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REPRESSION/1651: Türkei - Flüchtlingsabwehr in Not ... (SB)



Flüchtlinge in der Ägäis drohen zum Spielball der Machtinteressen der Türkei, Griechenlands und der EU-Staaten zu werden. Ihr Rechtsanspruch auf Schutz wird systematisch ignoriert.
Günter Burkhardt (Geschäftsführer von Pro Asyl) [1]

Krisen, Kriege und Klimawandel als indirekte oder unmittelbare Folgen raubgestützter Herrschaftsverhältnisse und Wirtschaftsweisen führen dazu, daß absehbar nur eine Minderheit der Menschheit mit einem Überleben in bislang erreichten Fristen und Formen rechnen kann, wie sie ohnehin nur für Teile der globalen Metropolen existieren. Die aggressive ökonomische und militärische Expansion der westlichen Mächte hat eine Massenflucht ausgelöst, die auf die Nutznießer der globalen Verelendung zurückschlägt. Und da die forcierte Taktfolge der Kriege die Nachbarregionen Europas mit einem Flächenbrand überzogen hat, werden im Dienst hegemonialer Krisenbewältigung innovative Entwürfe der Steuerung und Zwangsbefriedung in Stellung gebracht und durchgesetzt.

Drängt das Millionenheer geflohener Menschen in Richtung der reicheren Weltregionen, wird es auf grausame Weise abermals mit der unantastbaren Eigentumsfrage konfrontiert. Die vielzitierte westliche Wertegemeinschaft erschöpft sich für die Regierungen Europas darin, die Festung abzuschotten, so daß die Flüchtlinge aufgehalten werden oder zugrunde gehen. Die Europäische Union hat unter deutscher Federführung geflohenen Menschen de facto den Krieg erklärt, der mit militärischen, polizeilichen und administrativen Mitteln ausgetragen wird. Deutschland, das viele Flüchtlinge aufgenommen hat, treibt zugleich das Regime gestaffelter Abschottung, Abschiebung und vorgelagerter Abwehr am nachhaltigsten voran.

Im Frühjahr 2016 setzte Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen alle Widerstände das informelle Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei als Kernstück der Migrationskontrolle durch. Im Rahmen dieser Vereinbarung soll die Türkei geflohene Menschen von der EU fernhalten und erhält dafür sechs Milliarden Euro. Die griechische Regierung bekommt ebenfalls Unterstützung von der EU, wofür sie im Gegenzug Migrantinnen und Migranten auf fünf Inseln in der Ägäis festhält und solche ohne Recht auf internationalen Schutz anschließend in die Türkei zurückbringen soll. Die EU nimmt für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, einen anderen syrischen Flüchtling auf legalem Weg auf. So sah es zumindest das Abkommen vor, das sich aus europäischer Sicht zunächst als so erfolgreich erwies, daß die EU-Kommission die sogenannte Migrationskrise für beendet erklärte.

Es liegt in der Logik dieser Konstruktion, daß die Krise nicht bewältigt, sondern anderen Staaten aufgelastet wird, die sie wiederum auf die Flüchtlinge abwälzen. Was immer diesen Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Elend widerfährt, resultiert im wesentlichen nicht aus einer unzulänglichen Umsetzung dieses Verfahrens, sondern entspricht dessen zentraler Stoßrichtung: Das Leiden der geflohenen Menschen wird verschärft, um mit diesem Signal andere abzuschrecken, sich ihrerseits auf den Weg zu machen.

Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder der Welt zusammengenommen. Aus Sicht des Erdogan-Regimes waren sie insofern willkommen, als sie in Zeiten der Hochkonjunktur den Bedarf an billigen Arbeitskräften decken und die geplante ethnische Säuberung in den Kurdengebieten durch einen Austausch der Bevölkerung ermöglichen sollten. Zudem wurde die Südgrenze mit einer Mauer und anderen Sperranlagen abgeschottet, um die weitere Zuwanderung aus Syrien und entfernteren Ländern zu verhindern wie auch die kurdischen Kantone im Nachbarland abzuschneiden.

Griechenland wurde im Rahmen des Abkommens dazu verpflichtet, alle eingereisten Flüchtlinge im Land unterzubringen, bis ihre Asylansprüche geklärt sind. Die Flüchtlinge auf den Inseln ohne Asylrecht sollen in die Türkei zurückgeführt werden, die EU-Staaten wollten Griechenland Zehntausende Flüchtlinge abnehmen und es wurde genügend Personal zugesagt, um die Asylanträge zügig zu bearbeiten. Die Realität sieht anders aus. Für Griechenland ist die Rolle einer Pufferzone vorgesehen, in der die zwangsläufigen Unwuchten des Systems ausschwingen und ausschlagen sollen - zu Lasten der Griechinnen und Griechen, die nichts zu sagen, sondern nur zu tragen haben, und um so mehr der Flüchtlinge. Sie werden in Lager gesteckt, die Freiluftgefängnissen gleichkommen, was Teil der politisch gewollten Abschreckung ist. In diesen sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln gibt es zu wenig von allem, zu wenige Unterkünfte, Schlafplätze, sanitäre Anlagen. Die Lager sind weit über das Erträgliche hinaus ausgelastet, bei Regen steht alles unter Wasser, angemessene Versorgung ist kaum vorhanden.

Das griechische Asylverfahren ist äußerst langwierig, da zunächst geprüft wird, ob bei einer Rückführung in die Türkei Gefahr droht. Gegen eine abschlägige Entscheidung ist Widerspruch möglich, so daß sich schon diese Phase über eineinhalb Jahre hinziehen kann. Hat man die Entscheidung bekommen, daß die Türkei für einen nicht sicher ist, folgt erst der eigentliche Asylantrag, in dem es darum geht, ob die Person politisch verfolgt oder subsidiär schutzberechtigt ist. Die Termine für den Asylantrag liegen mittlerweile im Jahr 2021. Während dieser Zeit dürfen die Flüchtlinge die Insel nicht verlassen. Wer also von den Rechtsmitteln umfassend Gebrauch macht, sitzt in der Falle.

EU und griechische Regierung schieben sich gegenseitig die Verantwortung für diese menschenunwürdigen Zustände zu. Die EU-Kommission fordert, Athen müsse eine effektive und nachhaltige Strategie entwickeln, um die Migration zu ordnen. Schließlich habe das Land inzwischen mehr als zwei Milliarden Euro an Hilfe erhalten. Griechenland hat der EU im Frühjahr ein Memorandum mit dem Appell geschickt, daß sofort 20.000 Menschen auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden sollten. Eine Antwort darauf steht aus, eine Neuverhandlung des Dublin-Abkommens nicht zur Disposition.

Inzwischen spitzt sich die Lage auf den griechischen Inseln der östlichen Ägäis von Tag zu Tag weiter zu, da immer mehr Menschen aus der Türkei ankommen. Erdogan droht, er werde "die Tore öffnen" und Europa mit Flüchtlingen überschwemmen, wenn die EU der Türkei keine weiteren Finanzhilfen leistet. Griechische Experten fürchten bereits eine Neuauflage der "Flüchtlingskrise" des Jahres 2015, und der neue, konservativ-liberale Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ruft nach Hilfe der Europäischen Union. Gerald Knaus, der Vorsitzende des Thinktanks "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und Architekt des EU-Türkei-Deals, warnt vor einem Ende des Pakts: "Wenn er zusammenbricht, dann wegen des Scheiterns auf den griechischen Inseln."

Die Türkei beherbergt bereits mehr als vier Millionen Flüchtlinge, darunter jene 3,6 Millionen Syrer. Von den im Rahmen der Flüchtlingsvereinbarung zugesagten Finanzhilfen von sechs Milliarden Euro sind nach Angaben aus Brüssel bisher 5,6 Milliarden geflossen, der Rest werde bald ausgezahlt. Erdogan kritisiert hingegen, die EU komme ihren Zusagen nicht nach. Nun wächst der Druck seitens der Türkei zum einen in Folge der Entwicklung in Istanbul. Dort sind 547.000 syrische Flüchtlinge registriert, Schätzungen zufolge halten sich mindestens weitere 300.000 unregistriert in der Stadt auf. Sie sollen Istanbul bis zum 30. Oktober verlassen, sonst droht ihnen die Deportierung. Viele könnten versuchen, auf eine der griechischen Inseln zu fliehen.

