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REPRESSION/1631: Istanbul - Häftling prominent ... (SB)



Freiheit für Adil, Freiheit für alle politischen Gefangenen! Wir sind auf der Straße, um die Freilassung aller inhaftierten Oppositionellen in der Türkei zu verlangen und werden davon nicht ablassen.
Mesut Duman (Solidaritätskomitee "Freiheit für Adil Demirci") [1]

Am 14. Februar hat ein Gericht in Istanbul entschieden, den Kölner Journalisten und Sozialarbeiter Adil Demirci aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Der 33jährige darf jedoch nicht nach Deutschland ausreisen, muß sich in der Provinz Istanbul aufhalten und in regelmäßigen Abständen bei der Polizei melden. Der Prozeß soll am 30. April fortgeführt werden. Demirci war in früheren Jahren wiederholt ohne Probleme in die Türkei ein- und ausgereist. Als er sich jedoch im April 2018 zusammen mit seiner krebskranken Mutter auf Urlaub in Istanbul aufhielt, um Freunde und Verwandte zu besuchen, wurde er kurz vor der Rückreise in der Wohnung seines Onkels von einem Anti-Terror-Kommando festgenommen und befand sich seither in Haft. Die Behörden fanden ihn offenbar aufgrund einer anonym zugespielten Denunziation, in welcher der Absender die Adresse seiner Verwandten sowie sein Abreisedatum vermerkt hatte. Danach war er zehn Monate lang im Hochsicherheitsgefängnis Silivri inhaftiert, das 70 Kilometer westlich von Istanbul liegt. Im größten Gefängnis Europas mit mehr als 11.000 Häftlingen waren unter anderen auch die bekannten Journalisten Deniz Yüksel, Can Dündar und Mesale Tolus Ehemann Suat Corlu eingesperrt.

Demirci schreibt als freier Mitarbeiter für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu tätig ist. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm laut Anklageschrift vor, im Namen der verbotenen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) in den Jahren 2013 bis 2016 an unerlaubten Demonstrationen mit Molotow-Cocktails sowie an Gedenkveranstaltungen für getötete Mitglieder, die in Propagandaveranstaltungen ausgeartet seien, teilgenommen zu haben. Den Gerichtsakten zufolge habe es sich teilweise um Zeremonien für Mitglieder der bewaffneten Fraktion der Organisation gehandelt, die in Syrien gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gekämpft hatten.

Adil Demirci wies den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zurück und erklärte, er habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen. Er arbeite in Deutschland als Sozialarbeiter und mache Übersetzungen aus dem Türkischen ins Englische und Deutsche. Die Teilnahme an drei Trauerfeiern und einer Gedenkveranstaltung räumte Demirci ein, wobei er betonte, daß es dabei um Menschen gegangen sei, die gegen den IS gekämpft hätten. Tausende hätten an diesen Feiern teilgenommen, Waffen habe er nicht gesehen. Sein Anwalt Mustafa Peköz wirft der Anklage vor, keine Beweise für ihren Vorwurf der Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation vorgelegt zu haben.

Der Autor und Publizist Günter Wallraff hatte als Mitglied des Solidaritätskreises "Freiheit für Adil" bereits den Auftakt des Prozesses gegen Adil Demirci und 22 Mitangeklagte am 20. November vor Ort beobachtet. Wie er damals erklärte, habe er als Journalist akribisch zu dem Fall recherchiert, aber nichts gefunden, was die Anklage rechtfertigen könnte. Es gebe keinen juristischen Grund, diesen Menschen hier einzusperren. Der einzige Grund sei, andere Menschen davon abzuschrecken, ihre Meinung zu sagen. Von einer grundlegende Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei könne keine Rede sein. Komme jemand frei, werde ein anderer verhaftet. Nach Einschätzung der Kölner Unterstützergruppe ist das juristische Vorgehen gegen Adil Demirci ähnlich konstruiert wie die Anklage gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu. Diese hatte 2017 mehrere Monate in Untersuchungshaft verbracht, bevor sie im Dezember freigelassen wurde und im August 2018 schließlich ausreisen konnte, wobei ihr Verfahren in der Türkei weiterläuft.

