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KRIEG/1666: Rückführung der Flüchtlinge in den Kessel Afghanistan (SB)



"Ein gemeinsamer Weg nach vorne" - mit diesem Titel ist ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan überschrieben, das die erzwungene Rückkehr afghanischer Flüchtlinge in das Kriegsgebiet am Hindukusch, aus dem sie geflohen sind, besiegelt. In diesem Papier, das kurz vor der Afghanistankonferenz in Brüssel unterzeichnet wurde, verpflichtet sich die Regierung in Kabul dazu, all jene zurückzunehmen, die kein Asyl in Europa bekommen. Da sich die Lage in Afghanistan in den letzten Monaten extrem verschlechtert hat, schicken die europäischen Staaten also sehenden Auges Menschen in ein Krisengebiet zurück. Damit wollen die Bundesregierung, die schon zuvor ein Rückführungsabkommen mit Kabul geschlossen hatte, und die EU zum einen Flüchtlinge massenhaft loswerden, zum anderen Menschen aus Afghanistan signalisieren, was ihnen blüht, sollten sie es dennoch wagen, in Richtung Europa aufzubrechen.

Das auf der Afghanistankonferenz beschlossene Milliardenprogramm ist eine so offensichtliche Erpressung, daß die Beteuerung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, die Zusagen seien nicht an Bedingungen geknüpft, wie blanker Hohn klingt. Zweifellos geht es darum, die afghanische Regierung in der Frage der Flüchtlingspolitik gefügig zu machen und den europäischen Interessen zu unterwerfen. Daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den mehr als 15 Milliarden Dollar, die Afghanistan in den nächsten vier Jahren bekommen soll, und der Rücknahme von Flüchtlingen besteht, machte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit den Worten deutlich, "dass wir ebenso erwarten, dass in Fragen der Migration und der Rückübernahme faire Zusammenarbeit mit uns stattfindet". [1]

Die Afghanistanhilfen seien eine Investition in "etwas, von dem alle glauben, dass es ein glückliches Ende finden könne", garnierte die EU-Außenbeauftragte absolute Ungewißheit, wie das nach so vielen Jahren gescheiterter Afghanistanpolitik funktionieren soll, mit dreistem Optimismus. Wenn die EU versichert, daß die Vereinbarung auch im Interesse Afghanistans sei, das ja die Abwanderung von "immer mehr jungen, klugen Menschen" zu verkraften habe, mutet der selektierende Blick auf das sogenannte Humankapital doppelt zynisch an: Was Europa nicht brauchen kann, wird in Armut und Kriegsgefahr zurückgeschickt, als könne es sich dort zum Wohle des Landes am besten entfalten, wo seine Entwicklungsmöglichkeiten, wenn nicht gar die schieren Überlebenschancen, am massivsten beschnitten werden.

Für die Bundesregierung und die EU genießt die Regulierung der "Flüchtlingskrise" höchste Priorität, womit nicht die existenzielle Bedrohung der fliehenden Menschen, sondern im Gegenteil deren vorgelagerte Abwehr möglichst bereits in den Herkunftsländern oder deren Umfeld adressiert wird. Wo von einer Bekämpfung der Fluchtursachen die Rede ist, geht es am allerwenigsten um das Handelsregime und die militärische Aggression, mit denen die westlichen Industriestaaten eben jene Regionen überziehen, aus denen die Menschen daraufhin massenhaft flüchten müssen. Es geht vielmehr um die Einschränkung der Fluchtmöglichkeiten weit vor der Festung Europa mit finanziellen, administrativen, polizeilichen und militärischen Mitteln.

Daß ausgerechnet Afghanistan ein sicheres Herkunftsland sein soll, in dem Menschen keine hinreichenden Fluchtgründe hätten, die Gnade in den Augen der EU fänden, unterstreicht die Skrupellosigkeit hiesiger Flüchtlingspolitik. Die zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, das Land könne sich stabilisieren, so daß die Menschen dort eine Bleibeperspektive hätten, steht in krassestem Widerspruch zur allseits bekannten Sicherheitslage: Diese ist so prekär, daß sich westliche Organisationen kaum mehr aus ihren bewachten Gebäuden heraustrauen und selbst die Bundeswehr allenfalls in gepanzerten Konvois ihre Einigelung im hoch gesicherten Feldlager kurzfristig verläßt, ansonsten aber den Luftweg vorzieht.

Wenngleich die Bundeswehr ihren Kampfeinsatz in Afghanistan Ende 2014 beendet hat, sind noch immer deutsche Soldaten als Ausbilder und Berater am Hindukusch im Einsatz. Ein Beispiel dafür ist das Medienzentrum "Stimme des Nordens" in Mazar-i-Sharif, das von Deutschland mit jährlich 1,6 Millionen Euro finanziert wird. Dort sind sieben Soldaten aus der sogenannten "Operativen Kommunikation" der Bundeswehr im Einsatz, um 65 zivile afghanische Mitarbeiter zu beraten. Der "Kampf um die Herzen und Köpfe der Zivilbevölkerung" soll über die Medien geführt und gewonnen werden. Videoclips, Radiosendungen, Fernsehwerbespots, Facebook, twitter, abgeworfene Handzettel und eine monatliche Truppenzeitschrift kommen zum Einsatz, um die Wahrnehmung der Bevölkerung zu beeinflussen.

