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KRIEG/1504: Cyberwar des Pentagons - Offensive in der Sphäre umfassenden Scheins (SB)



Auf ihrem Gipfel in Lissabon brachte die NATO im November 2010 einen innovativen strategische Entwurf auf den Weg. Darin gemahnte sie an ihre Macht, Not und Zerstörung im größtmöglichen Ausmaß herbeizuführen und somit im raubgestützten System forcierter Verstoffwechselung die Führungsposition einzunehmen. Das westliche Militärbündnis unterstrich in der portugiesischen Hauptstadt seinen Anspruch auf globale Dominanz, entuferte die Palette möglicher Kriegsvorwände und rekrutierte Hilfstruppen. Die Europäische Union wurde als befreundetes militärisches Bündnis adressiert, Rußland als Partner zweiter Klasse umworben, die UNO zum Zuträger degradiert, die Afrikanische Union als Handlanger akzeptiert, das breite Spektrum der Hilfsorganisationen im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit vereinnahmt.

Überlegene Waffengewalt als Grundlage und Voraussetzung ökonomischer Stärke und politischer Durchsetzungsfähigkeit trat unverhüllter denn je mit letztgültiger Wucht hervor, um die perspektivische Überlebenssicherung der über sie verfügenden Eliten zu Lasten einer bellizistisch unterjochten Mehrheit der Menschheit zu bewerkstelligen. Unverminderten und unablässigen Krieg kündigte das nordatlantische Militärbündnis all jenen an, die sich ihm in den Weg zu stellen wagen oder schlichtweg über Ressourcen verfügen, welche die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für sich reklamieren.

Das von einer Arbeitsgruppe unter Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright entworfene strategische Konzept geht von einer "unvorhersehbaren Welt" aus, in der Gefahren Legion sind. Angefangen von der Verbreitung von Atomwaffen und ballistischen Raketen oder anderen Massenvernichtungswaffen über Extremismus, Terrorismus und transnationale illegale Aktivitäten wie der Schmuggel von Waffen, Drogen und Menschen bis hin zu Angriffen auf Transportwesen, Kommunikationseinrichtungen oder Handelswege, nicht zu vergessen die Versorgungssicherheit mit Energie und Lebensmitteln, verortet die NATO allenthalben feindliche Aggression. Damit nicht genug werden Umweltschutz, Klimawandel, Gesundheitswesen und nicht zuletzt der Cyberspace zu Feldern erklärt, die einer militärischen Kontrolle und Sicherung harren.

Auf diese Weise dringt die NATO in nahezu alle relevanten gesellschaftlichen Sphären vor, indem sie Bedrohungslagen postuliert und das Arsenal ihrer Kriegsvorwände unablässig erweitert. Nachdem der fiktive Verteidigungsfall bereits im Kontext des "Antiterrorkriegs" ideologisch verankert worden war, vollzog das neue Konzept der NATO endgültig und offensiv den Schritt, jedwede Einschränkung der eigenen Interessenlage zu einem Angriff zu erklären, der eine militärische Reaktion des Bündnisses rechtfertigt. Wo immer auf der Welt etwas geschieht, das den Wohlstand der westlichen Welt tangieren könnte, ruft die NATO den Verteidigungsfall aus.

Die in jüngerer Zeit sprunghaft gestiegene Bezugnahme auf den Cyberwar verdankt sich dessen geradezu idealen Eigenschaften, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Während konkrete Anschläge im öffentlichen Raum verübt oder aufwendig simuliert werden müssen, um einen überzeugenden Eindruck von Bedrohung hervorzurufen, ist die Behauptung, es habe einen Hackerangriff gegeben, für sich genommen ebenso unüberprüfbar wie die Rückführung von Störungen der Infrastruktur oder anderer essentieller Systeme auf eine derartige Attacke. Um dieses virtuelle Szenario für die Bevölkerung glaubhaft zu auszugestalten, bedarf es einer Reihe hinführender Schritte, deren Zeuge wir derzeit werden.

Der zweite unschätzbare Vorteil des Cyberwars besteht aus Perspektive seiner Protagonisten darin, daß die Willkür der Vorwände für den Angriffskrieg vollends entufert. Längst diskutiert man unverhohlen darüber, daß sich Hacker schwer rückverfolgen ließen und gerade deshalb ihre Herkunftsländer sanktioniert werden müßten. Auf der Schiene dieser vertrackten Argumentation läßt sich jede gewünschte Bedrohungslage im Cyberspace postulieren, um damit militärische Schläge zu rechtfertigen.

Als dritter Vorteil ist die Begründung ausgeweiteter Kontrolle des Internets und der sozialen Netzwerke zu nennen, da offensive Prävention gefordert wird. Der Cyberwar als angeblicher Verteidigungsfall geht nahtlos über in den Angriffskrieg, der mit eben jenen Waffen geführt wird, die zu gebrauchen man seinen Gegnern vorwirft. Hinzu kommt eine verstärkte Einbindung und Indienstnahme anderer Regierungen, die man mit dem Argument in den Schwitzkasten nimmt, der Cyberwar sei hochmobil und könne demzufolge nur in internationaler Zusammenarbeit erfolgreich geführt werden.