Nach Angaben des "Stockholm Center for Freedom" (SCF) vom November 2018 befanden sich zu diesem Zeitpunkt 168 Journalisten im Gefängnis, gegen weitere 147 lag ein Haftbefehl vor, wobei 85 Prozent der inhaftierten Reporter erst nach dem Putschversuch festgenommen wurden. Seither sind 189 Medienunternehmen geschlossen worden, nach Angaben der Türkischen Journalistenvereinigung (TGC) haben etwa 30 Prozent dieser Berufsgruppe ihren Job verloren. Wären schon Einzelfälle der Verfolgung oppositioneller Medienvertreter nicht hinnehmbar, so muß man hier wie in anderen Sektoren der türkischen Gesellschaft von einer tiefgreifenden "Säuberung" sprechen, mit der das Erdogan-Regime jeglichen tatsächlichen oder auch nur potentiellen Widerspruch zum Schweigen bringen will.

Die häufigsten Gründe für die Verhaftung und Verurteilung sind Mitgliedschaft in einer "terroristischen" Gruppierung, "Terrorpropaganda", aber auch Beleidigung des Präsidenten. Die angebliche Nähe zu kurdischen Organisationen, linken türkischen Parteien oder der Gülen-Bewegung bedarf keiner Ermittlung und Beweisführung im rechtsstaatlichen Sinne. Sie entspringt einer Willkürjustiz, die exekutiven Vorgaben unterworfen ist. In der Türkei reicht es schon aus, über heikle Themen zu schreiben, mit der falschen Quelle zu sprechen oder sich in den sozialen Medien kritisch zu äußern, um staatliche Verfolgung auf sich zu ziehen und für Jahre hinter Gitter zu wandern.

Daß das Regime nicht davor zurückschreckt, auch Menschen mit einer ausländischen oder doppelten Staatsbürgerschaft zu politischen Gefangenen zu machen, ist hinlänglich bekannt. Erdogan hält stets auch eine Reihe deutscher Staatsangehöriger in Geiselhaft, um sie als Faustpfand für Gegenleistungen der Bundesregierung einsetzen zu können, auch wenn dies beiderseits dementiert wird. Der Menschenrechtler Peter Steudtner, der Journalist Deniz Yücel und die Übersetzerin Mesale Tolu wurden freigelassen und durften ausreisen, während ihre Prozesse in der Türkei weiterlaufen. Wer in diesem Abgleich als Verhandlungsmasse von Politik und Medien in Deutschland nicht von Interesse ist, darf sich keine Hoffnung auf Rettung machen, am allerwenigsten aber, wenn substantielle Sympathien für die radikale Linke und deren Kämpfe im Spiel sind.

Um so wichtiger ist die Unterstützung für die Gefangenen jenseits deutscher Regierungspolitik und Mainstreammedien, um sie der Vergessenheit zu entreißen. Der bis Dezember in Silivri inhaftierte österreichische Journalist und junge Welt-Autor Max Zirngast, der nicht aus der Türkei ausreisen darf, betonte in einer in Ankara aufgezeichneten Rede, wie wichtig es sei, daß "die Stimmen aus Europa lauter werden". Kampagnen, Anwältinnen, die nachbohrten, und Medien, die das Unrecht publizieren, seien Mittel, um die Isolation politischer Gefangener zu durchbrechen. Deren Inhaftierung diene ihrer Zermürbung und solle Angst in der Bevölkerung schüren.

Wie bei der ersten Verhandlung im November waren wieder zahlreiche Prozeßbeobachterinnen und -beobachter aus Deutschland zum Verfahren gegen Adil Demirci angereist. Im Saal saßen neben Generalkonsul Michael Reiffenstuel unter anderen der SPD-Abgeordnete Rolf Mützenich, der Kölner Linkspartei-Politiker Jörg Detjen, der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff sowie Anke Brunn vom Präsidium des Internationalen Bundes (IB), für den Demirci bis zu seiner Verhaftung jugendliche Migranten beraten hatte, und Sabine Skubsch, Vorsitzende des IB-Konzernbetriebsrats. "Der Druck der Öffentlichkeit hat offenbar geholfen", so Wallraff, der zugleich warnte, daß das Urteil noch nicht gesprochen sei. Sabine Skubsch sagte, beim IB hätten 14.000 Kollegen mitgefiebert. Sie sei betrübt, daß Adil nicht ausreisen dürfe, da die Familie getrennt bleibe. "Das ist sehr traurig, wenn man weiß, wie schlecht es der Mutter geht." [2]

Am Vorabend des Prozesses hatten Aktivistinnen und Aktivisten des Solidaritätskomitees "Freiheit für Adil Demirci" wie auch weitere Freunde, Genossinnen und Menschenrechtler in Frankfurt am Main, Köln, Duisburg, Hamburg, Kiel, Mannheim, Nürnberg, Stuttgart und Ulm für seine Freilassung und Ausreise demonstriert. Demirci hatte auf dem Wallraffplatz in der Kölner Innenstadt jeden Mittwoch eine Mahnwache für seine inhaftierte Kollegin Mesale Tolu durchgeführt. Als er selbst ins Gefängnis kam, führte sein Bruder Tamer diese regelmäßige Zusammenkunft weiter, um Öffentlichkeit zu schaffen. [3]