"Wenn die Taliban eine Provinz erobern wollen, dann ermutigen wir die Bevölkerung, ihre Heimat nicht zu verlassen, weil sie den afghanischen Sicherheitskräften vertrauen können. Wir sagen den Menschen, dass unsere Sicherheitskräfte in der Lage sind, für Sicherheit zu sorgen. Wir werben um Vertrauen", so eine Mitarbeiterin des Medienzentrums. In den vergangenen Tagen sind jedoch nach UN-Angaben rund 25.000 Menschen vor den Kämpfen in der benachbarten Provinzhauptstadt Kundus geflohen, und die Taliban haben ihren dortigen Angriff in Echtzeit getwittert: Sie machten sich lustig über die afghanische Regierung, ihre Soldaten und ihre ausländischen Partner.

Wie glaubwürdig soll eine westlich gesteuerte Medienkampagne sein, die Schutz verspricht, der offensichtlich nicht existiert, und von Akteuren getragen wird, die sich selber nicht auf die Straße trauen können, während Trupps der Taliban zeitweise durch das Zentrum von Kundus gezogen sind? Uralte Feindschaften, interne Machtkämpfe und Korruption in den Reihen der fragilen Sicherheitskräfte wie auch deren Übergriffe gegen die Bevölkerung will die "Stimme des Nordens" keinesfalls thematisieren: "Unser gemeinsames Ziel ist klar. Wir wollen die Moral und das Vertrauen der Bevölkerung stärken. Es würde unserem Ziel widersprechen, wenn wir schlechte Nachrichten veröffentlichen. Wir sind dabei, ein Haus zu bauen. Wir versuchen, den Bau zu erleichtern. Selbst wenn unser Haus zusammenbricht, geben wir nicht auf. Wir fangen von vorne an, weil es unser Haus ist." [2] Man mag das mutig nennen oder sich eher an die Propaganda vom Endsieg eines untergehenden Regimes erinnert fühlen - in jedem Fall mutet die Ausblendung der offensichtlichen und der Bevölkerung sattsam bekannten Verhältnisse so gespenstisch an wie die Botschaften Federica Mogherinis.

"Beim NATO-Gipfel im Juli haben wir beschlossen, unsere Trainings-, Ausbildungs- und Beratungs-Mission in Afghanistan fortzusetzen. Wir werden mit rund 13.000 Soldaten im Land bleiben", erklärte vor wenigen Tagen NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Die Okkupation wird auf unabsehbare Zeit verlängert, die Regierung in Kabul wäre ohne fortgesetzte westliche Alimentierung nicht überlebensfähig, und die seit Jahren angekündigte Übergabe des Sicherheitsregimes an die afghanische Armee und Polizei erweist sich mehr denn je als pure Fiktion. Hohe Verluste, desertierende Soldaten und eine Infiltrierung durch die Taliban in einem Umfeld sich bereichernder Eliten, rivalisierender Fraktionen und einer von westlichen Geldflüssen befeuerten Schattenwirtschaft zersetzen die Streitkräfte schneller, als sie aufgebaut und stabilisiert werden können. Die Lebensverhältnisse im Land sind schlechter denn je, die Hauptstadt Kabul gleicht in weiten Teilen einem riesigen Elendsquartier ohne jede Versorgung und Infrastruktur.

Das "glückliche Ende", von dem die EU-Außenbeauftragte Mogherini schwadroniert, ist nicht in Sicht. Voraussetzung dafür wären, darin dürften inzwischen alle halbwegs kompetenten Experten übereinstimmen, substantielle Friedensgespräche mit den Taliban. Deren Kernforderung, daß zuvor alle westlichen Streitkräfte abziehen müßten, wollen die Besatzungsmächte jedoch keinesfalls erfüllen. Folglich wird der Krieg solange weitergehen, bis die Taliban geschlagen oder die NATO-Mächte zum Abzug gezwungen sind. Da ersteres nahezu auszuschließen ist und die NATO längst andere Schlachtfelder fokussiert, droht Afghanistan immer tiefer in der verschleppten militärischen Niederlage der Okkupationstruppen und ihres einheimischen Kanonenfutters zu versinken. In diesen Kessel des permanenten Krieges treiben Bundesregierung und EU nun auch noch die "illegalen" afghanischen Flüchtlinge zurück.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-eu-treibt-abschiebungsplaene-voran.1773.de.html?

[2] http://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-der-andere-kampf-der-bundeswehr.1773.de.html?

16. Oktober 2016


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