Wie es in der soeben veröffentlichten Strategie für den Cyberwar heißt, an der das Pentagon zwei Jahre lang gearbeitet hat, werde das Verteidigungsministerium "zunehmend robuste internationale Beziehungen" aufbauen, um eine "kollektive Selbstverteidigung" zu ermöglichen. "Kein einzelner Staat, keine einzelne Organisation kann allein eine effektive Abwehr aufrechterhalten." Nur mit einem gemeinsamen Bewußtsein und gegenseitigen Warnungen auf globaler Ebene könnten Angreifer im Internet unschädlich gemacht werden. Das Pentagon will unter anderem gemeinsame Warnsysteme und Trainingsprogramme aufbauen, wobei jedes Land Verantwortung für jene Bereiche übernehmen soll, in denen es bereits Stärken und spezielle Kapazitäten besitzt. [1]

Umgesetzt werden soll die Strategie von der im vergangenen Jahr gegründeten Spezialeinheit "Cyber Command". Mit Hilfe von Abwehrübungen und Kriegssimulationen sollen die Soldaten besser ausgebildet werden, bei künftigen Angriffen die Operationen des Pentagon auf sichere Netzwerke umzuleiten. Auch will man innerhalb des Verteidigungsministeriums den Umgang mit vertraulichen Daten verbessern sowie Datendieben und Saboteuren aus den eigenen Reihen das Handwerk legen.

Mit einem gezielt eingesetzten Paukenschlag gab der stellvertretende Pentagonchef William Lynn bei Vorlage des Papiers bekannt, daß das Ministerium im März Opfer eines der größten Hackerangriffe ihrer Geschichte geworden sei. Ausländische Eindringlinge hätten aus dem Netzwerk eines Vertragsunternehmens 24.000 sensible Dokumente entwendet. Man gehe davon aus, daß ein ausländischer Geheimdienst die Attacke angeordnet hat, erklärte Lynn, der sich jedoch weigerte, das betroffene Unternehmen oder mögliche Verdächtige beim Namen zu nennen. Bei den gestohlenen Daten handle es sich um Informationen über Baupläne für militärische Ausrüstung. Manche der gestohlenen Daten seien "banal", die Mehrzahl beträfe jedoch "empfindliche Systeme" wie Flugzeugelektronik, Überwachungstechnik, Systeme zur Satellitenkommunikation und Netzwerkprotokolle. [2]

Lynns Behauptung, alljährlich würden so viele Informationen von den Festplatten amerikanischer Unternehmen, Universitäten und Behörden gestohlen, wie die Kongreßbibliothek in Washington Datenträger enthält (nämlich rund 147 Millionen), mag man glauben oder nicht. Überprüfbar ist sie ebensowenig wie der gezielt lancierte Verdacht, ein ausländischer Geheimdienst habe das Pentagon angegriffen.

Wenngleich das 13seitige Papier des Pentagons nicht auf militärische Gegenschläge oder offensive Cyberkriege eingeht, stehen Militärs Gewehr bei Fuß, diesen Part zu übernehmen. Der stellvertretende Generalstabschef James Cartwright mahnte die Offensive an, da man andernfalls immer weitere Angriffe auf sich ziehe und sich zunehmend schwerer verteidigen könne. Bislang habe man dem Aufbau verbesserter Firewalls 90 Prozent der Aufmerksamkeit gewidmet, angreifenden Hackern jedoch nur die verbleibenden 10 Prozent. Künftig sollte es sich umgekehrt verhalten, da der Preis für den Angreifer hoch und höher geschraubt werden müsse. [3]

Nichts anderes sieht die neue Cyberstrategie des Pentagons vor, welche die Obama-Administration in Auftrag gegeben hat. Darin ist die Rede von "dynamischer Verteidigung", worunter nicht zuletzt die aktive Suche nach potentiellen Angreifern im Internet zu verstehen ist. Lynn sprach die Warnung aus, daß sich die technische Expertise, gefährliche Cyberangriffe durchzuführen, zunehmend von Ländern wie Rußland oder China in kleinere "Schurkenstaaten" und hin zu nichtstaatlichen Akteuren wie insbesondere "Terroristen" verlagere. Sobald diese über die erforderlichen Werkzeuge verfügten, schlügen sie ohne zu zögern zu.

Daß die Kreation immer neuer böswilliger Feinde der USA und ihrer Verbündeten irgendwann vollends die virtuelle Welt erreichen würde, lag auf der Hand. Dort ist die Präsentation des Nichtvorhandenen so allgegenwärtig, daß sie die Qualität einer manifestierten Realität angenommen hat. Was könnte besser geeignet sein, die Logik der eigenen Kriege zu begründen und zu transportieren, als diese Sphäre umfassenden Scheins!

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/hackerattacke_aufs_pentagon_1.11401770.html

[2] http://www.zeit.de/digital/2011-07/usa-hacker-cyberangriff-3-2

[3] http://www.nytimes.com/2011/07/15/world/15cyber.html

16. Juli 2011