Seine Familie reagierte mit Freude auf die Haftentlassung, kritisierte aber die Ausreisesperre. Sie mache Istanbul zu einem "Freiluftgefängnis", sagte Tamer Demirci. Man werde erstmal feiern und sich dann mit den Unterstützern zusammensetzen und das weitere Vorgehen planen. Die Mutter habe gerade eine Chemotherapie abgeschlossen und sei derzeit zu krank, um zu reisen, aber vielleicht könne sie Mitte März noch einmal nach Istanbul fahren. Von der Bundesregierung fühlt sich die Familie im Stich gelassen. Es sei eine Bankrotterklärung, daß Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan trotz der Inhaftierung mehrerer deutscher Staatsbürger im vergangenen Herbst als Staatsgast in Berlin empfangen habe, so Tamer Demirci. "Die Bundesregierung will ihr Verhältnis zum türkischen Regime normalisieren. Mein Bruder stört da nur." [4]

Mit Demircis Freilassung aus der U-Haft ist die Zahl der öffentlich bekannten Fälle von Deutschen, die aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sind, vorerst auf drei gesunken. Mitte 2018 waren es noch sieben, zuletzt durfte Anfang Januar der Hamburger Dennis E. nach Deutschland ausreisen. Unter Terrorvorwürfen sind nun noch Patrick K. aus Gießen und die Kölner Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane in Haft. Die beiden waren Ende 2018 zu Gefängnisstrafen von mehr als sechs Jahren verurteilt worden. Außerdem sitzt wegen ähnlicher Vorwürfe weiter der Autor, Jurist und ehemalige Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT, Enver Altayli, in U-Haft. Im Fall des 74jährigen liegt auch nach rund eineinhalb Jahren noch keine Anklageschrift vor.

Wenngleich die Bundesregierung wiederholt betont hat, daß es keine Normalisierung der Beziehungen zur Türkei geben werde, bevor alle deutschen Häftlinge frei seien, sind dies bloße Lippenbekenntnisse. Das Verhältnis gilt längst als entspannt, auf Regierungsebene wird ein Versöhnungskurs eingeschlagen, umfangreiche deutsche Investitionen sollen die schwer angeschlagene türkische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch retten. Deutsche und türkische Behörden arbeiten im Bereich des Staatsschutzes ohnehin seit Jahren eng zusammen, um türkische und kurdische Linke hierzulande nach Paragraph 129 b festzunehmen und zu hohen Haftstrafen zu verurteilen. Die Bundesregierung weiß genau, womit sie es bei dem Regime Erdogans zu tun hat, und kooperiert mit Ankara im Kontext ihrer Interessen an der Türkei.

So hat das Auswärtige Amt die bisher gültige Zählweise von aus "politischen Gründen" inhaftierten Deutschen jüngst aufgehoben. Wie dazu aus dem Ministerium verlautete, seien derzeit insgesamt 47 deutsche Staatsangehörige in der Türkei inhaftiert. Nicht in allen Fällen sei "eine abschließende Beurteilung der Verfahren möglich, weshalb eine binäre Einordnung in 'politischer Fall' und 'nicht-politischer Fall' nicht immer eindeutig möglich" sei. Das betreffe insbesondere auch Verhaftungen wegen Äußerungen in den sozialen Medien, die sich jüngst gehäuft hätten. Weiter hieß es: "Unabhängig vom Grund der Inhaftierung bestehen in einigen Fällen erhebliche rechtsstaatliche oder humanitäre Bedenken." [4] Was sich wie eine Öffnung des Blicks für die Belange aller deutschen Häftlinge in der Türkei anhören mag, erweist sich letzten Endes als Angleichung an die Position des Erdogan-Regimes, wonach es überhaupt keine politischen Gefangenen im Lande, sondern ausschließlich inhaftierte "Terroristen" und "Terrorhelfer" gibt.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/349158.türkische-justiz-solidarität-mit-adil-demirci-wirkt.html

[2] www.tagesspiegel.de/politik/journalist-und-sozialarbeiter-koelner-adil-demirci-in-tuerkei-aus-haft-entlassen/23987718.html

[3] www.deutschlandfunk.de/tuerkei-koelner-adil-demirci-in-istanbul-vor-gericht.1769.de.html

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-gericht-in-istanbul-ordnet-freilassung-von-koelner-adil-demirci-an-a-1253251.html

15. Februar 2019


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