Zugleicht bahnt sich eine weitere Flüchtlingswelle aus Syrien in die Türkei an, nämlich aus der von Regierungstruppen belagerten Rebellenhochburg Idlib. Erdogan spricht von einer "neuen Migrationsbedrohung" und rechnet mit bis zu zwei Millionen neuen Flüchtlingen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise in der Türkei ist die Akzeptanz der syrischen Flüchtlinge in der türkischen Bevölkerung gesunken, so daß für die Regierung in Ankara repressive Maßnahmen wie auch demonstrative Forderungen an die EU aus innenpolitischen Gründen opportun sind. Auf griechischer Seite argwöhnt man, die türkischen Behörden ließen Schleusern freie Hand, um den finanziellen Forderungen an die EU Nachdruck zu verleihen. [2]

Wenngleich die Zahl der Ankömmlinge in Griechenland noch weit von jener im Krisensommer 2015 entfernt ist, wächst sie doch wieder deutlich. In den fünf Erstaufnahmelagern auf Kos, Lesbos, Samos, Chios und Leros ist die Situation so dramatisch wie seit dem Höhepunkt der Krise nicht mehr. In den Lagern, die für die Unterbringung von 6300 Personen ausgelegt sind, harren fast 22.000 Menschen aus, weitere 3600 sind in Wohnungen und kleineren Lagern untergebracht. Viel zu wenige sanitäre Anlagen, keine ausreichende ärztliche Versorgung, sexuelle Übergriffe, stundenlanges Anstehen bei der Essensausgabe - die Zustände sind menschenunwürdig und im Winter droht eine weitere Verschärfung der humanitären Katastrophe.

Die seit Anfang Juli amtierende neue Regierung will die Asylverfahren beschleunigen, wozu weitere 200 Sachbearbeiter eingestellt werden. Zudem soll das Asylrecht verschärft werden, um die Einspruchsmöglichkeiten abgelehnter Bewerber einzuschränken. Um die Insellager zu entlasten, sollen angeblich 4500 besonders schutzbedürftige Menschen aufs Festland gebracht werden, aber auch dort sind die Unterkünfte überfüllt. Die Regierung will daher im Eiltempo weitere provisorische Flüchtlingslager für rund 4000 Asylbewerber schaffen.

Gerald Knaus plädiert dafür, Migranten zeitnah in die Türkei zurückzuschicken, wie es das Flüchtlingsabkommen vorsieht. Von dieser Möglichkeit haben die griechischen Behörden unter der Vorgängerregierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht. Der neue Regierungschef Mitsotakis will die Rückführungen beschleunigen, wobei allerdings ungewiß ist, ob die türkischen Behörden überhaupt Migranten zurücknehmen. Knaus fordert Unterstützung für die griechischen Behörden durch das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, um die Asylverfahren schneller abzuwickeln.

Damit liegt er durchaus auf der Linie deutscher Regierungspolitik, die den Pakt mit der Türkei noch schärfer durchsetzen und weiterführen will. So fordert der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary im Dlf eine Anschlußfinanzierung des Abkommens mit der Türkei, eine entschiedenere Abschiebepraxis Griechenlands sowie einen zügigen Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex. Von dem Einwand, daß die EU ihren Verpflichtungen im Rahmen des Abkommens, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, nicht nachkommt, will Caspary eher nichts hören. [3]

Hingegen fordert Pro Asyl Griechenland und die anderen EU-Staaten auf, die Situation auf den Ägäis-Inseln zu entschärfen, die Flüchtlinge nicht zum Spielball von Machtinteressen zu machen und ihren Rechtsanspruch auf Schutz nicht länger systematisch zu ignorieren. Schutzsuchende von den griechischen Inseln müßten aufgenommen werden und Zugang zu einem fairen Asylverfahren innerhalb der EU bekommen, wobei besonders Minderjährigen die Weiterreise in andere EU-Staaten ermöglicht werden müsse. Kritik übte die Organisation an den geplanten Verschärfungen des griechischen Asylrechts und dem Vorhaben, auch vom Festland aus Schutzsuchende in die Türkei zurückzubringen. Eine Abschiebung in die Türkei könne eine Kettenabschiebung in die Herkunftsländer nach sich ziehen. Vor allem syrische Flüchtlinge seien in der Türkei zuletzt zunehmend unter Druck geraten und teils abgeschoben worden, unter anderem sogar in die weiterhin umkämpfte Region Idlib. Zudem sei die Möglichkeit der Inhaftierung Schutzsuchender ausgeweitet worden. Unter Androhung unbegrenzter Haft würden Syrer in Abschiebehaft dazu genötigt, ihrer Rückkehr zuzustimmen. Dies sei ein "klarer Verstoß gegen das völkerrechtliche Abschiebungsverbot".


Fußnoten:

[1] www.dw.com/de/immer-mehr-migranten-kommen-in-griechenland-an/a-50378245

[2] www.waz.de/politik/droht-eine-neuauflage-der-fluechtlingskrise-von-2015-id227063893.html

[3] www.deutschlandfunk.de/europaeische-fluechtlingspolitik-wir-muessen-uns-um-die.694.de.html

12. September 2019


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