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KRIEG/1689: Ratio der Lemminge - Krieg löst alle Probleme (SB)



Dürren und Fluten, Hungersnöte und Flüchtlingsströme, Ressourcenmangel und Verteilungskämpfe, Wirtschaftskrisen und Elend - die Menschheit sieht sich mit nicht zuletzt selbst geschaffenen Katastrophenszenarien konfrontiert, die auch nur zur mildern selbst ihre vereinten Mittel und Anstrengungen zu überfordern drohten. Die alles beherrschende Ratio scheint jedoch eine ganz andere zu sein: Den Zug der Lemminge noch zu beschleunigen, denn wo Millionen in den Abgrund stürzen, müssen doch einige zurückgeblieben sein und überlebt haben. Soziale Grausamkeiten, Sicherheitsstaat und Ausnahmezustand, Sparregime auf Diktat der Gläubiger, Abwehr der Geflohenen weit vor der Festung Europa, Krieg und nochmal Krieg an allen Fronten - die Liste ziviler und militärischer Waffengänge gegen die eigene Spezies wie auch alle anderen ließe sich lange fortsetzen.

Das freut Jens Stoltenberg, der als Generalsekretär der NATO das mächtigste und aggressivste Militärbündnis weltweit auf einem guten Weg sieht: Massiv aufrüstend, zusammenrückend, vielerorts einsatzbereit. Wie er beim Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel zufrieden Bilanz zog, stiegen die Verteidigungsausgaben der europäischen Verbündeten und Kanadas das dritte Jahr in Folge an. Nach Zuwächsen von 1,8 Prozent (2015) und 3,3 Prozent (2016) sei dies ein Anstieg um 4,3 Prozent (2017), so Stoltenberg. [1] Dieser Anstieg um insgesamt 46 Milliarden Euro seit 2015 belege, daß der Beschluß aus dem Jahr 2014, die Militärausgaben innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, ernst genommen werde. Nach Jahren des Rückgangs habe sich grundsätzlich etwas verändert. Der Trend weise nach oben, und dabei solle es auch bleiben, so der Generalsekretär. [2]

Daß die Bundesrepublik nicht zurücksteht, sondern ihren Führungsanspruch auch auf bellizistische Weise mit Nachdruck geltend macht, hatte die deutsche Kriegsministerin Ursula von der Leyen bereits am Vortag bei einem Treffen mit ihrem US-amerikanischen Amtskollegen James Mattis in Garmisch-Partenkirchen unterstrichen. Sie bekannte sich zum Zwei-Prozent-Ziel und versicherte, Deutschland sei bereit, seine Kräfte zu stärken und Verläßlichkeit zu zeigen. Das Kabinett legte zeitgleich einen Finanzplan vor, dem zufolge der deutsche Militärhaushalt im Jahr 2018 um 1,6 Milliarden Euro auf rund 38,5 Milliarden Euro erhöht werden soll. Bis 2021 sollen die Verteidigungsausgaben auf 42,4 Milliarden Euro steigen. Damit werde die Trendwende bei Personal und Beschaffung der Bundeswehr fortgeführt, so die Ministerin. [3] Das Verteidigungsministerium arbeitet zudem daran, die Bundeswehr als sogenannte "Ankerarmee" für europäische NATO-Staaten zu etablieren, diese hochzurüsten und schrittweise in die Kommandostrukturen der Bundeswehr zu integrieren. Die niederländischen Streitkräfte haben dies bereits für zwei Drittel ihrer Heeresverbände vollzogen. Im Februar unterzeichneten Deutschland, Tschechien und Rumänien Kooperationsvereinbarungen für eine engere Zusammenarbeit ihrer Armeen und vor wenigen Tagen beschloß das Bundeskabinett eine Kooperation mit Norwegen beim Bau neuer U-Boote. [4]

Wenngleich Washington seit Jahren steigenden Druck auf Kanada und die europäischen Mitglieder des Nordatlantikpaktes ausübt, ihre Militärausgaben zu erhöhen, trifft diese Forderung längst auf mehr als nur offene Ohren. So deutete Stoltenberg an, daß die europäischen Mächte zunehmend ihre eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen verfolgen: "Ich begrüße die starke Ausrichtung von Präsident Trump auf Verteidigungsausgaben und Lastenteilung", erklärte er. Es könne jedoch nicht allein darum gehen, "den Vereinigten Staaten einen Gefallen zu tun", vielmehr lägen entsprechende Anstrengungen im Eigeninteresse der Bündnispartner.

