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STANDPUNKT/075: Ein weiterer Krieg gegen Gaza? (EI)


The Electronic Intifada - 4. April 2011

Ein weiterer Krieg gegen Gaza?

Von Ali Abunimah


In den letzten Wochen hat zwischen Israel und den Fraktionen des palästinensischen Widerstands im von Israel besetzten Gazastreifen eine Eskalation der Gewalt stattgefunden, die über ein Dutzend Palästinenser das Leben kostete; das jüngste Opfer war der 10jährige Mahmoud Jalal al-Hilu [1].

Erhöht diese zunehmende Eskalation die Wahrscheinlichkeit eines weiteren großangelegten Angriffs auf Gaza wie die "Operation Gegossenes Blei" im Winter 2008-2009, bei der über 1.400 Palästinenser getötet wurden? Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, daß Israel im Begriff sein könnte - mit Worten und mit Taten - die Grundlagen für einen Angriff zu schaffen.

Das Rad der Gewalt drehte sich in den frühen Morgenstunden des 2. April ein weiteres Mal, als Israel einen Luftangriff auf den Gazastreifen durchführte, bei dem drei Mitglieder des militärischen Flügels der Hamas getötet wurden.

Israel behauptete nicht, daß die drei Hamas-Männer zur Zeit ihrer Tötung in feindliche Aktivitäten verwickelt gewesen seien (sie saßen in einem fahrenden Auto), aber die Erklärung der israelischen Armee unterstellte, sie hätten "geplant, während der herannahenden Pessach-Feiertage Israelis zu entführen" - in einigen Wochen also.

Israels letzter Angriff war eine außergerichtliche Tötung, bei der Israel, die Besatzungsmacht, als Richter, Geschworenengremium und ausführendes Organ fungierte und Behauptungen aufstellte, für die es keine Beweise lieferte, nachdem es das Todesurteil bereits vollstreckt hatte. Nach internationalem Recht ist das ein Kriegsverbrechen.

Weltweite Medien neigen dazu, diese Ereignisse in ihrer Berichterstattung als israelische "Vergeltung" für palästinensische Angriffe zu bezeichnen, aber ein genaues Studium der israelischen Medien liefert ein ganz anderes Bild: absichtliche Provokation und Eskalation von seiten Israels.

Am 23. März berichteten Avi Issacharoff und Amos Harel, die für die israelische Tageszeitung Haaretz schreiben: "die aktuellen Spannungen begannen genau vor einer Woche, als Israel einen Luftangriff auf eine Hamas-Basis in den Ruinen der Siedlung Netzarim durchführte, bei dem zwei Hamas-Männer getötet wurden. Der Angriff erfolgte als Antwort auf eine Khassam [Rakete], die in Gaza abgefeuert worden und auf offenem Gelände gelandet war." Die Palästinenser reagierten mit einem Sperrfeuer von 50 Geschossen auf Israel.

Israel startete dann "eine Serie von Luftangriffen, in denen eine Reihe Hamas-Militanter verwundet wurde". Und am 22. März führten die israelischen Streitkräfte - angeblich als Antwort auf Mörserangriffe aus einem Olivenhain auf der Gaza-Seite ("Ein kleiner Krieg beginnt an der Grenze Gazas.") [2] - die Bombardierungen durch, bei denen Mahmoud al-Hilu und drei weitere Zivilisten getötet wurden.

Am 24. März stellten Issacharoff und Harel fest: "Trotz der Eskalation scheint die Hamas noch keine größeren Zusammenstöße zu wünschen. Die Organisation hat in der Tat gute Gründe zu glauben, daß Israel derjenige ist, der die Südfront anheizt. Es fing an mit einem Bombenangriff vor zwei Wochen, der den Transfer einer großen Geldsumme aus Ägypten in den Gazastreifen unterbrach, setzte sich fort mit dem Verhör des Ingenieurs und Hamas-Mitgliedes Dirar Abu Sisi [den israelische Agenten in der Ukraine entführt hatten] [3] in Israel und endete mit der Bombardierung eines Hamas-Trainingslagers letzte Woche, bei dem zwei Hamas-Militante getötet wurden. Bemerkenswert ist, daß die Hamas während der vergangenen zwei Tage nicht auf Israel geschossen hat, auch nicht, als am Dienstag [22. März] vier palästinensische Zivilisten durch fehlgeleitetes Mörserfeuer der IDF [israelische Armee] getötet wurden" ("Hamas steckt wahrscheinlich nicht hinter dem Bombenanschlag in Jerusalem").[4]

