Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1764: Europa - für mehr Einfluß in der Welt ... (SB)



Deshalb kritisiere ich diejenigen in Deutschland, die traumtänzerisch eine Welt ohne Konflikte und ein Deutschland ohne Militär fordern und dabei die Ängste unserer Nachbarn - Polen und Balten - komplett ausblenden. Ich bin sehr für Abrüstung, aber bitte nicht einseitig. Helmut Schmidt würde sich im Grabe rumdrehen. Ohne ein Mindestmaß an politisch-militärischer Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU und auch der Bundesrepublik Deutschland wird es nichts werden mit der Wahrung unserer Interessen, egal ob beim Thema Flüchtlingsströme, Russland oder bei Friedensbemühungen im Nahen Osten.
Wolfgang Ischinger im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz [1]

Wenige Tage vor der Münchner Sicherheitskonferenz hat deren Chef Wolfgang Ischinger seine alljährliche Botschaft unters Volk gebracht, Deutschland müsse wieder eine wichtigere Rolle in der Welt spielen und zu diesem Zweck endlich kräftig aufrüsten. Insofern wiederholt er nur das, was er seit langem predigt, wenngleich sein Ton noch klagender und vorwurfsvoller als im vergangenen Jahr geworden ist. Als Gauck 2014 in München die pastoral-präsidiale Losung verkündigte, Deutschland sei bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, geschah das mit breiter Brust und wurde als Fanal des Aufbruchs verstanden, den militärischen Ambitionen freien Lauf zu lassen. Was mit deutscher Gründlichkeit akribisch vorgedacht und vorgeplant war, erwies sich jedoch als strategischer Entwurf eines Vormachtstrebens, dessen Umsetzung an den in der Folge eskalierenden weltweiten Krisen und internationalen Verwerfungen wenn nicht zu scheitern drohte, so doch massiv ausgebremst wurde.

Er sei "zutiefst aufgewühlt über das Versagen, soweit das Auge reicht", empört sich Ischinger. "Wieso sind wir eigentlich so unfähig? So total unfähig?" Die Welt sei gefährlicher geworden: "Wir haben mehr Krisen und mehr schlimme Krisen, mehr grauenhafte Vorgänge, als man sich das eigentlich vorstellen kann." Ischinger kritisiert das "unverzeihliche Versagen der internationalen Staatengemeinschaft in Sachen Syrien", das sich nun in Idlib zeige. Die EU habe in neun Jahren "keinen einzigen Versuch" unternommen, die beteiligten Seiten an einen Tisch zu bringen und einen Friedensprozeß zu starten. Dies sei eine "Verantwortungslosigkeit erster Klasse der Europäischen Union und all ihrer Mitgliedsstaaten". [2]

Aber auch Libyen bleibe eine offene Wunde. Wenn er an die nicht umgesetzten Beschlüsse der Berliner Libyen-Konferenz Mitte Januar denke, dann werde ihm schlecht. Trotz der dabei eingegangenen Verpflichtungen, die libyschen Konfliktparteien nicht weiter zu unterstützen und das Waffenembargo einzuhalten, würden nach UN-Angaben weiter Waffen in das Bürgerkriegsland geliefert. Er werde alles tun, damit die Politiker in München Rede und Antwort stehen, warum es nicht möglich sei, solche Zustände in der europäischen Nachbarschaft zu verhindern. "Wer versagt denn hier eigentlich? Und wessen Verantwortung ist das?" [3]

Wäre es Ischinger mit diesen Fragen ernst, müßte er jene Staaten beim Namen nennen, die durch ihren Angriffskrieg gegen Libyen und den Sturz Gaddafis die verheerenden Zustände herbeigeführt haben, die er heute bitter beklagt. Sein Lamento gilt vielmehr dem Umstand, daß die europäischen Aggressoren nicht entschiedener nachgelegt haben, um das Feld "in der Nachbarschaft" zu beherrschen. Auch die Bundesrepublik hat seines Erachtens in Afrika und im Nahen Osten den Zugriff vermissen lassen, der erforderlich wäre, um sich in diesen Regionen als Führungsmacht zu etablieren, wie es im Strategiepapier "Neue Macht. Neue Verantwortung" längst konzeptionell vorweggenommen ist.

