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STANDPUNKT/328: Wenn die letzte Instanz fehlt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 141, September 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn die letzte Instanz fehlt
Die steigende Zahl internationaler Institutionen erleichtert es Staaten, Regeln zu umgehen

von Benjamin Faude



Kurz gefasst: Global Governance besteht aus einer Vielzahl internationaler Institutionen, die nur für abgegrenzte Themenbereiche Autorität besitzen. Ihre Regelungsaktivitäten werden nicht durch eine zentrale Koordinationsinstanz aufeinander abgestimmt. Gleichwohl haben die Entscheidungen, die eine zunehmende Zahl internationaler Institutionen in ihren Regelungsbereichen treffen, häufig Auswirkungen auf die Regelungsbereiche anderer Institutionen. Hieraus ergeben sich für Staaten neue Möglichkeiten strategischen Handelns, die wiederum einen Bedarf an interinstitutioneller Koordination begründen, der von den interdependenten Institutionen selbst gedeckt werden muss.


Wer hat das letzte Wort, wenn es um interinstitutionelle Entscheidungsprozesse auf globaler Ebene geht? Wer ist dann die entscheidende Autorität in der Global Governance? Diese sollte im Idealfall kohärent, effektiv und legitim sein - ein Unterfangen, das durch ihre flickwerkartige Grundstruktur erschwert wird. Denn Global Governance besteht aus einer Vielzahl privater und öffentlicher internationaler Institutionen, die nur für abgegrenzte Themenbereiche Autorität besitzen und deren Regelungsaktivitäten nicht durch eine zentrale Koordinationsinstanz aufeinander abgestimmt werden. Im Gegensatz zum Nationalstaat und zur Europäischen Union (EU) fehlt es auf globaler Ebene an einer Autorität, die bei Konflikten zwischen verschiedenen Politikfeldern vermittelt und am Ende eine Entscheidung trifft - sozusagen eine Kompetenz-Kompetenz hat.

Dies ist vor allem deshalb relevant, weil die Zahl internationaler Institutionen stetig zunimmt und deren Entscheidungen häufig Auswirkungen in den Regelungsbereichen anderer Institutionen haben. Zwei Beispiele illustrieren dies: Die handelsbeschränkenden Regelungen verschiedener internationaler Umweltinstitutionen stehen im Gegensatz zum Ziel der Welthandelsorganisation (WTO), den internationalen Handel auf Basis des Prinzips der Nichtdiskriminierung zu liberalisieren. Die Stärkung des internationalen Schutzes geistiger Eigentumsrechte durch das im Rahmen der WTO verabschiedete TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) generiert in armen Teilen der Welt Probleme für die öffentliche Gesundheit und dringt auf diese Weise in den Regelungsbereich der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der gestärkte Patentschutz pharmazeutischer Produkte zu steigenden Arzneimittelpreisen führt, was in armen Teilen der Welt den Zugang zu essenziellen Arzneimitteln erschwert.

Diese Situation der überlappenden Regelungsbereiche internationaler Institutionen hat Konsequenzen für das Handeln von Staaten. Sie bietet diesen die Möglichkeit, zur Verfolgung ihrer Interessen auf neue Formen strategischen Handelns zurückzugreifen. Insbesondere haben Staaten die Möglichkeit zum forum shopping: Wenn mehrere internationale Institutionen sich mit einem (politikfeldübergreifenden) Themenbereich befassen, können Staaten die jeweils opportun erscheinende Institution auswählen, um ihre politischen Ziele zu verfolgen. Staaten verfolgen ihre politischen Ziele also nicht mehr institutionenspezifisch in einzelnen internationalen Institutionen, die als separat wahrgenommen werden. Vielmehr richten sie ihr Verhalten an einer fragmentierten Institutionenlandschaft aus und nutzen interinstitutionelle Einflussbeziehungen zur Verfolgung politischer Ziele aus. Beispielsweise schufen die Staaten, die den internationalen Handel mit genmodifizierten Organismen restriktiv regulieren wollen, mit dem Cartagena-Protokoll zur Biosicherheit im Rahmen der Biodiversitätskonvention eine Konkurrenzinstitution zur WTO, die liberal reguliert. Mit dem Cartagena-Protokoll, das wesentlich restriktiver reguliert, setzte man die WTO interinstitutionell unter Wettbewerbsdruck. Damit verfolgten diese Länder das Ziel, die WTO zu einer restriktiveren Regulierung des internationalen Handels mit genmodifizierten Organismen - und damit zu einer Anpassung ihrer Regeln - zu drängen.

Zwei Arten des forum shopping illustrieren, wie sich Staaten die fragmentierte Institutionenlandschaft auf internationaler Ebene zunutze machen können: Bei der inhaltlichen Umsetzung internationaler Regeln können Staaten im Fall von Regelinkonsistenzen auswählen, welche institutionellen Regeln sie für ihr Verhalten als maßgeblich ansehen. Sie haben also die Möglichkeit, kollektiv vereinbarte und allgemein verbindliche Regeln selektiv umzusetzen. Dabei können sie auf die Regeln konkurrierender Institutionen verweisen. Genau diese Möglichkeit wollten diejenigen Länder, die den internationalen Handel mit genmodifizierten Organismen restriktiv regulieren möchten, durch den Abschluss des Cartagena-Protokolls schaffen. Staaten bestimmen durch ihre selektive Umsetzung, inwiefern konträr zueinander liegende Regelungen - und damit gleichermaßen als legitim anerkannte Interessen - ausbalanciert werden. Schränkt die Mehrzahl der Staaten also aus Umweltschutzgründen - und in Widerspruch zu den Regeln der WTO - den internationalen Handel ein, werden die Umweltschutzinteressen betont. Widersetzt sich die Mehrzahl der Staaten hingegen auf der Umsetzungsebene den handelsbeschränkenden Regelungen internationaler Umweltinstitutionen, so gewinnen die Liberalisierungs- und Wirtschaftsinteressen die Oberhand.

Eine weitere Art des forum shopping ist die aktuelle Tendenz von Staaten, unterschiedliche Streitschlichtungsmechanismen zur Lösung desselben Streitfalls oder inhaltlich zusammenhängender Streitfälle anzurufen. Beispielsweise sind in der internationalen Handelspolitik verschiedene Streitfälle nacheinander sowohl dem Streitschlichtungsorgan eines regionalen Integrationsprojektes (außerhalb Europas) als auch dem Streitschlichtungsmechanismus der globalen WTO zur Entscheidung vorgelegt worden. Entscheidungen unterschiedlicher Streitschlichtungsorgane stehen dadurch bestenfalls nebeneinander und schlechtestenfalls im direkten Widerspruch zueinander. Die Lösung eines zwischenstaatlichen Streitfalls durch die Streitschlichtungsmechanismen internationaler Institutionen wird so erschwert und bei zwei widersprüchlichen Entscheidungen sogar blockiert.

Überlappende Kompetenzbereiche haben somit nicht nur für Staaten, sondern auch für die Institutionen selbst Konsequenzen. So kann es zu Kompetenzstreitigkeiten (turf wars) zwischen ihnen kommen. Jede Institution ist daran interessiert, dass ihre Regeln für staatliches Verhalten maßgeblich sind, und ist versucht, die Regelungskompetenzen des inhaltlichen Überlappungsbereichs zu monopolisieren - ein Phänomen, das wir aus dem Nationalstaat bereits kennen. In Deutschland werden uns Kompetenzstreitigkeiten beispielsweise in Zusammenhang mit der sogenannten Energiewende zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium vor Augen geführt.

Kompetenzstreitigkeiten zwischen internationalen Institutionen führen an ihren Schnittstellen daher zur Herausbildung interinstitutionellen Wettbewerbs um Regelungskompetenzen und finanzielle Ressourcen. Internationale Institutionen haben ein Interesse daran, Regelungsfunktionen dauerhaft auszuüben und die dafür notwendigen Ressourcen von Staaten zu bekommen. Wenn nun Staaten bestimmte Regelungstätigkeiten einer Institution nicht mehr nachfragen, weil diese Tätigkeiten von einem institutionellen Wettbewerber besser erfüllt werden, droht der Verlust dieser Ressourcen. So verlor beispielsweise die WHO in den 1990er Jahren als Folge einer wahrgenommenen Ineffizienz Teile ihres von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellten Budgets an die Weltbank, von der sich die Staaten eine bessere Bearbeitung des Themenbereichs Weltgesundheit versprachen.

Internationale Institutionen müssen also darauf achten, für die sie tragenden Mitgliedsstaaten relevant zu bleiben. Insofern impliziert interinstitutioneller Wettbewerb dauerhaften Anpassungsdruck für die konkurrierenden Institutionen. Wir können davon ausgehen, dass der interinstitutionelle Wettbewerb so lange bestehen bleibt, wie es Kompetenzstreitigkeiten zwischen den konkurrierenden Institutionen und somit Möglichkeiten zum forum shopping gibt. Der Wettbewerb dürfte umso ausgeprägter sein, je inkompatibler die Regelungsziele der konkurrierenden Institutionen sind.

Aus der Ordnungsperspektive des Forschungsprogramms Global Governance besteht die wichtigste negative Konsequenz interinstitutionellen Wettbewerbs in der Neigung staatlicher Akteure, sich weniger konsequent an internationale Regeln zu halten. Deshalb müssten die Regelungsaktivitäten der einzelnen Institutionen so koordiniert werden, dass die Regelwerke Bestandteile einer kohärenten Global Governance werden und den Staaten weniger Schlupflöcher und Ausweichmöglichkeiten bieten, die durch forum shopping ausgenutzt werden können. Es wäre also hilfreich, wenn es eine zentrale Koordinationsinstanz geben würde, die an den Schnittstellen internationaler Institutionen Kohärenz herstellen kann.

Aber auf internationaler Ebene fehlt eine hierarchische Koordinationsinstanz, die mit Entscheidungskompetenz ausgestattet ist. Somit muss der Koordinationsbedarf durch die überlappenden internationalen Institutionen selbst gedeckt werden. Dies vollzieht sich am häufigsten durch die Herausbildung einer (nicht formalisierten) Arbeitsteilung zwischen internationalen Institutionen in einem Prozess spontaner Ordnungsbildung: Eine der konkurrierenden Institutionen spezialisiert sich auf die Erfüllung eines Teils der im Überlappungsbereich zu erfüllenden Regelungstätigkeiten und überlässt andere Regelungstätigkeiten den Konkurrenten, die sich entsprechend spezialisieren. So hat sich beispielsweise die WTO im erwähnten Überlappungsbereich mit internationalen Umweltinstitutionen davon zurückgezogen, die spezifischen Bestimmungen der Handelsrestriktionen aus Umweltschutzgründen bestimmen zu wollen. Sie hat sich stattdessen auf die Ausarbeitung allgemeiner Kriterien für die Anwendung dieser Handelsrestriktionen konzentriert und dabei betont, dass diese den internationalen Handel so wenig wie möglich einschränken sollten. Komplementär dazu haben sich die internationalen Umweltschutzinstitutionen darauf konzentriert, im Rahmen dieser allgemeinen Kriterien die spezifischen Ausgestaltungen der Handelsrestriktionen aus Umweltschutzgründen festzulegen, und dabei die von der WTO entwickelten allgemeinen Kriterien akzeptiert.

Solche Prozesse spontaner Ordnungsbildung haben Vor- und Nachteile. Zum einen kann auf diese Weise Kohärenz zwischen den Regelungsbemühungen unterschiedlicher internationaler Institutionen hergestellt werden. Die Ergebnisse empirischer Forschung sind in dieser Hinsicht sogar sehr ermutigend. In meiner Dissertation konnte ich zeigen, dass die Tendenz zur Ausbildung einer institutionalisierten Arbeitsteilung auch dann zu beobachten ist, wenn dem starke Interessengegensätze zwischen staatlichen Akteuren entgegenstehen. Das wäre eigentlich nicht zu erwarten, weil Staaten gerade bei starken Interessengegensätzen an der Aufrechterhaltung der Möglichkeiten zum forum shopping interessiert sind; sie können dann weiterhin unliebsame internationale Verpflichtungen interinstitutionell umgehen. Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass es eine generelle Tendenz zur Ausbildung einer Arbeitsteilung zwischen konkurrierenden internationalen Institutionen gibt, die wir als eine neue (interinstitutionelle) Dimension politischer Ordnungsbildung auf internationaler Ebene begreifen können.

Ein bedeutender Nachteil dieses Prozesses spontaner Ordnugsbildung zwischen internationalen Institutionen ist seine Exklusivität: Sehr häufig wird die Frage, wie genau zwischen zwei Politikbereichen koordiniert werden soll, von staatlichen Repräsentanten und Experten der einzelnen Institutionen entschieden; einen begleitenden öffentlichen Diskussionsprozess auf transnationaler Ebene gibt es meist nicht. Die Rückbindung an öffentlich geteilte Grundwerte, demokratische Beteiligungsrechte oder andere Legitimitätsquellen können diese Prozesse stärken und die so vorangetriebene Koordination legitimatorisch besser stützen.


Benjamin Faude ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Global Governance. Er forscht über institutionelle Komplexe und institutionelle Wechselwirkung, die Verrechtlichung und Konstitutionalisierung der internationalen Politik sowie Fragen regionaler Integration.
benjamin.faude@wzb.eu


Literatur

Faude, Benjamin: "Paradoxe Verrechtlichtung. Wie Streitschlichtungsmechanismen interagieren". In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 2011, Jg. 18, Nr. 1, S. 77-108.

Faude, Benjamin: Die Herausbildung inter-institutioneller Ordnungsstrukturen internationalen Regierens. Wie aus Konkurrenz Arbeitsteilung entsteht. Unveröffentlichte Dissertationsschrift. Universität Bamberg 2013.

Gehring, Thomas/Faude, Benjamin: "The Dynamics of Regime Complexes: Microfoundations and Systemic Effects". In: Global Governance, 2013, Vol. 19, No. 1, pp. 119-130.

Gehring, Thomas/Faude, Benjamin: A Theory of Emerging Order within Institutional Complexes. How Inter-Institutional Competition Leads To Institutional Specialization and Interlocking Governance Structures. Unveröffentliches Arbeitspapier, 2013.

Zürn, Michael/Faude, Benjamin: "On Fragmentation, Differentiation, and Coordination". In: Global Environmental Politics, 2013, Vol. 13, No. 3, pp. 119-130.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 141, September 2013, Seite 10-12
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2013