Issacharoff und Harel ergänzten am 25. März in einer Analyse, daß man von dem Angriff auf den Hamas-Außenposten in Netzarim im allgemeinen "glaubt, er sei vom Außenminister und dem Stabschef abgesegnet worden, die gewußt haben müssen, daß sich tagsüber Menschen im Außenposten aufhalten und daß es andere Folgen haben würde, als ein Routineangriff auf leere Büros, wenn man Opfer verursacht. Israel nahm - fälschlicherweise - an, daß die Hamas die Bombardierung nicht beantworten würde. Tatsächlich reagierte die Hamas jedoch am Sonnabend Morgen mit dem Abschuß von 50 Mörsergranaten" ("Eskalation rückt näher").[5]

Es ist schwer zu glauben, insbesondere angesichts der außergerichtlichen Tötungen am 2. April, daß die israelische Führung nicht gewußt haben soll, daß auf die Tötung von Palästinensern weitere Vergeltung von palästinensischer Seite erfolgen würde. Es scheint sehr wahrscheinlich zu sein, daß das ihre Absicht war.

Diese Ereignisse gleichen auf beunruhigende Weise den Abläufen, die der "Operation Gegossenes Blei" vorangingen. Nach einem blutigen Frühling 2008, in dem Hunderte Palästinenser durch israelische Angriffe auf Gaza getötet und verletzt worden waren, vereinbarten Israel und die Hamas einen beiderseitigen Waffenstillstand mit Beginn am 19. Juni 2008. Israel räumte selbst ein [6], daß diese gegenseitige Waffenruhe eine 97prozentige Abnahme der Anzahl der Raketen mit sich brachte, die in den darauf folgenden vier Monaten aus Gaza abgefeuert wurden. Keines der Handvoll abgefeuerter Geschosse kam von der Hamas, darüber hinaus wurde kein Israeli verletzt.

Ein beiderseitig vereinbarter Waffenstillstand erwies sich als das effektivste Mittel, das Ziel zu erreichen, das Israel seinen Behauptungen nach das wichtigste war: die israelischen Zivilisten vor Raketenfeuer aus Gaza zu schützen. Aber in der Nacht vom 4. auf den 5. November 2008 beschloß Israel, die Feuerpause zu beenden. Wie der Guardian am 5. November 2008 berichtete: "Ein seit vier Monaten bestehender Waffenstillstand zwischen Israel und palästinensischen Militanten in Gaza war heute in Gefahr, nachdem israelische Soldaten sechs Hamas-Kämpfer bei einem Überfall auf das Gebiet getötet hatten" ("Gaza-Waffenstillstand gebrochen, weil sechs Hamas-Kämpfer bei israelischem Überfall getötet wurden")[7].

Damals, genau wie bei seinem jüngsten Überfall, rechtfertigte Israel die Tötung durch die nicht beweisbare Behauptung, die Getöteten hätten in einer Verschwörung geplant, Israelis zu entführen.

Am 21. März, inmitten der eskalierenden Gewalt, erklärte der militärische Flügel der Hamas selbst, er sei gewillt, sich an einen weiteren beiderseitigen Waffenstillstand zu halten, wenn Israel zustimme, aber Israel zeigte kein Interesse ("Gaza: Hamas ruft zu Waffenstillstand auf," Ma'an News Agency, 21. März 2011).[8]

Israels anscheinend kontinuierliche und absichtliche Provokation von Gewalt an der Grenze zu Gaza spielt sich vor dem Hintergrund aggressiver Verlautbarungen und Propagandaaktionen der israelischen Führung ab. Am 15. März fing Israel ein Schiff auf dem Weg von der Türkei nach Alexandria ab, das angeblich - ohne daß Beweise vorgelegt wurden - Waffen transportierte, die für Gaza bestimmt waren.

Vizepremier Silvan Shalom verlautete am 23. März im israelischen Radio, daß Israel unter Umständen einen weiteren großangelegten Angriff auf Gaza werde führen müssen, um die Hamas zu stürzen, und ergänzte: "Ich sage das obwohl mir klar ist, daß eine solche Aktion natürlich die Region in eine weitaus explosivere Lage stürzen würde."

Kulturminister Limor Livnat warnte laut Haaretz davor, daß Israel möglicherweise keine andere Wahl haben könnte, als eine "Operation Gegossenes Blei 2" durchzuführen.

