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KRIEG/1522: Nachruf auf das Libyen Gaddafis (SB)



Der von den NATO-Staaten und dem Nationalen Übergangsrat (NTC) mit einem koordinierten Angriffskrieg durchgesetzte Regimewechsel in Libyen verwandelt das Land mit dem höchsten Lebensstandard auf dem afrikanischen Kontinent in ein vielerorts verwüstetes, fragmentiertes und den Ausbeutungs- und Verfügungsinteressen der westlichen Mächte ausgeliefertes Protektorat. Mit Opferzahlen, die in die Zehntausende gehen, Trümmerwüsten, wo zuvor blühende Städte als Musterbeispiele urbaner Entwicklung galten, und zahllosen ihres Obdachs und aller sozialen Versorgung beraubten Menschen wird Libyen für die Mehrheit der Bevölkerung nie wieder jenen Stand erreichen wie unter der Führung des als Schurken verfehmten, dann als Verbündeten hofierten und zuletzt als Diktator gejagten und getöteten Muammar al Gaddafi.

Nach den Berichten über den Tod Gaddafis verkündet die Europäische Union triumphierend "ein Ende der Ära von Gewaltherrschaft und Unterdrückung, unter der das libysche Volk zu lange gelitten hat". In einer Erklärung von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso heißt es: "Heute kann Libyen eine neue Seite in seiner Geschichte aufschlagen und eine neue demokratische Zukunft beginnen." Zugleich fordert die politische Spitze der EU den Nationalen Übergangsrat auf, einen "breit angelegten Prozess der Aussöhnung" einzuleiten. Dieser müsse sich an alle Libyer richten und einen "demokratischen, friedlichen und transparenten Übergang im Land ermöglichen". [1]

Die sattsam bekannten Sprachregelungen westlicher Herrschaftsdoktrin, wie sie schon auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan dem systematisch herbeigeführten Prozeß der Zerschlagung, Unterwerfung und Okkupation Hohn sprachen, kündigen den Libyern dasselbe Verhängnis an. Das Schicksal der umkämpften libyschen Städte Sirte und Bani Walid dokumentiert zweifelsfrei, welche Abgründe zwischen der Propaganda der Aggressoren und dem Elend ihrer Opfer klaffen. Die Großstadt Sirte mit ihren mehr als 130.000 Einwohnern wurde von Truppen des Übergangsrats mit Panzern, Granatwerfern und Flugabwehrkanonen aus sicherer Distanz wahllos unter Feuer genommen. Der "Schutz der Zivilisten", den die NATO im März zum Vorwand genommen hatte, den Krieg vom Zaun zu brechen, mündete auch hier in ein Blutbad. Zehntausende harrten notgedrungen in der Stadt aus, wobei sie ständig in Gefahr sind, ein Opfer von NATO-Bomben zu werden. Die Lage in der Stadt ist katastrophal. Wasser, Lebensmittel und vor allem Medikamente sind knapp oder gar nicht mehr vorhanden, die Krankenhäuser hoffnungslos überfüllt. [2]

Wie die Washington Post schrieb, sei Gaddafis Heimatstadt nach wochenlangen Angriffen fast völlig zerstört. Einst als Glanzstück der Stadtentwicklung gefeiert, wurde Sirte seit der Einnahme von Tripolis Ende August von den Bomben der NATO und dem Beschuß durch den NTC in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Die maßlose Verwüstung werfe die Frage auf, ob sich die Bewohner dieser Stadt widerspruchslos in die Zeit nach Gaddafi fügen oder sich in ihrem Zorn gegen die neuen Machthaber erheben. Auch der britische Telegraph kontrastiert die ehemals herausragenden architektonischen Schönheiten und die beispielhafte soziale Infrastruktur der Stadt, die internationale Anerkennung gefunden hatten, mit den qualmenden Ruinen des zerstörten Sirte. [3]

Zehntausende Bewohner waren geflohen, und die wenigen Rückkehrer können sich angesichts der immensen Verwüstungen kaum vorstellen, daß diese Stadt je wieder bewohnbar sein wird. Erinnerungen an das im Tschetschenienkrieg zerbombte Grosny werden wach, zumal sich auch im Fall Sirtes das Bild eines gnadenlosen Rachefeldzugs aufdrängt. Reuters berichtet von systematischer Zerstörung von Häusern, Geschäften und öffentlichen Gebäuden sowie Plünderungen durch Kämpfer des NTC. Dies bestätigen auch andere Quellen wie Associated Press, die von Kleinlastwagen voller Teppiche, Möbelstücke und Elektrogeräte berichten. Vor der Stadt habe man Konvois von nagelneuen BMWs und Toyotas gesehen, ja selbst die Ausstattung des Flughafens werde weggeschleppt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen geht davon aus, daß Tausende Menschen ohne jede Infrastruktur und ohne medizinische Versorgung in Sirte ausharren. Einwohner der Stadt werden mit den Worten zitiert, die Feinde Gaddafis seien gekommen, um alles zu zerstören. Was Sirte erlebe, sei keine Befreiung, sondern grausame Rache und kollektive Abstrafung aller Bewohner.

Auch in der von den Milizen des Übergangsrates eingenommenen Wüstenstadt Bani Walid zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Sieger feiern in einer entvölkerten Stadt, deren Bewohner größtenteils geflohen sind. Durch den Einsatz schwerer Artillerie und die Bombardements der Kampfflugzeuge wurden erhebliche Teile der Stadt zerstört. Durch die noch intakten Viertel ziehen Plünderer, die gefangene Schwarzafrikaner zwingen, die Häuser auszuräumen. Menschen aus Sudan, Tschad, Mali, Nigeria und Mauretanien werden von den Milizionären als angebliche Söldner Gaddafis gefangengenommen, mißhandelt und nicht selten getötet. [4] Welcher Rassismus sich im "befreiten" Libyen Bahn bricht, zeigt auch die vor dem Krieg von zehntausend Schwarzen bewohnte Stadt Tawarga, die heute geplündert und völlig zerstört ist. Wer von den Bewohnern nicht ermordet oder verschleppt wurde, befindet sich auf der Flucht.

US-Außenministerin Hillary Clinton, die als erstes hochrangiges Mitglied der Washingtoner Regierung seit dem Machtwechsel unter massiven Sicherheitsvorkehrungen das Land für wenige Stunden "besucht" hat, enttäuschte ihre Gastgeber. Die schon seit längerem bekannte Zusage in Höhe von 135 Millionen Dollar wurde von ihr nur unwesentlich aufgestockt, wobei mit 40 Millionen Dollar die größte Charge der Suche nach tragbaren Boden-Luft-Raketen gewidmet ist, die die NATO als einzige Bedrohung ihrer unumschränkten Lufthoheit zwangsläufig fürchtet. Nun beginne der schwierige Teil, ließ Clinton den Premierminister der sogenannten Übergangsregierung, Mahmoud Jibril, wissen. Leider lasse die Sparpolitik in Washington keine großzügigere Hilfe zu. Das ölreiche Libyen brauche ohnehin nicht so sehr Geld, als vielmehr Expertise, um Gesellschaft und Wirtschaft nach vier Jahrzehnten Gaddafi-Herrschaft wieder aufzubauen.

Dieser kaum zu überbietende Zynismus, die Zerstörungen im Zuge des Angriffskriegs Gaddafi anzulasten, wird allenfalls von der Kaltschnäuzigkeit übertroffen, mit der die Siegermächte nach ihrem Gutdünken über die im Ausland eingefrorenen libyschen Gelder verfügen. Der überwiegende Teil jener geschätzten 170 Milliarden Dollar ist ungeachtet aller Zusagen nach wie vor blockiert, und von den offiziell in Aussicht gestellten 15 Milliarden sind bislang erst 500 Millionen Dollar theoretisch und 130 Millionen praktisch freigesetzt worden. Nach Angaben der Übergangsregierung in Tripolis sind davon jedoch erst rund 12 Millionen Dollar tatsächlich angekommen. Angesichts der unerhörten Zerstörungen von Wohnraum und Infrastruktur wie auch der Flüchtlingsströme aus den verwüsteten Städten ist diese Summe eine Verhöhnung der Libyer, die den Versprechen der westlichen Mächte auf den Leim gegangen sind. Diese lassen sich ihre Kriegsführung von der libyschen Bevölkerung bezahlen, die damit einen Vorgeschmack auf die ihr zugedachte Zukunft als Protektorat imperialistischer Ausplünderung bekommt.

Fußnoten:

[1] http://www.stern.de/politik/ausland/-liveticker-zu-gaddafis-ende-gaddafis-leiche-ist-in-misrata-1741050.html

[2] http://www.jungewelt.de/2011/10-17/001.php

[3] http://www.wsws.org/articles/2011/oct2011/liby-o18.shtml

[4] http://www.neues-deutschland.de/artikel/209231.rauchende-ruinen-und-rachegelueste.html

20. Oktober 2011