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STANDPUNKT/172: Ein Freiheitskämpfer für Schloss Bellevue (Hans Fricke)


Ein Freiheitskämpfer für Schloss Bellevue

von Hans Fricke, 22. Februar 2012


Jetzt wo die Euphorie aller vier gleichgeschalteten etablierten Bundestagsparteien über die Nominierung von Pastor Gauck für die Wahl des nächsten Bundespräsidenten langsam nachlässt und sich kaum noch führende Bundespolitiker für den zurückgetretenen Christian Wulff interessieren, ist es an der Zeit, sich einmal der Frage zuzuwenden, warum der mit vielen Vorschusslorbeeren bedachte Wulff wirklich zurücktreten und für "Heilsbringer" Gauck Platz machen musste.

Es liegt der Verdacht nahe, dass Wulff die von Angela Merkel in ihn gesetzten Erwartungen, ein handzahmer Erfüllungsgehilfe ihrer Politik zu sein, nicht erfüllt hat. Anstatt alle Gesetze, die der Bundestag auf Empfehlung der Bundesregierung beschließt, unkritisch und gehorsam zu unterzeichnen, begann Wulff, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
So hatte er in einem Zeit-Interview vom 30.06.2011 gewarnt: "Sowohl beim Euro als auch bei Fragen der Energiewende wird das Parlament nicht als Herz der Demokratie gestärkt und empfunden." Gleichzeitig erklärte er, "dass heute zu viel in kleinen 'Entscheider-Runden' vorgegeben wird, was dann von den Parlamenten abgesegnet werden soll." Darin sehe er "eine Aushöhlung des Parlamentarismus": "Die Schnelligkeit, mit der jetzt Politik - oft ohne Not - bei einigen herausragenden Entscheidungen verläuft, ist beunruhigend. Und sie führt zu Frust bei Bürgern und Politikern sowie zu einer vermeidbaren Missachtung der Institutionen parlamentarischer Demokratie."

Auch bei einer Rede vor Nobelpreisträgern in Lindau am 24. August 2011 erhob Wulff unbequeme Forderungen:

"In freiheitlichen Demokratien müssen die Entscheidungen in den Parlamenten getroffen werden, denn dort liegt die Legitimation." Ein besonderes Problem hatte Wulff mit der Finanzkrise, den Banken und der Euro-Rettungspolitik:

"Erst haben die Banken andere Banken gerettet, und dann haben Staaten Banken gerettet, dann rettet eine Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene Defizite auf wen verteilt beziehungsweise von wem getragen?"

Ein Bundespräsident, der die neuen Euro-Gesetze würde unterzeichnen müssen, stand unerwartet nicht mehr hinter der abenteuerlichen Euro-Rettungspolitik. Den massiven Ankauf von Anleihen einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank halte er "für rechtlich bedenklich". Vor aller Augen wurde Wulff plötzlich zum Systemkiller. Kein Wunder, dass es angesichts des im ersten Quartal 2012 vom Bundestag zu ratifizierenden ESM-Gesetzes in Brüssel und Berlin sorgenvolle Gesichter gab.

Ob das nun mit Wulffs eigenwilligen Äußerungen zusammenhängt oder nicht: Tatsache ist, dass er kurz vor der Ratifizierung dieses Vertrages in die Wüste geschickt wurde. Noch einen Tag vor seinem Rücktritt hatte Wulff für das Jahr 2012 zwei große Reden zum Thema Euro und Europa angekündigt, die nun den Euro-Rettern erspart bleiben.

Konservative Presse und Konzernmedien hatten über Wochen den Boden bereitet, um ihren Favoriten von 2010 als Phönix aus der Asche auferstehen zu lassen. Nun bekommen sie den, den sie vor anderthalb Jahren in seltener Einmütigkeit unbedingt haben wollten: "Der bessere Präsident" titelte damals der Spiegel, "Yes we Gauck", ergänzte extrem kreativ die Bild am Sonntag, und auch die taz fragte nicht, welcher Teufel die Grünen und mehr noch die SPD geritten hatte, den eitlen Pastor aufzustellen, sondern waren pikiert, dass die Linkspartei Joachim Gauck die Gefolgschaft verweigerte.

Für Albrecht Müller, ehemaliger Wahlkampfleiter der SPD sowie Planungschef im Kanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, ist Joachim Gauck in Wahrheit der Kandidat der Springer-Presse. Inzwischen geben die rot-grünen Parteigranden sogar ehrlich zu, wer sie auf die Idee mit dem Kandidaten Joachim Gauck gebracht hat: Thomas Schmid war es, Chefredakteur der Welt aus dem Verlag Axel Springer.

Doch nicht genug damit. Wie auf Kommando berichteten die Konzern-Medien von Jubelstimmung in der Bevölkerung über die Nominierung Gauks als neuen Bundespräsidenten. Jeder, der die Umfrage-Ergebnisse kannte, stellte sich jedoch die Frage, wo die vielen jubelnden Menschen eigentlich wohnen? In seiner Geburtsstadt Rostock jedenfalls nicht, denn am 19. Februar 2012 hatte die Ostsee-Zeitung, Rostock das Ergebnis einer Umfrage veröffentlicht. Danach hatten bisher 995 Leser über die Frage: "Soll Joachim Gauck Bundespräsident werden?" abgestimmt. Das vorläufige Ergebnis lautete:

Nein: 65%; Ja: 33%; Ich weiß nicht: 2%.

Eine Umfrage des MDR: "Ist Joachim Gauck der Richtige für das Amt des Bundespräsidenten?" hatte ergeben: Ja: 19% (738 Stimmen); Nein: 78% (2950 Stimmen); weiß nicht / ist mir egal: 3% (113 Stimmen).

Am gleichen Tag hatte die Ostsee-Zeitung 2619 ihrer Leser gefragt: "Soll Joachim Gauck Ehrenbürger von Rostock werden?" Das Ergebnis lautete: Ja: 37%; Nein 60%; Ich weiß nicht: 3%.

Wie junge Welt vom 22. Februar berichtete, entfernte der MDR die obigen Ergebnisse der für Gauck negativ ausgefallenen Internetabstimmung nach wenigen Stunden kommentarlos. Siehe: http://twitpic.com/8miatu. Aber noch immer glauben viele Menschen daran, dass eine Zensur nicht stattfindet.

Zu den verbreiteten Erwartungen, Gauck werde die Kluft zwischen Regierenden und Regierten schließen, meinte Albrecht Müller in einem Interview mit junge Welt vom 22. Februar 2012: "Das ist doch Gerede. Die Spaltung zwischen denen, die es gut haben in diesem Land, und denen, die sich in ihrer Not gar nicht mehr artikulieren, wird dieser Präsident auf keinen Fall überwinden. Dieser Mann bekommt doch gar nicht mit, dass die Demokratie gefährdet ist, dass die Pressefreiheit die Freiheit von 200 Leuten ist, ihre Meinung zu verbreiten, und dass er deren Produkt und Repräsentant ist. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass die BRD laut Grundgesetz ein Sozialstaat ist."

Nicht nur die Leitmedien und die vier vorschlagenden Bundestagsparteien, sondern auch eine Zeitung der äußersten Rechten feierte die Einigung auf Gauck als nächsten Bundespräsidenten. Während der bisherige Amtsinhaber Christian Wulff mit "Worthülsen von der 'bunten Republik'" Schlagzeilen gemacht habe, seien von Gauck "nüchterne Äußerungen" unter anderem zum Thema "Migration" bekannt, heißt es lobend in der ultrarechten Wochenzeitung Junge Freiheit.

Die muslimischen Verbände wissen sehr wohl, was sie von Gaucks "nüchterne Äußerungen" à la Junge Freiheit zu erwarten haben. Deshalb sagte Alman Mazyek vom Zentralrat der Muslime dem Tagesspiegel: "Ich setze darauf, dass er (Gauck) sich wie sein Vorgänger als Bundespräsident aller Deutschen, also auch der Muslime, versteht. Wir brauchen jetzt mehr denn je einen Versöhner an der Staatsspitze, der 'Ossis' und 'Wessis', 'Einheimische und Eingewanderte und die verschiedenen Religionen in unserem Land als Einheit begreift".

Je mehr man sich mit Gauck und seinen öffentlichen Äußerungen beschäftigt, umso offenkundiger wird, dass er der falsche Kandidat ist. Ob in Sachen Hartz IV, Afghanistankrieg oder Finanzkrise, ob im Streit über Atomkraft oder Stuttgart 21 - Gauck stand stets eher auf der Seite jener Politiker, die ihre "Wahrheiten" gegen andersdenkende Mehrheiten durchzusetzen suchten. Stets hat er alle Kriegs- und Armutsverstärkungsbeschlüsse wärmstens befürwortet.
Die Freiheit ist für ihn meist die Freiheit der Eliten, besonders der Wirtschaft. Für Hartz IV-Empfänger findet er nicht so warme Worte. Die Freiheit des Leiharbeiters ist nicht sein Thema.