Die Verteidigungsminister berieten denn auch den Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO. So sollen die offiziell neutralen EU-Staaten Österreich, Irland, Schweden und Finnland enger an die NATO heranrücken. Wie von deutscher Seite hervorgehoben wurde, seien die in den drei baltischen Staaten und Polen stationierten Kampfeinheiten einsatzbereit. Das von Deutschland geführte Bataillon in Litauen und das britisch-französische Bataillon in Estland gelten als Beispiele für die gelungene Kooperation europäischer Streitkräfte, die zwar unter der Flagge der NATO firmiert, aber dennoch eigenständig gegenüber den USA auftritt. Vier multinationale Kampfverbände der NATO mit insgesamt 4000 Soldatinnen und Soldaten sind inzwischen in den Staaten des Baltikums und Polen voll einsatzfähig, dazu kommen Verbände der einzelnen Staaten und die bedeutende US-Präsenz aufgrund von bilateralen Abmachungen. Daß die USA ihre Anwesenheit in den baltischen Ländern verstärkt haben, wertet Stoltenberg als das stärkste Zeichen der Solidarität und ein klares Bekenntnis Washingtons zu Artikel 5. Taten sprächen lauter als Worte, spielte der Generalsekretär wohl auf das unterbliebene Bekenntnis Donald Trumps beim NATO-Gipfel Anfang Mai an.

Rußlands NATO-Botschafter Alexander Gruschko brachte die Sorge seines Landes mit dem Hinweis zum Ausdruck, daß allein die Verteidigungsausgaben der Europäer in der Summe bereits viermal höher als das russische Budget seien. Er sehe einen sehr gefährlichen Trend zu einer Militarisierung der internationalen Beziehungen, der zu einem neuen Rüstungswettlauf führen könnte. Mit der Stationierung von Kampftruppen in Osteuropa schaffe die NATO eine neue Sicherheitslage, die Moskau nicht ignorieren könne und auf die man mit eigenen militärischen Mitteln antworten werde. Rußland habe klar seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, mit allen zu kooperieren, die zum gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus beitragen wollen. Es sei schließlich ein gemeinsames Ziel, den Islamischen Staat in Syrien und im Irak zu besiegen.

Obgleich sich die NATO darauf verständigt hat, Teil der Koalition gegen den IS zu werden, geht es ihr in erster Linie um den Regimewechsel in Damaskus. Ihre Intervention in Syrien und im Irak ist dem umfassenden Kampf um die Neuaufteilung des rohstoffreichen Nahen und Mittleren Ostens geschuldet, der die gesamte Region mit einem Flächenbrand überzieht und auch die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten verschärft. Wohin das führt, zeigt die desaströse Entwicklung in Afghanistan. Fast 16 Jahre nach Beginn der aktuellen Militärintervention ist ein Ende des Krieges weniger denn je in Sicht. Nachdem die NATO 2014 ihren Kampfeinsatz für beendet erklärt hat und seither nach offizieller Version afghanische Soldaten für die Aufstandsbekämpfung ausbildet, soll nun die Obergrenze der Besatzungstruppen von rund 13.500 auf etwa 15.800 aufgestockt werden. Deutschland ist nach den USA und Italien der größte Truppensteller in Afghanistan und hat bereits im vergangenen Jahr mehr Soldaten an den Hindukusch geschickt, wo die Bundeswehr derzeit 974 Soldaten stationiert hat, nur sechs weniger als die parlamentarisch gebilligte Zahl.

Laut Stoltenberg werde man vor allem die Ausbildung afghanischer Spezialkräfte, die Entwicklung der Luftwaffe und die Offiziersausbildung fördern. 15 Staaten hätten bereits Verstärkung zugesagt, weitere würden nachziehen. Ziel sei es, die afghanischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, "das Patt zu beenden und Fortschritte auf dem Schlachtfeld zu ermöglichen". Es gebe "einen engen Zusammenhang zwischen dem Geschehen auf dem Schlachtfeld und der Möglichkeit, eine politische Lösung zu erreichen". Warum dieser seit 16 Jahren verfolgte Ansatz bislang gescheitert ist und ob mit seiner letztendlichen Umsetzung erst im Jahr 2033 zu rechnen sei, führte der NATO-Generalsekretär nicht aus. Präziser hatte es da schon George W. Bush ausgedrückt, als er der Welt seinerzeit einen "Antiterrorkrieg" ohne absehbares Ende ankündigte und den Angriff auf Afghanistan befahl.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/313351.wölfe-auf-der-lauer.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/verteidigungsminister-treffen-in-bruessel-wer-bringt-welche.1773.de.html

[3] https://www.wsws.org/de/articles/2017/06/30/nato-j30.html

[4] https://www.wsws.org/de/articles/2017/06/24/euro-j24.html

30. Juni 2017


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