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STELLUNGNAHME/019: So nicht, Herr Schäuble! (Hans Fricke)


So nicht, Herr Schäuble!

Von Hans Fricke, 4. Juli 2010


Getreu der Praxis der Regierenden, ihre politischen und ökonomischen Fehlleistungen mit 0den bekannten katastrophalen Auswirkungen für Ostdeutschland als Erfolge verkaufen zu wollen, bezeichnet Wolfgang Schäuble, damaliger Verhandlungsführer der Bundesrepublik mit der DDR, wider besseres Wissens die folgenschwere Einführung der D-Mark vor 20 Jahren als alternativlos und Angela Merkel rühmt die Währungsunion als Erfolg. Dabei mangelte es nicht an Warnungen zahlreicher Experten aus Ost und West vor dieser politisch motivierten überstürzten Maßnahme.

Jörg Roesler wies in seinem Beitrag "Der verordnete Bankrott" (junge Welt, 17. August 2009) darauf hin, dass das, was mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am ostdeutschen Wirtschaftskörper vollzogen wurde, nämlich die Öffnung der Märkte bei destabilisierender und strukturell im Umbau befindlicher Ökonomie, nicht nur das Gegenteil von dem war, was die Modrow-Regierung geplant hatte, sondern auch allen positiven Erfahrungen widersprach, die einst vom Weltmarkt abgeschottete Länder wie Spanien bei ihrer Integration in den europäischen Markt bzw. Weltmarkt gesammelt hatten.

Und Wilhelm Hankel, der unter Karl Schiller (1966-1971) die Abteilung "Geld und Kredit" im Bonner Wirtschaftsministerium geleitet hatte, und als Währungsberater für die EG arbeitete, hat in seinem 1993 erschienenen Buch "Die sieben Todsünden der Vereinigung" als erste Todsünde bezeichnet, dass es statt zu einer Abwertung der Mark der DDR, die die DDR-Wirtschaft konkurrenzfähiger gemacht hätte, durch eine Umtauschquote zu einer signifikanten Aufwertung kam.

Bei Hankel heißt es dazu: "Nachdem die Bundesregierung bewusst einen Aufwertungsschock herbeigeführt hat, indem sie die DM nicht zu einem Umtauschsatz von vier (Ostmark), wie es die Marktbewertung ungefähr entsprochen hätte, einführte, sondern zu dem 'unrealistischen' Satz von 1,8 zu eins (im gewogenen Durchschnitt aller Geldaktiva und -passiva), darf sie sich nicht wundern, wenn statt des erhofften Wirtschaftswunders das Gegenteil eintritt - eine Wirtschaftskatastrophe."

Hankel fährt dann fort: "Dasselbe wäre ja auch in Westdeutschland eingetreten, wenn man die DM ähnlich brutal über Nacht zum US-Dollar (also 3,66 : 1 - J.R.) aufgewertet hätte."

Die Folgen sind bekannt: innerhalb eines Jahres ging die ostdeutsche lndustrieproduktion um 67 Prozent zurück. Im Maschinenbau betrug der Rückgang 70, in der Elektrotechnik 75 und in der Feinmechanik sogar 86 Prozent. Die stabsmäßig organisierte Plünderung des ostdeutschen Volksvermögens in Höhe von 1,4 Billionen (!) DM durch die "Treuhand" unter Birgit Breuel in Verantwortung des damaligen einflussreichen Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium und späteren Bundespräsidenten Horst Köhler führte in weniger als drei Jahren zur Liquidierung von 3.244 DDR-Betrieben, wobei 2,5 Millionen Ostdeutsche ihre Arbeit verloren. Die Entscheidung des Bundesfinanzministeriums, alle Treuhandverantwortlichen von einer eventuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Untreue und anderer Straftaten ausdrücklich freizustellen, bedarf keines Kommentars, denn sie begünstigte kriminelle Machenschaften großen und größten Ausmaßes und schuf, wie die ehemaligen DDR-Bürger aus leidvoller Erfahrung wissen, ideale Bedingungen für Legionen von Ganoven und Glücksrittern.

Der Thüringer Dr. Edgar Most war im Sommer 1990 "mittendrin". Als letzter Vizepräsident der DDR-Staatsbank und späteres Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank ist Most bis heute ein gefragter Ost-West-Finanzexperte. Auch er lässt kein gutes Haar an der damaligen von Helmut Kohl (CDU), Theo Waigel (CSU) und Otto Graf Lambsdorff (FDP) zu verantwortenden Katastrophenpolitik gegenüber der DDR und ihren Bürgern. In seinem Interview mit der Ostsee-Zeitung Rostock vom 28. Juni 2010 erklärte er auf die Frage: "Waren die Folgen für die DDR-Wirtschaft nicht absehbar?": "Es war vor allem eine politische Entscheidung für die Einheit. Ex-Kanzler Helmut Kohl hat dafür die ökonomischen Kosten in Kauf genommen, unter denen der Osten - bis hin zu seiner weitgehenden Deindustrialisierung - bis heute leidet."

Und auf die Frage der Ostsee-Zeitung. "Sie hätten warnen können?" meinte er: "Ich habe persönlich mit Helmut Kohl am 20. April in Bonn vier Stunden lang zusammengesessen. Ich hatte die Bilanzen der DDR-Staatsbank dabei. Und das können Sie mir glauben, da stand die Wahrheit über die Lage in der DDR drin. Umsonst. Selbst der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl hielt den allgemeinen Umtauschkurs 1:2 für riskant. Am Ende war dies einer der Gründe, weshalb er im Mai 1990 seinen Rücktritt für das Jahr darauf ankündigte."

Auch dem von Most 2004 unterbreiteten Vorschlag für eine Sonderwirtschaftszone Ost mit niedrigen Steuern, um Investoren anzulocken, erteilte die Kohl-Regierung eine Absage.

"Kohl dachte immer noch, er könne die Einheit aus der Portokasse zahlen und bei Gerhard Schröder war schon so viel festgefahren, dass nichts mehr ging", ergänzte er.

Bei anderer Gelegenheit erklärte Dr. Most, anfangs habe er angenommen, dass diese Fehlentscheidungen der Bundesregierung auf Unkenntnis und Irrtümern beruhen. Danach sei ihm aber aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen als Bankfachmann klargeworden, dass diese Entwicklung gewollt war.

Letzteres wurde selbst von Thilo Sarrazin bestätigt, den der damalige Finanzstaatssekretär Horst Köhler für die ökonomische Sturzgeburt Ostdeutschlands an seine Seite geholt hatte. In der FAZ vom 1. Juli 2010 gab Sarrazin Auskunft darüber, was er als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium betrieb: Die Währungsunion BRD-DDR, die am 1. Juli 1990 in Kraft trat - Erste Klarstellung: "Es ging in diesen Monaten darum, die DDR in einer Weise zu binden, die nicht mehr aufgehoben werden konnte. Denn es stand doch die große Gefahr eines 'dritten Weges' im Raum."

Zweitens: "Wir haben sie in allen wichtigen Punkten vollständig entmachtet. Die Währungsunion war mit der Einführung des Rechtsrahmens der Bundesrepublik in der DDR verbunden. Das war der Anschluss an die Bundesrepublik (...)"

Soweit aufschlussreiche Meinungen bzw. Eingeständnisse von Experten und damals Verantwortlichen. Sie strafen solche Schönredner wie Wolfgang Schäuble und Angela Merkel eindeutig Lügen. Die Entscheidungen der Bundesregierung zur Währungsunion waren ebenso wenig alternativlos wie ein Erfolg, sondern, wie der DDR- und Deutsche Bankmanager Dr. Edgar Most am 1. Juli 2010 bei Spiegel online ausdrücklich feststellte, "eine Katastrophe".

Mit dieser Politik einer planmäßigen und systematischen Volksverdummung durch Bundesregierung und Konzern-Medien sind wir seit nunmehr zwei Jahrzehnten konfrontiert.

Jüngste Beispiele sind die fast täglichen "Erfolgsmeldungen" zum Arbeitsmarkt und die vollmundige Erklärung des Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle (FDP) über ein angebliches "Ende der Krise". Schlechte Meldungen kann die Merkel-Regierung nicht gebrauchen. Deshalb bleibt sie wie ihre Vorgänger dabei, die Arbeitslosenzahlen schönzureden. Arbeitslose, die krank sind, Ein-Euro-Jobs haben oder an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, werden bereits seit längerem nicht mehr als arbeitslos gezählt. Fast alle Arbeitslosen, die älter als 58 sind (im Juni 2010 waren das circa 350.000) erscheinen nicht in der offiziellen Statistik. Im Mai 2009 kam eine weitere Ausnahme hinzu: Wenn private Arbeitsvermittler tätig werden, zählt der von ihnen betreute Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos, obwohl er keine Arbeit hat.

Laut Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland. Monatsbericht Juni 2010, Seite 69, betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 3.153.300 zuzüglich nicht gezählte Arbeitslose: 1.179.310. Das ergibt eine tatsächliche Arbeitslosigkeit im Juni 2010 von 4.332.610.

Während die Konzern-Medien nicht müde werden, die Segnungen der Währungsunion zu lobpreisen und dazu die entsprechenden Leserstimmen zu veröffentlichen, tanzte ausgerechnet "BILD" aus der Reihe und besuchte jüngst den Ostberliner, der am 1. Juli 1990 um 0:01 Uhr als erster DDR-Bürger Westgeld in der Hand hielt: Der Mann, heute 61, dessen Foto damals um die Welt ging, hatte bis dahin nach seinen Angaben als Kohlefahrer 1500 DDR-Mark verdient. Heute ("Die D-Mark brachte mir nur Pech") trinkt er "täglich mehr als vier Liter warmes Flaschenbier (Sternberger Export) am Imbiss beim Vietnamesen" und erhält seine Rente von einer Betreuerin in kleinen Summen zugeteilt.

Jeder, der die am 30. Juni 2010 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Aufstellung kennt, nach der das Armutsrisiko in vielen deutschen Großstädten weitaus höher ist als in kleineren Orten oder auf dem Lande, kann sich ausmalen, wann immer mehr Einwohner deutscher Großstädte das Schicksal des zitierten ehemaligen Ostberliner Kohlefahrers teilen werden.

Dabei ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Leipziger Heldenstädter, die vor mehr als 20 Jahren auf dem Leipziger Ring Plakate mit der Aufschrift herumtrugen: "Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr" heute von den Einwohnern der untersuchten 15 deutschen Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern am stärksten armutsgefährdet sind.

27 Prozent von ihnen müssen mit weniger als 60 Prozent des mittleren deutschen Einkommens leben. Im BRD-Durchschnitt liegt dieser Anteil bei 14 Prozent. In Ostdeutschland sind 20 Prozent nach diesem Kriterium gefährdet, im Westen 13 Prozent.

Zahlen und skandalöse Zustände in einem der reichsten Länder der Erde, die Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und andere politisch Verantwortliche weder aus Anlass des 20. Jahrestages der Währungsunion noch des bevorstehenden 20. Jahrestages der deutschen "Einheit" am 3. Oktober 2010 über die Lippen kommen, weil sie in entlarvender Weise die unverantwortliche Politik und das eklatante Versagen der Bundesregierungen bei der Gestaltung der staatlichen Einheit Deutschlands zeigen.

Der ehemalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Pastor Heinrich Albertz, bekannt als honorige Persönlichkeit, sprach im Hinblick auf die Währungsunion von einer brutalen Invasion Westdeutscher und brachte es wie folgt auf den Punkt: "Manchmal denke ich, ein Einmarsch von Truppen wäre ehrlicher als das, was jetzt geschieht."


Hans Fricke ist Autor des zur diesjährigen Leipziger Buchmesse im GNN-Verlag Schkeuditz erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken, 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2010