Ischinger hält den öffentlich wenig kritisierten Einsatz der Bundeswehr in Mali und die Unterstützung der kurdischen Peshmerga im Irak für erfreuliche Schritte, die aber bei weitem nicht ausreichten. Die Diskussion gehe zwar "in die richtige Richtung", aber nicht schnell und nicht weit genug. Besonders bedauert der ehemalige Diplomat, daß in manchen Teilen der politischen Debatte die Figur, mehr Verantwortung zu übernehmen, nichts weiter als eine "völlig leere Worthülse" sei. Bei der Frage, was genau Deutschland gemeinsam mit Partnern aus EU und NATO tun könne, geht es laut Ischinger "nicht ums Philosophieren und ums so tun als ob", sondern vielmehr um "konkrete Entscheidungen". Explizit kritisiert er, daß die Bundesrepublik noch weit davon entfernt sei, ihre eigene Selbstverpflichtung zu erfüllen, bis 2024 zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu stecken, wie es der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim NATO-Gipfel in Wales vor sechs Jahren zugesagt hatte. "Das ist zum Beispiel nicht toll", rügt Ischinger, und er könne noch weitere Beispiele nennen.

Grundsätzlich ruft er die Deutschen und ihre europäischen Partner dazu auf, die gesamte Palette der Interventionsmittel zu nutzen. "Wer glaubt, dass der Instrumentenkasten internationaler Krisendiplomatie militärische Mittel nicht umfassen sollte", der verstehe von diesem Thema nichts. Dann könne man gleich nach Hause gehen, da Beschwörungsformeln allein nichts nützten. Vielmehr müsse man die Streitparteien an einen Tisch zwingen können, da es in vielen Fällen bei internationalen Konflikten erst zu einer diplomatischen Lösung komme, wenn beide Seiten wüßten, daß sie militärisch nichts mehr zu gewinnen haben. Ischingers Doktrin der Krisendiplomatie und Friedensbemühungen gründet auf eigener militärischer Stärke, läuft in der Konsequenz also auf Kriegsdrohung oder Kriegsführung hinaus, die eine Übereinkunft der Konfliktparteien erzwingt, die der Interessenlage der Bundesrepublik entspricht. Aus seinem Munde ist das keine Machtpolitik, die er verbrämt bis offen Rußland und China zuschreibt, während er der EU gute Absichten, aber mangelnde Einigkeit attestiert.

Er kritisiert deutsche Politiker, die über eine europäische Armee "fantasierten", da diese erst Sinn machen würde, wenn die EU geschlossen agiert. Diese müsse lernen, konsequent mit einer Stimme zu sprechen: "Wenn wir nicht schneller, klarer und mutiger bei außenpolitischen Entscheidungen werden, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir bei Konflikten in unserer Nachbarschaft machtlos aussehen. Solange wir die Kakophonie von siebenundzwanzig möglichen Vetos bei jeder außenpolitischen Entscheidung haben, würde ich als Schwabe sagen: Da ist Hopfen und Malz verloren." Ischinger schwört auf die Formel, daß Einigkeit nur herbeizuführen sei, indem das Prinzip der Einstimmigkeit zugunsten von Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene entsorgt wird. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch Manfred Weber, Sigmar Gabriel und Außenminister Heiko Maas hätten sich dafür ausgesprochen: "Warum legt die große Koalition denn dann keinen Plan dafür in Brüssel vor?" [4]

Wenngleich Ischinger vorausschickt, daß der Vertrauensverlust in der internationalen Politik in alle Richtungen gelte, deutet er doch in den dafür gewählten Beispielen allenthalben an, wie die Zweifel seines Erachtens zu gewichten sind. Die NATO verliere das Vertrauen in Rußland, weil Verträge etwa bei nuklearer Rüstungskontrolle nicht verläßlich eingehalten werden oder wegen der Ukraine. Umgekehrt zweifle Rußland am guten Willen des Westens. Demnach hält also Moskau Abkommen nicht ein, während der Westen guten Willens ist, was aber Putin in Abrede stellt? Auch gebe es "Sorgen angesichts angeblicher russischer militärstrategischer Überlegungen, im Falle eines Konflikts sehr frühzeitig Atomwaffen einzusetzen, um dem Gegner gleich zu Anfang den Schneid abzukaufen". Daß US-Militärs seit Jahrzehnten laut über einen begrenzten Atomkrieg und einen erfolgreichen Erstschlag nachdenken, erwähnt Ischinger nicht. Auch das Vertrauen in China sinke, weil es im Zuge seines Aufstiegs "nicht zum Stakeholder des liberalen internationalen Systems" geworden ist, "wie wir alle gehofft hatten", sondern sich in seine eigene Richtung, eher weg vom Westen entwickelt. "Das alles hat Folgen für unsere Sicherheit."

Was Putin betrifft, habe dieser seit seiner "Brandrede" auf der Sicherheitskonferenz 2007 getan, was er sich vorgenommen hat: dem aus seiner Sicht unverantwortlich vorgehenden Westen einen Riegel vorzuschieben, indem er die russische Fähigkeit, eigene Interessen durchzusetzen, nachhaltig stärkt. Rußland setze sich, "egal wie hoch der moralische Preis ist", gegen Regimewechsel ein. Putin stütze "sogar das syrische Regime" und möchte verhindern, daß der Westen wie etwa 2011 in Libyen die strategische Landschaft zu Lasten Rußlands verändert. Diese Außenpolitik sei insoweit durchaus erfolgreich gewesen.

Warum sollte die EU überhaupt Angst vor Rußland haben, wo sie doch ökonomisch siebenmal so stark ist und die militärische Stärke ihrer Mitglieder die russische weit übertrifft? Auch an dieser Stelle ist Ischinger um eine Ausflucht nicht verlegen, indem er die russische Außen- und Verteidigungspolitik als hocheffektiv ausweist, weil sie von einer einzigen Person gesteuert werde und den ganzen diplomatischen und politisch-ökonomischen Instrumentenkasten einschließlich militärischer Mittel umfasse. Hingegen gebe die EU zwar für Verteidigung ein Mehrfaches des russischen Budgets aus, tue dies aber außerordentlich ineffektiv, da sich die EU-Staaten zu viele verschiedene Waffensysteme leisteten, statt ihre Kräfte zu bündeln. Ob er eine autokratische Staatsführung, wie er sie Putin attestiert, am Ende insgeheim sogar für die beste Lösung hält, läßt uns Ischinger natürlich nicht wissen, wenn er zum sicherheitspolitischen Höhenflug ansetzt.

Eines aber schickt er warnend voraus, als wolle er FFF und Konsorten - nur für den Fall der Fälle - präventiv das Wasser abgraben. Selbstverständlich werde auch die Klimapolitik in München Raum einnehmen, doch wäre es ein "Granaten-Fehler" und ein "Verbrechen", so zu tun, als sei dies das einzige sicherheitspolitische Thema, wo es doch so viele andere Krisenherde gebe. Die drei Tage für die Konferenz seien ohnehin zu wenig, schließlich finden nicht nur öffentliche Vorträge und Diskussionen, sondern auch Gespräche in Hinterzimmern statt, bei denen sich politische Gegner austauschen können. Wenngleich niemand behauptet hat, daß die Klimakatastrophe der einzige Krisenherd sei, lektioniert Ischinger die Klimagerechtigkeitsbewegung, daß sie im Dunstkreis des Hotels Bayerischer Hof nichts zu suchen hat, wenn dort die 56. Münchner Sicherheitskonferenz mit ihren mehr als 800 hochrangigen Teilnehmenden residiert.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/wolfgang-ischinger-ueber-einseitige-abruestung-helmut-schmidt-wuerde-sich-im-grabe-umdrehen/25524518.html

[2] www.welt.de/newsticker/news1/article205739599/Sicherheit-Ischinger-wirft-Staatengemeinschaft-unverzeihliches-Versagen-in-Syrien-vor.html

[3] www.n-tv.de/politik/Ischingers-Klage-und-das-grosse-Versagen-article21567141.html

[4] www.zeit.de/politik/ausland/2020-02/wolfgang-ischinger-eu-einstimmigkeitsprinzip-reform

12. Februar 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang