurch größer, daß die Tüchtigsten lieber nach Europa fliehen.

Wenn Schäuble für Offenheit mit Menschen anderen Glaubens plädiert, so nicht ohne sofortige Rechtsbelehrung an deren Adresse. Wie er argumentiert, fühlten sich knapp zwei Milliarden Muslime auf der Welt nicht fair behandelt. Deswegen müsse man ihnen zuhören, aber zugleich klarmachen, "nach welchen Regeln wir hier in Europa leben wollen: Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Menschenrechte. Die meisten Menschen der Welt, würde ich mal annehmen, wollen nach solchen Prinzipien leben", gibt sich der Bundestagspräsident jovial paternalistisch. Was aber die Bundesbürger betrifft, seien die allermeisten bereit, einem Mitmenschen zu helfen - ganz egal, welche Hautfarbe, Religion oder Nationalität er oder sie hat. "Nur wenn wir anfangen, uns in unserer eigenen Sicherheit bedroht zu fühlen, wird es schwierig. Innere Sicherheit muss der Staat gewährleisten", ist Schäuble wieder ganz der frühere Innenminister.

Das zeigt sich um so mehr in Beantwortung der Frage, wie er die rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz bewerte. "Der G20-Gipfel fand nicht in Ostdeutschland statt, sondern in Hamburg, das dann massive Ausschreitungen erlebte. Wir müssen aufhören, mit Arroganz über andere zu sprechen", so Schäubles nur im ersten Moment überraschende Antwort. Er macht keinen Hehl daraus, daß Staatsräson allemal die Linke als Feindbild ausmacht, während sie bei der Rechten vor allem an deren Verwertbarkeit interessiert ist. Was in Chemnitz geschehen sei, könne er aus Berlin doch gar nicht beurteilen, schützt er Unkenntis vor. Nach der "abgewogenen Beschreibung", die Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer vor seinem Landtag abgegeben habe, sei sein Eindruck gewesen, daß sich die Analysen der Geschehnisse in den Medien stark unterscheiden.

Natürlich ist Schäuble klug genug, sich aller Äußerungen zu enthalten, die ihm als Sympathieerklärung für die Rechten auf die Füße fallen könnten. So beläßt er es denn auch dabei, Kretschmer beiläufig den Rücken zu stärken, ohne näher auf dessen haarsträubende Verharmlosung der rechten Umtriebe einzugehen. Eine Polarisierung in "Nazis" und "Gutmenschen" helfe nicht weiter, wohl aber hätten die weisen Worte des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck die Stimmung im Land sehr schön auf den Punkt gebracht: "Unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt." Das sei die Verantwortungs- und Gesinnungsethik nach Max Weber, ist Schäuble als Sparschwabe, Christenmensch und Buchhalter der Nation in seinem Element. "Da fängt Politik an. Wir dürfen unser Herz nicht verlieren, müssen aber auch unsere Grenzen sehen."

Es sei eminent wichtig, die Probleme nicht unter den Teppich zu kehren, sondern die Gefühle der Menschen ernst zu nehmen. "Dass wir das nicht hinreichend getan haben, ist einer der Gründe dafür, dass manche Demagogen und rechtspopulistischen Parteien einen solchen Zulauf erleben - auch die neuerdings im Bundestag vertretene", läßt Schäuble keinen Zweifel daran, daß er die Frage der Migration nicht den Populisten überlassen will. Geflohene Menschen mit aller Macht fernhalten wollen sie beide, doch hält der Bundestagspräsident seinen Entwurf für derart überlegen, daß er sich nicht von Stümpern, Schreihälsen und engstirnigen Nationalisten ins technokratische Handwerk pfuschen lassen will.


Fußnote:

[1] www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundestagspraesident-im-interview-mein-respekt-nahm-ab-wolfgang-schaeuble-spricht-ueber-sein-verhaeltnis-zur-bankenbranche/23054964.html

14. September 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang