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KRIEG/1534: Afghanistans Not - Zehn Jahre rot-grüne Kriegsbegeisterung (SB)



Vor genau zehn Jahren bejubelten die Fraktionen der SPD und der Grünen am 16. November 2001 im Bundestag mit stehenden Ovationen den deutschen Kriegseintritt in Afghanistan. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder der Regierung in Washington die "uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands zugesichert. Als die USA einen Monat später ihren Angriffskrieg gegen Afghanistan eröffneten, schlug auch in Berlin die Stunde der Entscheidung über eine Beteiligung an diesem Feldzug. Der Bundeskanzler war bereit, deutsche Truppen an den Hindukusch zu entsenden, was auch die Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP begrüßten. Da jedoch in der rot-grünen Koalition Kritiker ihre Stimme erhoben, verknüpfte der Regierungschef die Abstimmung mit einer Vertrauensfrage, um die Unterstützung in den eigenen Reihen zu erzwingen:

Die heutige Entscheidung über die Bereitstellung von Bundeswehreinsätzen im Kampf gegen den Terrorismus stellt sicher eine Zäsur dar. Erstmals zwingt uns die internationale Situation, zwingt uns die Kriegserklärung durch den Terrorismus dazu, Bundeswehreinheiten für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes bereitzustellen. [1]

Schröder war sich der historischen Dimension dieses Schrittes bewußt, die im Grundgesetz verankerte Beschränkung des Bundeswehreinsatzes auf die Landesverteidigung nach den Balkankriegen ein zweites Mal und diesmal endgültig auszuhebeln. Die Doktrin, eine potentielle oder reale Bedrohung durch den "internationalen Terrorismus" rechtfertige die Entuferung des Verteidigungsfalls, öffnete die Tür zu einer Legalisierung weltweiter Kriegsführung der Bundeswehr. Um Unwägbarkeiten bei der parlamentarischen Absegnung auszuschließen, die Regierungsparteien zur Räson zu bringen und ein starkes Zeichen für die unwiderrufliche Abkehr von der traditionellen außenpolitischen Grundhaltung in internationalen Konflikten zu setzen, bediente sich der Kanzler des Druckmittels der Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes, um für seine Regierungspolitik eine handlungsfähige Mehrheit zu erreichen.

Da die Opposition mit Ausnahme der PDS die Kriegsbeteiligung begrüßte, hätten die Gegenstimmen der rund 20 SPD-Abgeordneten und acht grünen Parlamentarier, die sich zunächst kritisch geäußert hatten, die Mehrheit für den Afghanistaneinsatz nicht gefährdet. Dem Kanzler ging es jedoch um mehr als die aktuelle Abstimmung. Er verpflichtete Rot-grün nicht nur zur Koalitionsdisziplin, sondern schwor beide Parteien darüber hinaus auf Kriegskurs ein. Schröder drängte Restbestände pazifistischer Gesinnung an den Rand und sorgte dafür, daß die Weichen für künftige Waffengänge gestellt wurden:

Für eine Entscheidung von solcher Tragweite, auch für daraus vielleicht noch folgende Beschlussfassungen des Deutschen Bundestags ist es nach meiner festen Überzeugung unabdingbar, dass der Bundeskanzler und die Bundesregierung sich auf eine Mehrheit in der sie tragenden Koalition stützen können.

Die PDS warf dem Bundeskanzler ein "Koalitionsmachtspiel" und "Nötigung des Parlaments" vor. CDU/CSU und FDP kritisierten die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einer konkreten Sachfrage als verfassungsrechtlich bedenklichen Vorgang und zogen ihre Zustimmung zurück. Nach mehrstündiger höchst kontrovers geführter Debatte im Bundestag verweigerte neben der Opposition nur noch eine Handvoll Abgeordnete von SPD und Grünen dem Kanzler die Gefolgschaft: Es stimmten 336 Abgeordnete für den Antrag, während sich 326 dagegen aussprachen. Der euphorisch gefeierte Abstimmungssieg der Koalitionäre glich einem Hurra aus voller Brust: Der Bann war gebrochen, man konnte endlich wieder deutsche Soldaten an ferne Fronten schicken.

Der zeitlich befristete Kampfeinsatz in Afghanistan wurde in der Folge vom Bundestag immer wieder problemlos verlängert, zuletzt Anfang dieses Jahres bis Ende 2012. Von einer begrenzten militärischen Operation ist nicht mehr die Rede, da man längst offen den Krieg bei seinem Namen nennt. Das ist auch dringend geboten, will man einerseits mit ungehemmter militärischer Wucht zuschlagen und andererseits die Frage nach den Kriegsfolgen für die Bevölkerung ausblenden. Solange fiktive Ziele wie Demokratie, Wohlstand und Wiederaufbau des Landes vorgehalten wurden, lag eine diesbezügliche Erfolgskontrolle nahe. Heute spricht man fast ausschließlich über die Sicherheitslage und streut allenfalls die obligatorische Behauptung ein, daß schon vieles für die Afghanen besser geworden sei.

Einer, der diese Propagandalüge entlarvt, ist der Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös, der seit Jahrzehnten mit den Verhältnissen im Land vertraut ist und heute im Gespräch mit dem Deutschlandradio ein düsteres Bild gezeichnet hat. [2] Wie er unter Berufung auf das United Nations Development Program (UNDP) berichtete, hat sich von einer privilegierten Minderheit in Kabul abgesehen für die breite Mehrheit der Bevölkerung die soziale und humanitäre Lage seit 2002 nicht verbessert, sondern seit fünf bis sechs Jahren deutlich verschlechtert. Ob Gesundheitswesen, Trinkwasserversorgung oder schulische Ausbildung, überall seien Rückschritte zu verzeichnen. Auch die Sicherheitslage sei trotz massiver Truppenaufstockung der NATO schlechter denn je: Im letzten Jahr verzeichneten die Besatzungsmächte 30 Prozent mehr tote Soldaten als 2009 und 60 Prozent mehr als 2008. Auch in der Zivilbevölkerung habe man nie zuvor so viele Tote wie 2010 gezählt. Letztes Jahr starben 346 afghanische Kinder bei Anschlägen und Angriffen, wovon 200 nach Erös' Worten der NATO anzulasten sind.

Umfragen in den letzten Monaten, darunter auch eine der Konrad-Adenauer-Stiftung, haben gezeigt, daß drei Viertel der afghanischen Bevölkerung den sofortigen Abzug der ausländischen Besatzer befürworten. Im Paschtunengebiet Südostafghanistans, wo die Amerikaner Krieg führen, gelten laut Erös für alle Menschen vom einfachen Bauern bis hinauf bis zum Regierungspräsidenten die Ausländer als Besatzer, die das Land verlassen müssen. Das treffe bei den Paschtunenstämmen im Süden des Landes, die die Hälfte der afghanischen Bevölkerung und fast alle Aufständischen repräsentieren, zu über 90 Prozent zu. Ohne einen erkennbaren Abzug der Besatzungstruppen werde es in Afghanistan keinen Frieden geben.

Nur eine Minderheit von Profiteuren ausländischer Truppenpräsenz befürwortet demnach deren Fortsetzung. Geschätzte fünf bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, die sich durch die Anwesenheit der Militärs und Hilfsorganisationen die Taschen füllen, wünschten, daß die Ausländer und deren Geld möglichst lange im Land bleiben. Man gehe davon aus, daß 50 bis 60 Prozent aller Gelder, die westlicherseits nach Afghanistan gepumpt wurden, in private Taschen von Kriegsherrn, Politikern und Unternehmern flossen. Sie hätten größtes Interesse daran, daß diese Geldquelle nicht versiegt.

Auf der Loja Dschirga, die heute begonnen hat, geht es um die künftige Zusammenarbeit Afghanistans mit den USA und insbesondere um mögliche US-Stützpunkte, die auch nach dem Abzug der Kampftruppen im Land bleiben können. Als nicht annähernd geklärt gelten Kompetenz und Einfluß der "großen Ratsversammlung" im Verhältnis zu Parlament und Regierung. Reinhard Erös sprach aufklärende Worte über diese nahezu tausend Jahre alte Tradition, die er als keineswegs undemokratisch bezeichnete, wobei er einräumte, daß Frauen wie fast überall in der öffentlichen afghanischen Gesellschaft nicht vertreten sind. Als bemerkenswert hob er an der Loja Dschirga hervor, daß jeder mitsprechen dürfe, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden seien.

Vom prinzipiellen Konsensmodell der Versammlung abgesehen stellt sich natürlich die Frage nach deren Legitimation auch im traditionellen Sinn, da ihre Zusammensetzung maßgeblich von der Regierung Präsident Hamid Karsais beeinflußt ist und die Aufständischen sie ablehnen und sogar bekämpfen. Karsai bedient sich der Loja Dschirga, um seine Interessen mit dem angeblichen Willen des Volkes zu unterfüttern, während er sich zugleich vorbehält, unerwünschte Beschlüsse der Versammlung zu übergehen, indem er die Kompetenz des Parlaments vorhält. Die Verhandlungen über ein Abkommen mit den USA sollten eigentlich bereits vor der Loja Dschirga abgeschlossen sein. Inzwischen gilt jedoch als unwahrscheinlich, daß ein Entwurf bis zur Afghanistan-Konferenz in Bonn in knapp drei Wochen fertig ausgehandelt sein wird.

Karsais Rolle als Marionette der Besatzungsmächte ist ambivalent wie eh und je: Ohne sie ist sein politisches und möglicherweise auch persönliches Schicksal besiegelt, was um so mehr gilt, wenn er sich als bloßer Lakai der westlichen Mächte präsentiert. Während er ein Ende der nächtlichen Angriffe ausländischer Spezialkräfte zur Vorbedingung für eine strategische Partnerschaft mit den USA macht und verlangt, daß fremde Truppen künftig keine Gefangenen mehr nehmen, sondern sie an einheimische Gefängnisse überstellen sollen, drängt er zugleich auf ein Votum für das Abkommen mit Washington. Die Kabuler Regierung hat bereits eine strategische Partnerschaft mit Indien vereinbart, entsprechende Abkommen mit den USA, Frankreich, Britannien, der EU und der NATO sollen folgen. [3] Während Karsai offensichtlich hofft, durch eine möglichst breite Absicherung seine Position zu stärken, richtet er sich doch eindeutig auf den fortgesetzten Schulterschluß mit den westlichen Mächten und eine Dauerpräsenz US-amerikanischer Streitkräfte aus.

Eben diese Präsenz geht jedoch mit einer mehr oder minder akuten Bedrohung der Nachbarländer einher, die ein langfristiges Engagement der USA aus guten Gründen ablehnen. Der Iran wird vom Irak und von Afghanistan in die Zange genommen, Pakistan fürchtet eine militärische Intervention. Rußland und China sind als mittelfristige strategische Angriffsziele Washingtons und seiner Verbündeten nicht daran interessiert, daß die USA an ihren Landesgrenzen Militärbasen unterhalten. Was immer Karsai den Nachbarn versichert, wird durch seinen Pakt mit den Amerikanern zunichte gemacht. Das ist die hochbrisante Gemengelage, in der Deutschland in vorderster Front mitmischt. Kannte der rot-grüne Kriegsjubel vor zehn Jahren keine Grenzen, so zeichnen sich heute die verheerenden Konsequenzen des Besatzungsregimes für die afghanische Bevölkerung unmißverständlich ab. Unwissenheit kann nicht mehr geltend gemacht werden, was nur den Schluß zuläßt, daß dieser Preis für die Durchsetzung deutscher Interessen durchaus erwünscht ist.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kalenderblatt/1605234/

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1605596/

[3] http://www.stern.de/politik/karsai-stellt-usa-bedingungen-1751690.html

[4] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15531265,00.html

16. November 2011