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KRIEG/1768: Syrien - Eroberungsvorwände für Erdogan ... (SB)



Sevim Dagdelen kritisierte es als "verheerend einseitig, wenn Bundesaußenminister Heiko Maas und seine Kollegen weder die völkerrechtswidrige Militärpräsenz der Türkei noch die Al-Qaida-Terrorgruppen in Idlib namentlich kritisieren". Dagdelen schloss sich der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand an. Leider richte er sich nicht konkret auch an die Türkei und die mit ihr verbündeten islamistischen Terrorgruppen. Die Türkei halte illegal Gebiete im Norden Syriens besetzt und unterlaufe mit ihrer Unterstützung für die Al-Qaida-Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Vereinbarungen von Astana.
Stellungnahme zum Appell von 14 EU-Außenministern zu Idlib [1]

Wie die Außenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag zu Recht kritisiert, richtet sich der Aufruf der EU-Außenminister ausschließlich an "das syrische Regime und seine Unterstützer", die Offensive in Idlib zu beenden und den im Herbst 2018 vereinbarten Waffenstillstand wieder einzuhalten. Rußland dürfe den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den kommenden Monaten nicht daran hindern, "den Mechanismus für den grenzüberschreitenden Transport dringendst benötigter humanitärer Hilfsgüter nach Nordwestsyrien zu erneuern". Völlig ausgespart bleibt der Angriffskrieg der Türkei und die Okkupation im Norden des Nachbarlandes, die sich insbesondere gegen die kurdischen Gebiete und deren Bevölkerung richtet. Während Berichte deutscher Medien der extremen Bedrängnis der nahezu eine Million in Idlib geflohenen Menschen breiten Raum einräumen, verlieren sie selten ein Wort über die Situation im Nordosten des Landes, wo ebenfalls sehr viele Flüchtlinge Zuflucht suchen, sich aber die Lage für alle dort lebenden Menschen in Folge der türkischen Aggression dramatisch zugespitzt hat.

Unter Berufung auf Angaben der kurdischen Selbstverwaltung berichtet al-Monitor, daß mit der Türkei verbündete islamistische Milizen eine Anlage für die Wasserversorgung in Ras al-Ain (kurdisch: Sere Kaniye) außer Betrieb gesetzt haben. Davon betroffen seien 460.000 Menschen, darunter auch die Bewohner von Flüchtlingslagern sowie die Lager von IS-Gefangenen, darunter al-Hol mit knapp 70.000 Personen. Demnach sind Milizen in die "Alok"-Pumpstation eingedrungen, haben die syrischen Techniker verjagt und den Betrieb eingestellt. Auch in einem Bericht der kurdischen ANF-News ist davon die Rede, daß die Wasserversorgung im Nordosten Syriens teilweise abgeschnitten sei. Die syrische Nachrichtenagentur Sana macht "türkische Söldner" für die bereits seit mehreren Tagen stillgelegte Versorgung verantwortlich, von der bis zu 600.000 Menschen in der Region Hasaka betroffen seien. [2]

Die erneute türkische Invasion in Nordsyrien, die sich gegen Rojava richtet, begann unter dem Namen "Friedensquelle" Anfang Oktober 2019. Fand dieser völkerrechtswidrige Angriff zunächst international große Beachtung, so galt das nicht für die folgenden Ereignisse in diesem Gebiet zwischen den Orten Tall Abyad (kurdisch: Gire Sipi) und Ras al-Ain (Sere Kaniye), über die im Grunde nur kurdische Medien berichten. Das Portal Hawar zieht eine Schreckensbilanz der gut drei Monate, die seit Einrichtung der sogenannten Sicherheitszone vergangen sind [3]. Die türkische Okkupation habe Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet, zahlreiche Wohnstätten zerstört und mindestens 300.000 Menschen zu Flüchtlingen gemacht, die nun in Lagern lebten. Die schwarze Wolke des IS sei nach Gire Sipi zurückgekehrt und habe die Menschen ihrem grausamen Regime unterworfen, womit der türkische Kolonialismus unverhohlen seine Fänge zeige.

Die von Erdogan angestrebte ethnische Säuberung ist demnach in vollem Gange, da Zivilisten zu Tausenden vertrieben und durch neu angesiedelte islamistische Söldner samt deren Familien ersetzt werden, wie das schon in Afrin in großem Stil praktiziert worden war. Dabei behauptet die türkische Regierung nicht nur, daß sie die Heimkehr ursprünglich dort lebender Menschen ermögliche, sondern siedelt Flüchtlinge aus vielen anderen Regionen in diesem Gebiet an, um die kurdische Bevölkerung dauerhaft zu verdrängen. Hunderte dieser Söldner hatten Seite an Seite mit dem IS gekämpft, waren nach dessen Niederlage gegen die kurdisch geführten Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF) in die Türkei geflohen und sind nun im Zuge der Okkupation zurückgekehrt. Hinzu kommen zahlreiche Kämpferinnen des IS, die aus dem Gefangenenlager Ain Issa entkommen konnten, als es von der türkischen Luftwaffe bombardiert worden war.

Daß die Besatzung auf Dauer vorgesehen ist, belegen die Umbenennung von Straßen, Plätzen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen wie auch die Einführung des Türkischen in Verwaltung und Schulunterricht. Auf diese Weise sollen Sprache und Kultur der ansässigen Bevölkerung zurückgedrängt und ausgelöscht werden. Die türkische Flagge weht auf allen öffentlichen Gebäuden, die ebenso wie Krankenhäuser nun ihren Namen in neuen Schriftzügen tragen. Überdies wurden türkische Ausweise ausgegeben, so daß jedem die Festnahme droht, der sich mit einem offiziellen syrischen Dokument auszuweisen versucht.

Zudem leiden die Stadt und angrenzende Gebiete unter einer offenbar gezielt eingesetzten Mangelversorgung. Es fehlt an Trinkwasser und Brot, Strom und Kraftstoff, Silos mit rund 50.000 Tonnen Getreide in der Region wurden von Artillerie und Raketen der türkischen Streitkräfte zerstört, Islamisten plündern Läden nach Belieben. Lange Schlangen vor den Bäckereien zeugen von der Not der Bevölkerung, die von der Besatzungsmacht und deren Söldnern systematisch ausgehungert wird, um sie in die Flucht zu treiben.

Überall in den besetzten Gebieten kommt es zu Mord, Folter, Raub, Entführung und Erpressung durch die Söldner, die hohe Lösegelder eintreiben. Einige Opfer kommen dadurch frei, viele andere bleiben verschwunden. Da in Rojava kurdische, arabische und Menschen diverser anderer Herkünfte weitgehend einvernehmlich zusammengelebt haben, sind von dieser Bedrohung und Drangsalierung nicht nur kurdische Familien, sondern auch arabische Clans betroffen. Zahlreiche geschilderte Fälle zeigen, daß manchmal einzelne Personen, manchmal auch ganze Gruppen, häufig aber Kinder und Jugendliche verschleppt werden, um Geldzahlungen zu erpressen. Wagt es ein Ladenbesitzer, bei Söldnern die Begleichung von Schulden einzufordern, wird er vor aller Augen geprügelt und seiner Waren samt der Kasse beraubt. Oftmals werden Menschen aus unbekannten Gründen öffentlich oder an abgelegenen Orten exekutiert, und es gibt Hinweise auf mehrere Gefängnisse und Lager, in denen offenbar Dutzende entführte Kinder und Jugendliche festgehalten und gefoltert werden.

Wie der Bericht insbesondere hervorhebt, ist mit den islamistischen Söldnern die massive Unterdrückung der Frauen zurückgekehrt. Sie werden gezwungen, schwarze Gewänder und Verschleierung zu tragen, bedroht, drangsaliert und nicht selten entführt, so daß ein Klima der Unsicherheit und Furcht geschaffen wurde. Erdogan will die seinen Überzeugungen und Zielen fundamental widersprechenden Errungenschaften Rojavas auslöschen, die patriarchale Ordnung wiederherstellen und bedient sich dabei der reaktionärsten islamistischen Banden, die unter wechselnden Namen in Erscheinung treten, aber die immer gleichen Ziele verfolgen.

Die Übergriffe der Söldner werden dem Bericht zufolge nicht widerspruchslos hingenommen, zumal sie nicht nur unter der kurdischen, sondern auch der arabischen Bevölkerung als Eindringlinge verhaßt sind, die es wieder zu vertreiben gilt. Es kam wiederholt zu Demonstrationen an verschiedenen Orten, darunter auch vor dem Hauptquartier der Söldner, das sogar in Brand gesetzt wurde, wofür sich die Islamisten mit der Entführung weiterer Frauen rächten, von denen seither jede Spur fehlt. An Hauswänden sind Parolen zu lesen, welche die Besatzer auffordern, sofort zu verschwinden.

Zudem geht aus dem Bericht hervor, daß aus Tel Abyad fast tausend Söldner nach Libyen geschickt wurden, um dort türkische Interessen durchzusetzen. Dafür seien ihnen 2000 US-Dollar im Monat versprochen worden. Während sich die Türkei islamistischer Hilfstruppen bedient, um ihre Invasionen mit größtmöglicher Grausamkeit vorzutragen und eigene Opfer gering zu halten, muß sie zugleich Sorge tragen, daß sich die von der Leine gelassenen Kettenhunde nicht gegen sie wenden, sollten sie deren umfängliche Unterstützung zurückfahren oder gar einstellen. Sie nach Libyen zu verfrachten, dient aus Sicht Ankaras also einem zweifachen Zweck, läßt sich aber nicht auf die gesamte HTS in Idlib übertragen, die dort alle anderen islamistischen Gruppen zur Unterwerfung oder Eingliederung gezwungen hat.

Daß Erdogan tatsächlich einen Krieg gegen die syrischen Streitkräfte und damit gegen Rußland riskiert, ist im beiderseitigen Interesse wenig wahrscheinlich. Näher liegt, daß er den Druck erhöht, um seine Verhandlungsposition in Gesprächen zur Beilegung des Konflikts zu stärken. Für den türkischen Machthaber wäre es vermutlich ein statthafter Kompromiß, würden weitere kurdischen Gebiete türkischer Aufsicht unterstellt, so daß er die Ausweitung und Komplettierung der sogenannten Pufferzone vorantreiben könnte, die er dauerhaft zu okkupieren trachtet. Damit könnte er sein Gesicht wahren, die Heimatfront befrieden, die ethnische Säuberung fortsetzen und die HTS durch Ansiedlung im Nordosten Syriens ruhigstellen. Wenngleich dieses Szenario einen ganzen Sack ungelöster Widersprüche birgt, steht doch zu befürchten, daß diese vor allem zu Lasten der kurdischen Existenz in dieser Region ausgebügelt werden sollen.


Fußnoten:

[1] www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_87413730/syrien-krieg-opposition-kritisiert-aussenminister-appell-zu-idlib-scharf.html

[2] www.heise.de/tp/features/Dschihadisten-unterbinden-Wasserversorgung-in-Nordostsyrien-4668894.html

[3] www.hawarnews.com/en/haber/what-happened-to-tal-abyad-city-during-3-months-of-occupation-h14093.html

27. Februar 2020


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