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REPRESSION/1626: Istanbul - Kollateraljustiz ... (SB)



Die Anklage wirkte konstruiert, die Argumente von Demirci und seinem Verteidiger waren dagegen sehr überzeugend. Der einzige Grund, Demirci hier weiter einzusperren, ist, andere Menschen davor abzuschrecken, ihre Meinung zu sagen.
Günter Wallraff in Istanbul [1]

Der Kölner Sozialarbeiter und Journalist Adil Demirci kann das Gefängnis in Istanbul nicht verlassen. Nach dem ersten Prozeßtag am 25. Strafgericht im Stadtteil Caglayan verfügten die Richter, daß nur sechs der in U-Haft sitzenden Angeklagten freikommen. Zusammen mit Demirci standen 22 weitere Angeklagte vor Gericht. Der nächste Verhandlungstermin ist auf den 14. Februar 2019 festgesetzt worden. Der 33jährige war in den vergangenen Jahren wiederholt ohne Probleme in die Türkei ein- und ausgereist. Als er sich jedoch im April auf Urlaub mit seiner krebskranken Mutter in Istanbul aufhielt, um Freunde und Verwandte zu besuchen, wurde er kurz vor der Rückreise in der Wohnung seiner Großeltern von einem Anti-Terror-Kommando festgenommen und befindet sich seither in Haft. Die Behörden fanden ihn offenbar auf eine Anzeige hin, in welcher der Absender die Adresse seiner Verwandten sowie sein Abreisedatum vermerkt hatte. Solche oft anonym verschickten Denunziationen spielen in vielen ähnlichen Fällen eine Rolle.

Der Kölner schreibt als freier Mitarbeiter für die linke Nachrichtenagentur Etha. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm laut Anklageschrift vor, im Namen der verbotenen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) in den Jahren 2013 bis 2016 an unerlaubten Demonstrationen mit Molotow-Cocktails sowie an Gedenkveranstaltungen für getötete Mitglieder, die in Propagandaveranstaltungen ausgeartet seien, teilgenommen zu haben. Den Gerichtsakten zufolge habe es sich teilweise um Zeremonien für Mitglieder der bewaffneten Fraktion der Organisation gehandelt, die in Syrien gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gekämpft hatten.

Adil Demirci wies den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zurück und erklärte, er habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen. Er arbeite in Deutschland als Sozialarbeiter und mache Übersetzungen aus dem Türkischen ins Englische und Deutsche. Die Teilnahme an drei Trauerfeiern und einer Gedenkveranstaltung räumte Demirci ein, wobei er betonte, daß es dabei um Menschen gegangen sei, die gegen den IS gekämpft hätten. Tausende hätten an diesen Feiern teilgenommen, Waffen habe er nicht gesehen.

Sein Anwalt Mustafa Peköz warf der Anklage vor, keine Beweise für ihre Vorwürfe vorgelegt zu haben. "Die Staatsanwaltschaft muss Beweise erbringen, dass mein Mandant als Mitglied in einer verbotenen terroristischen Vereinigung tätig ist", sagte Peköz. Diese Vorwürfe seien "für unser Land eine Schande" und den Beobachtern aus Deutschland nicht zu erklären. [2]

Der Autor und Publizist Günter Wallraff war als Mitglied des Solidaritätskreises "Freiheit für Adil" beim Prozeß dabei. Seines Erachtens sei es eine Selbsttäuschung, wenn hier Entwarnung gegeben werde. Er sehe keine grundlegende Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei: "Kommt mal jemand frei, wird neu verhaftet." Das Verfahren kritisierte er mit den Worten: "Es gibt keinen Grund, dass man diesen Menschen hier einsperrt. Der einzige Grund ist, andere Menschen davon abzuschrecken, ihre Meinung zu sagen." Er habe als Journalist "akribisch" zu dem Fall recherchiert, doch es sei "nichts dran". Es sei enttäuschend, daß Adil Demirci weiter in Haft bleiben muß, sagte Jörg Detjen, Kölner Stadtrat von den Linken, der den Prozeß ebenfalls vor Ort beobachtete. "Die Anklagen gegen alle Beschuldigten waren sehr ähnlich. Wer am Ende frei kam und wer im Gefängnis blieb, schien völlig willkürlich zu sein", sagte Detjen weiter.

Die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel, die zusammen mit dem SPD-Abgeordneten Rolf Mützenich und dem deutschen Generalkonsul Michael Reiffenstuel den Prozeßauftakt beobachtete, äußerte scharfe Kritik: "Das juristische Vorgehen gegen Adil Demirci ist ähnlich konstruiert wie die Anklage gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu." Tolu hatte wie Demirci für die Nachrichtenagentur Etha gearbeitet und vergangenes Jahr mehrere Monate in Untersuchungshaft verbracht, bevor sie im Dezember freigelassen wurde und im August schließlich ausreisen konnte.

Demirci gehört zu jener Gruppe deutscher Staatsbürger, die aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert wurden. Der Menschenrechtler Peter Steudtner und der Journalist Deniz Yücel wurden in diesem Jahr auf freien Fuß gesetzt und durften ausreisen. Ihre Prozesse laufen unterdessen in der Türkei weiter, wie auch der gegen die Übersetzerin Mesale Tolu. In den vergangenen drei Monaten sind drei Deutsche wegen Terrorvorwürfen zu Haftstrafen verurteilt worden, zuletzt betroffen waren der Gießener Patrick K. und die Kölner Sängerin Hozan Cane.

Die Kurdin war vor den Wahlen Ende Juni bei einer Wahlkampfveranstaltung der HDP im westtürkischen Edirne aufgetreten und kurz darauf festgenommen worden. Am vergangenen Mittwoch wurde sie aufgrund zweifelhafter Vorwürfe zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Patrick K. war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich in Syrien der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen. Nach Angaben seiner Familie war er zum Wandern in der Türkei. Zum Prozeßauftakt Anfang Oktober entschied der Richter, daß K. wegen der Schwere der Vorwürfe in U-Haft bleiben müsse.

In Untersuchungshaft befindet sich zudem Dennis E., der Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun festgenommen wurde, wo er auch inhaftiert ist. Bei dem 55jährigen geht es um Facebook-Einträge und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Schon mehr als ein Jahr lang sitzt Enver Altayli ohne Anklage in Einzelhaft, während sich seine Familie Sorgen um seine Gesundheit macht. Altayli ist Jurist und Schriftsteller und arbeitete in den 60er und 70er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Im August 2017 war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

Weiterhin werden Woche für Woche angebliche Unterstützer sogenannter Terrororganisationen oder der Gülen-Bewegung im Rahmen großangelegter Razzien festgenommen. Seit dem gesteuerten Putschversuch im Juli 2016 wurden bereits 218.000 Menschen verhaftet, wie der türkische Innenminister erst vor wenigen Tagen dem Parlament berichtete. In der vergangenen Woche wurden auch Haftbefehle gegen zahlreiche Unterstützer und Mitarbeiter des seit einem Jahr inhaftierten türkischen Philanthropen Osman Kavala ausgestellt. Angeblich hätten sie die regierungskritischen Proteste im Jahr 2013 angeheizt. Daß die Regierung nun sogar die Gezi-Demonstrationen als Putschversuch wertet und deren Unterstützer noch Jahre später verfolgt, entspringt einer ungezügelten Eskalation staatlicher Repression, deren Ende nicht abzusehen ist.

Davon zeugt auch die Reaktion Recep Tayyip Erdogans auf die Entscheidung des Menschenrechtsgerichts in Straßburg, Selahattin Demirtas müsse freigelassen werden. Am 3. November 2016 waren die beiden Kovorsitzenden der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Demirtas und Figen Yüksekdag, sowie weitere Abgeordnete festgenommen worden. Auf direkte Weisung des türkischen Präsidenten wird Demirtas von der Staatsanwaltschaft unter anderem wegen mehrerer Reden "Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation" vorgeworfen. [3] Er befindet sich seitdem in einem Hochsicherheitsgefängnis in Edirne. Demirtas war bis Februar Vorsitzender der HDP. Diese ist eine legale politische Partei, wird aber von Erdogan als verlängerter Arm der PKK gesehen, was sie vehement zurückweist. Demirtas galt vor seiner Inhaftierung als stärkster Gegner Erdogans. Nur eine Woche nachdem er Co-Vorsitzender der HDP geworden war, trat er bei der Präsidentschaftswahl 2014 gegen Erdogan an und erreichte den dritten Platz. Ein Jahr später führte er die HDP ins türkische Parlament. Deren Erfolg war 2016 der Grund dafür, daß die AKP ihre absolute Mehrheit verlor. Allerdings rief Erdogan wenige Monate später Neuwahlen aus und holte sich durch Unterdrückung der Opposition und einen Pakt mit der ultrarechten MHP die absolute Mehrzeit zurück. Obwohl Demirtas im Gefängnis sitzt, trat er bei den Präsidentschaftswahlen im Juni erneut als Kandidat gegen Erdogan an und erreichte mit 8,4 Prozent der Stimmen wieder den dritten Platz.

Im Straßburger Urteil bezeichnen die Richter die Untersuchungshaft gegen Demirtas als einen "unrechtmäßigen Eingriff in die freie Meinungsäußerung des Volkes". Die Rechte des Oppositionspolitikers, gewählt zu werden und sein Parlamentsmandat auszuüben, seien beschränkt worden. Die Inhaftierung des 45jährigen über die diesjährigen Präsidentschaftswahlen und das umstrittene Referendum für den Übergang von einem parlamentarischen in ein Präsidialsystem hinaus diene dem Ziel, "den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte zu begrenzen", kritisierte das Gericht.

Wie Erdogan nun erklärte, betrachte er die Entscheidung von Straßburg als nicht bindend. Er griff das Menschenrechtsgericht scharf an und warf der EU insgesamt vor, nichts gegen die PKK und die Gülen-Bewegung zu unternehmen. Die PKK könne in Europas Städten frei agieren, sagte Erdogan vor Ortsvorstehern in Ankara. An das Menschenrechtsgericht gewandt polemisierte er: "EGMR, auf welcher Seite stehst Du?" Keine Institution habe das Recht, von Demokratie zu sprechen, wenn sie selbst Terror unterstütze. "Das nennt man nicht Unterstützung für die Einforderung von Recht und Freiheit, sondern geradeheraus Terrorverehrung, Terror-Liebe", sagte Erdogan weiter. [4]

Die Türkei als Mitglied des Europarats muß sich an das Urteil halten, das aber noch nicht rechtskräftig ist. Beide Seiten können innerhalb von drei Monaten die Verweisung an die Große Kammer des EGMR beantragen. "Wir machen einen Gegenzug und beenden die Sache", erklärte der türkische Staatspräsident nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Was er damit meinte, blieb unklar, doch lassen diese despotischen Allmachtsallüren wie immer bei Erdogan Schlimmstes befürchten.


Fußnoten:

[1] www.ksta.de/koeln/prozess-in-istanbul-koelner-adil-demirci-bleibt-weiter-in-haft-31620530

[2] www.tagesschau.de/ausland/adil-demirci-prozess-105.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/344062.gerichtsurteil-freiheit-für-demirtas.html

[4] www.n-tv.de/politik/Erdogan-wuetet-gegen-Demirtas-Freilassung-article20733010.html

22. November 2018


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