Shalom, der die Tatsachen auf den Kopf stellte und den Palästinensern die Schuld für die Eskalation der Gewalt gab, brachte die Möglichkeit eines neuen Kriegs gegen Gaza in einen offenkundig politischen Zusammenhang. Die Hamas, behauptete der Vizepremier lt. Haaretz, "könnte eine neue Front gegen Israel eröffnet haben, 'um jede Möglichkeit des Dialogs unter den Palästinensern zu beenden oder um für die innerpalästinensischen Verhandlungen in eine noch stärkere Position zu rücken.'" ("Netanyahu: Israel wird weiter gegen Terroristen in Gaza vorgehen," 23. März 2011).[9]

Mit anderen Worten, Shalom zufolge verhindert die anhaltende Stärke der Hamas eine innerpalästinensische Versöhnung zu für die von Israel unterstützte, in Ramallah sitzende Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von Mahmoud Abbas günstigen Bedingungen.

Ob nun Israel absichtlich die Grundlagen für einen neuen Überfall auf Gaza schafft, oder dahineinstolpert - sollte die derzeitige Eskalation nicht gestoppt werden -, ein solcher Überfall ist auf jeden Fall politisch zu verstehen. Es wäre ein Versuch, abzuschließen, was unerledigt blieb: die Hamas und jede weitere Insel palästinensischen Widerstands zu vernichten.

Die Festlegung jeder bedeutenderen palästinensischen Gruppe auf den Widerstand - politisch oder militärisch - ist ein wesentliches Hindernis für die vollständige Anerkennung des engen Verhältnisses zwischen Israel und der von Abbas geführten PA, dessen Ausmaß jüngst durch die Palästina-Papiere aufgedeckt wurde.[10] Die Beziehungen sind in der Tat so freundschaftlich, daß die Spitzenvertreter der PA den israelischen Stabschef Gabi Ashkenazi - der die Operation Gegossenes Blei befehligt hatte - im letzten Oktober als ihren Ehrengast empfingen und sogar eine Führung für ihn durch die Geburtskirche veranstalteten ("Israelischer Armeechef besucht Bethlehem", Ma'an News Agency, 3. Oktober 2010).[11]

Ironischerweise ist die Hamas weit weniger unversöhnlich als Israel, wie sich durch die wiederholten Waffenstillstandsangebote der Bewegung zeigt, die von Israel zurückgewiesen oder gebrochen werden; durch ihre anhaltenden Äußerungen über eine "Versöhnung" mit Abbas, ohne daß sie darauf besteht, daß dieser seine "Sicherheits"-Verbindungen mit Israel aufkündigt, und ihre bereitwillige Annahme der ausgesetzten "Zwei-Staaten-Lösung". Trotz dieser nicht anerkannten politischen Zugeständnisse, hat sich die Hamas eine militärische Schlagkraft bewahrt, die Israel weder als Potential gegen sich noch gegen die PA zu tolerieren bereit ist.

Bis jetzt gab es gute Gründe dafür zu glauben, daß Israel zögern würde, einen neuen militärischen Angriff auf Gaza zu unternehmen. Es leidet noch immer unter den diplomatischen und politischen Nachwirkungen der Operation Gegossenes Blei, unter anderem dem Goldstone-Bericht, sowie des Massakers an den neun Aktivisten an Bord der Mavi Marmara während der Gaza Freedom-Flottille im letzten Frühling.

Ohne das Risiko übertreiben zu wollen: Es könnten sich die Israel auferlegten Beschränkungen lockern. In den Nachwehen der Revolution in Ägypten und inmitten der politischen Erhebungen in der arabischen Welt, könnten einige Israelis der Ansicht sein, sie hätten nun eine "letzte Chance", in der Übergangsfrist zu handeln, bevor eine neue und weniger freundlich gesinnte Regierung in Kairo sitzt. Das westliche und das saudische Eingreifen in Libyen bzw. Bahrain haben zudem eine neue Akzeptanz dafür geschaffen, militärische Gewalt für politische Ziele einzusetzen.

Auch die internationale Beteiligung signalisiert Israel weiterhin auf eindeutige Weise, daß seine Straffreiheit garantiert ist. Das kürzliche Veto der Obama-Regierung gegen eine UNO-Sicherheitsratsresolution, die lediglich die US-Politik gegenüber dem israelischen Siedlungsbau in der Westbank wiederholte, war ein sicheres Zeichen dafür, daß Israel noch immer über einen Blankoscheck der Vereinigten Staaten verfügt.

Tragischerweise könnte Richter Richard Goldstone selbst der größte Förderer einer neuen Zuversicht in Israel sein, daß es noch einmal straffrei mit Mord in Gaza davonkommen wird. Mitglieder der israelischen Führung verstehen die Apologetik seines am 1. April in der Washington Post erschienenen Kommentars als Entlastung und Beweis, daß Israel nie Kriegsverbrechen in Gaza begangen hat, und Opfer einer "Blut-Verleumdung" wurde, wie Jeffrey Goldberg, früheres israelisches Besatzungsmitglied und Armeefreiwilliger sowie Atlantic-Blogger, verlautete.

Auch wenn Goldstone eindeutig versuchte, Zionisten zu beschwichtigen, die ihn einer intensiven Kampagne persönlicher Verunglimpfung und Ächtung ausgesetzt hatten, verwarf er mit seinem Artikel nicht ein einziges Ergebnis des Berichts, der seinen Namen trägt ("Den Goldstone-Bericht über Israel und Kriegsverbrechen überdenken", [12] 1. April 2011).

Zwei wichtige Analysen des Kommentars von Goldstone dahingehend, daß dieser den Goldstone-Bericht absolut nicht in Abrede stellt, sind am 2. April bei Mondoweiss erschienen: "Was der Goldstone-Kommentar nicht sagt" [13] von Yaniv Reich, und "Goldstones Kommentar lobt israelische Untersuchung der Gaza-Kriegsverbrechen, aber das UNO-Kommitee zeichnet ein anderes Bild" [14] von Adam Horowitz.

Der Goldstone-Kommentar ist die persönliche Meinung einer Person. Der Goldstone-Bericht, ein offizielles UNO-Dokument, das von einer Kommission verfaßt wurde, bleibt eine Aufstellung über die Taten Israels - und in der Tat auch der Hamas -, die weder durch neue Beweise und noch viel weniger durch Israels eigennützige "Ermittlungen" widerlegt wurde.

Aber wie wir schon häufig lernen mußten, gelten gründliche Analyse und die Achtung grundlegender Tatsachen wenig in den 'Wirren des Krieges', insbesondere wenn Israel die Seite ist, die den Krieg anstrengt.

Ali Abunimah ist Mitbegründer von 'The Electronic Intifada', Autor von "One Country: A Bold Proposal to End the Israeli-Palestinian Impasse" [15] und einer der beitragenden Autoren von "Goldstone Report: The Legacy of the Landmark Investigation of the Gaza Conflict" [16] (Nation Books).(1)


 [1] http://electronicintifada.net/v2/article11886.shtml
 [2] http://www.haaretz.com/blogs/mess-report/a-small-war-is-starting-along-gaza-border-1.351223
 [3] http://electronicintifada.net/v2/article11877.shtml
 [4] http://www.haaretz.com/blogs/mess-report/hamas-not-likely-behind-jerusalem-bombing-1.351459
 [5] http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/escalation-approaching-1.351739
 [6] http://electronicintifada.net/v2/article10123.shtml
 [7] http://www.guardian.co.uk/world/2008/nov/05/israelandthepalestinians
 [8] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=370970
 [9] http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/netanyahu-israel-will-continue-to-operate-against-terrorists-in-gaza-1.351331
[10] http://electronicintifada.net/v2/article11756.shtml
[11] http://www.maannews.net/eng//ViewDetails.aspx?ID=320476
[12] http://www.washingtonpost.com/opinions/reconsidering-the-goldstone-report-on-israel-and-war-crimes/2011/04/01/AFg111JC_story.html

[13] http://mondoweiss.net/2011/04/what-the-goldstone-op-ed-doesn't-say.html
[14] http://mondoweiss.net/2011/04/goldstone-op-ed-praises-israeli-investigation-of-gaza-war-crimes-but-un-committee-paints-a-different-picture.html
[15] http://electronicintifada.net/bytopic/store/548.shtml
[16] http://www.amazon.com/exec/obidos/ASIN/1568586418/theelectronic-20


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

(1) "Ein Land: Ein beherzter Vorschlag für einen Ausweg aus der Israelisch-Palästinensischen Sackgasse" und "Der Goldstone-Bericht: Das Vermächtnis der Untersuchung des Gaza-Konflikts als ein Meilenstein"

Link zum englischen Original:
http://electronicintifada.net/v2/article11896.shtml
© Ali Abunimah/EI


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Quelle:
The Electronic Intifada, 4. April 2011
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net
mit freundlicher Genehmigung von Ali Abunimah
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2011