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STANDPUNKT/013: In der Kurdenfrage wurde noch ein Jahr vertan! (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 3/2010
Dialog-Kreis

Kommentar
In der Kurdenfrage wurde noch ein Jahr vertan!

Von Memo Sahin


2009 war ein hoffnungsvolles Jahr. Viele Zeichen deuteten darauf hin, dass die Stolpersteine auf dem Weg zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage beiseite geschafft und die seit Jahrzehnten blutende Wunde endlich mit der richtigen Diagnostik behandelt werden würde.

Die Staatsmacht, die vor den Kommunalwahlen am 29. März 2009 de facto ihre Waffen monatelang schweigen ließ, griff zwei Wochen später, also am 14. April 2009 die legalen Kader und Funktionäre der im türkischen Parlament vertretenen kurdischen Partei DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft) an und nahm Hunderte von ihnen fest.

Dies war eine Bestrafungsaktion gegen die kurdische Wählerschaft, die mit ihren Stimmen die kurdische DTP in den kurdischen Gebieten zur stärksten Kraft gemacht hatte, so dass sich die von ihr regierten Kommunen von 50 auf 100 verdoppelten.

Einen Tag zuvor hatte die PKK erneut eine einseitige Waffenruhe in der Hoffnung beschlossen, dass die vor den Wahlen herrschende kampflose Situation fortgesetzt und somit die Hand der AKP zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage gestärkt werden würde.

Aber auch diese Chance wurde einen Tag später verspielt. Es begannen militärische Operationen der Armee gegen die Guerilla und weitere Razzien gegen die DTP und Festnahme ihrer legalen Funktionäre durch die dem Innenministerium unterstellten Polizei: Eine kombinierte Aktion der Armee und der Regierung gegen die kurdische Bewegung.

Dennoch bestanden sowohl die PKK, als auch die DTP hartnäckig darauf, im Jahre 2009 den Weg zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage frei zu machen, die im Frühjahr von Staatspräsident Gül, als das wichtigste Problem der Türkei benannt worden war. Infolge dessen hatten sich alle Akteure und Meinungsmacher den ganzen Sommer über mit dem Projekt der "Kurdischen Öffnung" der AKP-Regierung und dem Road Map von Öcalan zur friedlichen Beilegung der Kurdenfrage beschäftigt.

Mit der Überreichung des Road Map begnügte sich Öcalan nicht und rief die PKK zur Entsendung dreier Friedensdelegation aus dem Hauptquartier der PKK in den Kandilbergen, aus dem Flüchtlingscamp Mahmur, wo über 10 Tausend Kurden seit über 15 Jahren als Vertriebene aus der Türkei in Irakisch-Kurdistan leben und aus Europa als Zeichen des guten Willens.

Die Delegationen der Guerilla und die aus dem Flüchtlingscamp gelangten am 17. Oktober in die Türkei. Sie wurden nicht festgenommen. Die kurdische Bevölkerung, die bis dahin gewöhnt war, die Särge ihrer getöteten Söhne und Töchter im Empfang zu nehmen, empfingen die Friedensdelegationen an der türkisch-irakischen Grenze und Millionen Kurden begleiteten drei Tage und Nächte lang die Fahrt der Delegationen von der Grenze bis nach Amed/Diyarbakir.

Nach dieser Volksfeststimmung der Millionen Kurden stoppte Premier Erdogan die Einreise der Delegation aus Europa, obwohl alle Formalitäten schon erledigt waren. Es begann im Konsens von Regierung und Opposition wieder eine kalte Zeit. In ihr wurde die DTP vom Verfassungsgericht am 11. Dezember 2009 einstimmig verboten und der Abgeordnetenstatus der Vorsitzenden der Partei, Ahmet Türk und Aysel Tugluk aberkannt. Gegen beide wurde ein fünfjähriges Verbot politischer Betätigung ausgesprochen. Weihnachten 2009 wurden über 100 Funktionäre der Nachfolgepartei BDP (Partei für Frieden und Demokratie), darunter etwa 10 gewählte Bürgermeister in Handschellen abgeführt.

Alle diese Maßnahmen deuten darauf hin, dass dieser Kurs auch 2010 beibehalten werden soll. Erschwerend kommt hinzu, dass Parlamentswahlen bevorstehen. Ob sie vorgezogen werden oder im regulären Wahljahr 2011 stattfinden, hängt von den innertürkischen Kräfteverhältnissen ab. Im Vorfeld einer Wahl wird in der Türkei bezüglich der friedlichen Lösung der Kurdenfrage nichts Wesentliches geschehen, denn der Wahlkampf wird voraussichtlich im Wettkampf des türkischen Nationalismus gegenüber der kurdischen Bevölkerung ausgetragen werden.

Europa unterstützt zudem den türkischen Staat mit all möglichen Mitteln. Von der 1998 vom damaligen Bundeskanzler Schröder und dem italienischem Premier D'Alema verkündeten Europäischen Initiative zur Lösung der Kurdenfrage ist nichts zu sehen. Auch haben sich die EU-Staaten und auch nicht Deutschland von seit Jahrzehnten praktizierter Verfolgung kurdischer Repräsentanten und Einrichtungen quer durch Europa verabschiedet.

Und die Kurden: Sie haben im letzten Jahr mehrfach bewiesen, dass sie auf ihre Forderungen nach Frieden, Freiheit und auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben nicht verzichten wollen.


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 3/2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2010