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KRIEG/1450: Fiktive Kontroverse um den nicht geplanten Abzug aus Afghanistan (SB)



Der weltweit in Stellung gebrachte sogenannte Antiterrorkrieg als bellizistische Vorwandslage zur Durchsetzung der neuen Weltordnung nach dem Ende der Blockkonfrontation hinterläßt eine Schneise der Verwüstung, bei der es sich keineswegs um Kollateralschäden, sondern vielmehr den Zweck der Übung handelt. Ziel ist die Zerschlagung und Fragmentierung staatlicher Strukturen, die Spaltung funktionsfähiger Gesellschaften, die Aufwiegelung ethnischer Gruppen gegeneinander, kurz die Herbeiführung einer militärisch und administrativ steuerbaren Gemengelage, die zu keinem geschlossenen Widerstand gegen die Okkupationsmächte fähig ist und deren dauerhafte Präsenz rechtfertigt. Dieses skrupellose Zerstörungswerk tötet, verstümmelt, vertreibt und verelendet Hunderttausende Menschen, vernichtet hochentwickelte Wirtschaftsweisen und Anbaumethoden, zerschlägt Infrastruktur und Kulturgüter.

Vor dem Hintergrund dieser Barbarei inszenieren westliche Politiker und Militärs ein unablässiges Schmierentheater um Stabilisierung, Wiederaufbau, Demokratisierung und Entwicklung, als erwecke der Marschtritt ihrer Soldaten, das Mahlen ihrer Panzerketten und der donnernde Einschlag ihrer Raketen blühendes Leben, wo bislang nichts als Ödnis und Rückständigkeit herrschte. Um dauerhafte Unterstützung dieser Kriege und deren astronomischen Kosten in den Herkunftsländern der Aggressoren zu erwirtschaften, bedarf es fortgesetzter Propagandakampagnen, die denkkontrollierende Muster generieren und einprägen. Zutiefst an der Raubstruktur beteiligt, die zu ihren Gunsten am Balkan und am Horn von Afrika, im Zweistromland und am Hindukusch ausgefochten wird, wollen die Bürger nach Strich und Faden übers Ohr gehauen werden.

Der Abzugsplan in Afghanistan sei "nicht verhandelbar", wirft sich das Weiße Haus in die Brust, als sei die absurde Kombination von Truppenaufstockung und terminiertem Rückzug glaubhaft und in Stein gemeißelt. Das sei unhaltbar und kontraproduktiv, gibt die Generalität zu bedenken, hänge der Abmarsch der US-Streitkräfte doch von der Lage im Land ab, wie dies Feldherr Petraeus jüngst als Losung ausgab. Der Kampf gegen die Taliban sei nach wie vor von einem ständigen "Auf und Ab" geprägt, weshalb es viel zu früh sei, um abschätzen zu können, wann er endgültig zum Erfolg führen werde.

Schützenhilfe erhält der Oberkommandierende am Hindukusch unterdessen vom Kommandeur der US-Marineinfanteristen, General James Conway. Der von Präsident Barack Obama gesetzte Plan, von Juli 2011 an die Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, könne den Einsatz der Truppen schwieriger gestalten, gibt Conway zu bedenken: "Wir glauben, daß die Festlegung auf einen Termin die Taliban gestärkt hat. Die Extremisten gehen davon aus, daß sie nur mehr bis dahin durchhalten müssen. Wir haben solche Funksprüche abgefangen." In der Gewißheit, daß die plumpesten Parolen noch immer am besten ziehen, schlägt der General de facto vor, am besten gar nicht mehr über einen Abzug zu reden, da dies nur dem Feind in die Hände spielt. (Die Welt 25.08.10)

Nachgelegt hat auch Generalleutnant William B. Caldwell, der für den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zuständig ist. Wolle man den vom US-Präsidenten gesetzten Termin einhalten, zu dem die einheimische Armee und Polizei den Krieg eigenständig führen soll, müsse man in den nächsten fünfzehn Monaten 141.000 neue Soldaten und Polizisten ausbilden. Diese hohe Zahl, welche die aktuelle Truppenstärke der afghanischen Armee übertreffe, erkläre sich aus der enormen Zermürbungsrate, die in manchen Einheiten 50 Prozent betrage. Nicht vor Oktober 2011 und damit drei Monate nach dem terminierten Beginn des Truppenabzugs werde man die volle Kapazität der afghanischen Sicherheitskräfte erreichen. Gegenwärtig könnten diese jedenfalls nicht unabhängig operieren. (New York Times 23.08.10)

In Klartext ausgedrückt, will Caldwell also in fünfzehn Monaten ungefähr so viel schaffen, wie man in den zurückliegenden neun Jahren zustandegebracht hat - und dies obwohl die euphemistisch als "Zermürbung" bezeichnete Rate an getöteten oder desertierten Rekruten angesichts der wachsenden Stärke des Widerstands kaum abnehmen dürfte. Der Generalleutnant gibt natürlich nicht zu, daß er an seiner Aufgabe zu scheitern droht, nutzt die damit verbundenen Probleme aber andererseits dazu, ein weiteres Argument gegen den Abzug in Stellung in zu bringen.

Schuld haben natürlich die afghanischen Rekruten, die zum überwiegenden Teil Analphabeten sind. Wie sollten sie einfachsten Anforderungen entsprechen, wenn sie nicht einmal die Seriennummer auf ihrer Waffe lesen können? Caldwell zufolge habe man deshalb ein Unterrichtsprogramm auf den Weg gebracht, um den angehenden Soldaten und Polizisten wenigstens notdürftige Grundkenntnisse beizubringen und so eine gewisse Professionalisierung der Sicherheitskräfte herbeizuführen. Zu High-School-Absolventen wolle man sie ohnehin nicht machen, erlaubt sich der US-General einen herablassenden Scherz, der die geballte neokoloniale Suprematie in einem einzigen Satz bündelt und zugleich den vielzitierten Aufbau des Landes als Farce entlarvt.

Offensichtlich arbeiten führende US-Militärs in konzertierter Aktion daran, den Abzugstermin der Regierung in Frage zu stellen und Gründe für eine längerfristige Präsenz in Stellung zu bringen. Tobt da ein Machtkampf zwischen dem Präsidenten und der militärischen Führung, wie er schon bei der Entlassung Stanley McChrystals ins Kraut zu schießen schien? (James Conway braucht einen Karriereknick nicht zu fürchten, da er demnächst ohnehin in den Ruhestand geht.) Obama und Verteidigungsminister Gates haben bereits angedeutet, sie wollten vorerst eine geringere Zahl von Soldaten in die USA zurückkehren lassen als ursprünglich vorgesehen, was man durchaus als ein weiteres Zeichen der Schwäche dieses Präsidenten werten kann, den die versammelte Wucht des neokonservativen Gegenschlags in die Ecke treibt.

Diese Entwicklung sollte jedoch nicht der gravierenden Fehleinschätzung Vorschub leisten, die weltpolizeilichen Ambitionen des "Antiterrorkriegs" erschöpften sich konzeptionell in jeweils befristeten Zielen, nach deren Erreichen ein vollständiger Abzug vorgesehen wäre. Da nichts weniger als der Zugriff auf die schwindenden Sourcen dieser Welt auf dem Spiel steht, haben die Besatzungsmächte nicht vor, auch nur einen Fußbreit eroberten Terrains freiwillig zurückzugeben, wobei die Ausgestaltung künftiger Kontrolle natürlich verschiedene Spielarten annehmen kann.

25. August 2010