Der frühere DDR-Bürgerrechtler, Pfarrer Friedrich Schorlemmer, warf seinem vormaligen Amtsbruder Gauck vor, nur ein Thema zu kennen. Er forderte ihn auf, seine Themenpalette zu erweitern. "Es ist wunderbar, dass er das Loblied auf die Freiheit singt", sagte Schorlemmer der Berliner Zeitung". "Aber er müsste auch das Loblied auf die Gerechtigkeit singen, damit sich alle die Freiheit leisten können. Manche seiner Äußerungen über die Schwachen in unserer Gesellschaft empören mich geradezu. Über Hartz-IV-Empfänger redet er so, als müssten sie einfach nur aktiv werden, um wieder Arbeit zu finden. Soziale und bürgerliche Menschenrechte gehörten untrennbar zusammen. "Wer von der Freiheit spricht, der muss auch von Brot sprechen, vom Wasser, vom Wetter, vom Frieden", mahnte er.

In einem Interview mit der Ostsee-Zeitung, Rostock, vom 22. Februar 2012 schilderte Schorlemmer seine und Gaucks unterschiedliche Auffassungen zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit:

"Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte uns und andere eingeladen, um über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit zu diskutieren. Ich hatte den Vorschlag gemacht, zu breiten gesellschaftlichen Foren einzuladen, Aug in Auge das System zu analysieren, nach Motiven und Verantwortung zu fragen, Schuld zu erkennen und Versöhnung zu suchen. In der Wahrheit, aber nicht durch Fokussierung auf die Stasi-Akten. Gauck vertrat eine andere Position, mit großer Bestimmtheit."

Wie diese Position praktisch aussah, schilderte der stellvertretende Chef der Rostocker Bezirksverwaltung des MfS, Oberst a.D. Artur Amthor, in einem in junge Welt vom 8. Juni erschienenen Interview:

"Ich erinnere mich an eine Begegnung (mit Gauck), das war nach der Auflösung 1990 in einem Gebäude, das von Bürgerrechtlern genutzt wurde. Er sagte u.a. zu mir: "Herr Amthor, Sie haben Ihr ganzes Leben lang die Schuld abzutragen, die Sie auf sich geladen haben. Und auch Ihre Enkel werden davon betroffen sein... Seine Grundeinstellung war gegen alles gerichtet, was mit der DDR zu tun hatte."

Und auf die Frage: "Sie haben sich früher schon intensiv mit Gauck befasst - können Sie sich ihn als Bundespräsidenten vorstellen?" antwortete Amthor:

"Es wäre ein großer Fehler für diese Republik, wenn er gewählt würde. Ich habe Gauck als wandelbaren Menschen in Erinnerung als jemanden, der sich sehr gut verstellen kann - so haben wir ihn nämlich erlebt. Einerseits gibt er sich freundlich - andererseits kann er gehässig, rücksichtslos und hundsgemein sein. Er würde das Amt des Bundespräsidenten schonungslos und hemdsärmelig ausnutzen, um alles auszuräumen, was ihm nicht gefällt."

Artur Amthor ist Autor des 2009 im Verlag Am Park in der Edition Ost Ltd erschienenen Buches "Ruhe in Rostock? Von wegen", dessen Seiten 256 bis 277 sich ausführlich mit Pfarrer Gauck befassen. Geschildert wird auch, welche konkreten Zuwendungen dieser vom MfS erhalten hat.

Vor dem Hintergrund des oben Gesagten sind die Zweifel verständlich, die Schorlemmer bezüglich der Bereitschaft eines Bundespräsidenten Gauck hegt, sich für die innere Einheit unseres Volkes einzusetzen. In der Frankfurter Rundschau hatte Schorlemmer dazu erklärt:

"Seine Nominierung ist eine Würdigung des Freiheitskampf der Ostdeutschen. Dass Gauck auch die innere Einheit wirklich anpackt, scheint mir allerdings unwahrscheinlich. Und das ist schade."

Für Jutta Ditfurt, sie vertritt die ÖkoLinX-Antirassistische Liste im Frankfurter Römer, ist Gauck der Prediger für die verrohende Mittelschicht. Newsletter von SENIORA.ORG veröffentlichte am 20. Februar 2012 von ihr nachstehenden Kommentar zur freien Verfügung:

"Mit Christian Wulff hat sich die politische Klasse eines lästig gewordenen kleinbürgerlichen korrupten Aufsteigers entledigt, während die viel größeren Geschäftemacher der Parteien weiter ungestört ihren Interessen nachgehen können.
Um die Peinlichkeit zu übertünchen, wurde Joachim Gauck, der Prediger für die verrohende Mittelschicht gerufen. Dass CDU/SPD/FDP und Grüne ihn gemeinsam aufstellen verrät uns, dass uns noch mehr Sozialstaatszerstörung, noch mehr Kriege und noch weniger Demokratie drohen. Einen wie ihn holt man, um den Leuten die Ohren vollzuquatschen.
Gaucks neoliberales Verständnis von Freiheit als Freiheit des Bourgeois, schließt soziale Menschenrechte aus. Von sozialer Gleichheit als Bedingung wirklicher Freiheit versteht er nichts. Mit der Agenda 2010 und ihren brutalen Folgen ist er sehr einverstanden, für die Betroffenen und ihre Proteste hat er stets nur Verachtung. Kritik am Kapitalismus findet Gauck lächerlich. Die Entscheidung zur Begrenzung der Laufzeit von AKWs gefühlsduselig. Dem Krieg in Afghanistan hat Gauck die Treue gehalten, denn auch dieser Christ ist ein Krieger. In der Vertriebenenfrage ist der künftige Bundespräsident ein Kumpan von Erika Steinbach und hat Probleme mit der polnischen Westgrenze.

Was er von Demokratie und Humanismus hält, verrät er, indem er für die Verfassungsschutzüberwachung der Linkspartei eintritt und den Ideologen des Rassismus der Mitte, Thilo Sarrazin, 'mutig' findet. Hat jemand je eine scharfe und überzeugende Kritik an Nazis von ihm gehört? Fremdenfeindlichkeit kann er verstehen, aber er schätzt es nicht, 'wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird'.
Gauck ist ein Anhänger der Totalitarismusideologie, der Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus. Mit seiner Aufstellung als Kandidat bekennen sich CDU/SPD/Grüne und FDP zu dieser unerträglichen reaktionären Weltsicht. Der Kandidat und die vier ihn aufstellenden Parteien passen zu einander.

P.S.: Das Amt des Bundespräsidenten ist überflüssig, ein feudales Relikt für obrigkeitsgläubige Deutsche."

Der im Freitag publizierte Artikel "Auf Wiedersehen, Herr Gauck"[1] von Peter-Michael Diestel (CDU), ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und Minister des Innern der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière (CDU) und andere Veröffentlichungen werfen viele Fragen zum Verhältnis zwischen Pastor Gauck und dem MfS auf, die vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten eine Beantwortung erfordern.

Diestel wirft Gauck vor, keine einzige der für ihn brisanten Fragen beantwortet zu haben. Statt dessen würde er abwiegeln und versuchen, sich zu entlasten. Dem Vernehmen nach hat Rechtsanwalt Diestel vor dem Landgericht Rostock einen Prozess gegen Gauck gewonnen, in dem dieser verbieten lassen wollte, ihn "Begünstigten der Staatssicherheit" zu nennen. Sowohl der damalige Minister des Innern der DDR, Diestel, als auch Lafontaine sagten der Zeit zufolge, dass Gauck ein Stasi-Begünstigter gewesen sei.

Erstaunlich ist, dass die Terpe-Papiere ebenso unauffindbar sind wie der Artikel der Welt dazu vom 23. April 1991.
Die immer nachhaltiger gestellten Forderungen nach der Rolle von Pastor Gauck in Verbindung mit der Leitung der Gauck-Behörde und Gerüchten über abhandengekommene Akten von diversen Politikern etc. dürfen nicht länger negiert und die öffentliche Diskussion darüber wie bisher massiv unterdrückt werden.

Sollten die gegen Gauck erhobenen Vorwürfe stimmen, würde das weit schwerer wiegen als Übernachtungen bei Filmproduzenten. Gauck wäre als Bundespräsident untragbar und auch die vergebenen Vorschuss-Lorbeeren müssten erneut auf den Prüfstand - Aufklärung ist also Staatsräson!


Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag Schkeuditz erschienen Buches "Eine feine Gesellschaft - Jubiläumsjahre und ihre Tücken", 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2

[1] http://www.freitag.de/politik/0018-wiedersehen-herr-gauck


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Quelle:
© 2012 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2012