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STANDPUNKT/356: Gott segne Putin (Uri Avnery)


Gott segne Putin

von Uri Avnery, 8. März 2014



BENJAMIN NETANJAHU ist ein sehr guter Redner, besonders vor Juden, Neokonservativen und ähnlichen Leuten, die aufspringen und ihm wild applaudieren, egal, was er sagt, einschließlich, dass morgen die Sonne im Westen aufgeht.

Die Frage ist: Kann er sonst noch irgendetwas?

Sein Vater, ein ultra-ultra-Rechter, sagte einmal über ihn, dass er sich gar nicht als Ministerpräsident eignen würde, aber er könnte ein guter Außenminister werden. Was er meinte, war, dass Benjamin nicht das tiefe Verständnis hat, das nötig sei, um eine Nation zu führen, aber dass er gut sei, irgendeine Politik, die von einem echten Führer bestimmt worden sei, zu verkaufen.

(Erinnern wir uns an die Charakterisierung Abba Ebans durch David Ben Gurion: "Er kann sehr gut erklären, aber man muss ihm sagen, was er erklären soll.")

In dieser Woche wurde Netanjahu nach Washington gerufen. Er sollte vermutlich John Kerrys neues "Rahmenabkommen" billigen, das als Grundlage für einen neuen Start der Friedensverhandlungen dienen soll, die bis jetzt zu nichts geführt haben.

Am Vorabend des Ereignisses gab Präsident Barack Obama einem jüdischen Journalisten ein Interview, in dem er Netanjahu beschuldigte, den "Friedensprozess" hinauszuzögern - als ob es wirklich einen Friedensprozess gegeben hätte.

Netanjahu kam mit einer leeren Aktentasche - womit ich meine, mit einer Tasche voll leerer Parolen: Die israelische Führung habe mächtig für Frieden gekämpft, käme aber wegen der Palästinenser überhaupt nicht voran. Mahmoud Abbas solle man anklagen, weil er sich weigert, Israel als den Nationalstaat des jüdischen Volkes anzuerkennen.

Und was, ähmm, ist mit den Siedlungen, die während des letzten Jahres mit rasender Geschwindigkeit erweitert wurden? Warum sollten die Palästinenser endlos verhandeln, während die israelische Regierung immer mehr Land in Besitz nimmt, das zur Substanz der Verhandlungen gehört? (s. das klassisch palästinensische Argument: "Wir verhandeln über die Teilung einer Pizza, und in der Zwischenzeit isst Israel die Pizza auf.")

Obama wappnete sich, sich mit Netanjahu, der AIPAC und ihren Strohmännern des Kongresses auseinanderzusetzen. Er wollte Netanjahu die Arme auf den Rücken drehen, bis er aufgibt und Kerrys "Rahmenabkommen" annimmt, das bis jetzt so verwässert worden ist, dass es fast wie ein zionistisches Manifest aussieht. Kerry arbeitet fieberhaft an einem Abkommen, egal, ob es zufriedenstellend ist oder nicht.

Netanjahu, der nach etwas Ausschau hielt, um den Angriff zurückzuweisen, war bereit, wie gewöhnlich "Iran! Iran! Iran!" zu schreien - als etwas Unvorhergesehenes geschah.


NAPOLEON MACHTE einmal den berühmten Ausspruch: "Gebt mir Generäle, die Glück haben!" Er hätte General Bibi geliebt.

Als Netanjahu nämlich auf dem Weg war, dem neu gestärkten Obama entgegenzutreten, erschütterte eine Explosion die Welt.

Die Ukraine.

Man könnte es mit den Schüssen, die vor hundert Jahren aus Sarajevo ertönten, vergleichen. Die internationale Ruhe war plötzlich zerstört. Die Möglichkeit eines größeren Krieges lag in der Luft.

Netanjahus Besuch verschwand aus den Nachrichten. Obama war mit einer historischen Krise beschäftigt, und wünschte, Netanjahu so schnell wie möglich los zu werden. Statt einen strengen Verweis zu bekommen, kam der israelische Führer mit einigen hohlen Komplimenten davon. All die wunderbaren Reden, die Netanjahu vorbereitet hatte, wurden nicht gehalten. Sogar seine gewöhnlich triumphierende Rede vor der AIPAC erweckte kein Interesse.

Alles nur wegen des Aufstandes in Kiew.


BIS JETZT sind schon unzählige Artikel über die Krise geschrieben worden. Historische Assoziationen gibt es en masse.

Obwohl Ukraine "Grenzland" bedeutet, war es oft im Zentrum europäischer Ereignisse. Die ukrainischen Schulkinder muss man bedauern. Die Veränderungen in der Geschichte ihres Landes dauern an und sind extrem. Während verschiedener Zeiten war die Ukraine eine europäische Macht oder ein armes geknechtetes Gebiet, äußerst reich ("der Brotkorb Europas") oder erbärmlich arm, von Nachbarn angegriffen, die die Bewohner einfingen und als Sklaven verkauften, oder sie griffen selbst ihre Nachbarn an, um ihr Land zu vergrößern.

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sind sogar noch komplizierter. In gewisser Weise ist die Ukraine das Herzland der russischen Kultur, Religion und der Orthographie. Kiew war bei weitem bedeutender als Moskau, bevor dieses zum Mittelpunkt des Moskauer Imperialismus' wurde.

Im Krimkrieg 1850 kämpfte Russland tapfer gegen eine Koalition aus Großbritannien, Frankreich, dem Ottomanischen Reich und Sardinien und verlor schließlich. Der Krieg war wegen der christlichen Rechte in Jerusalem ausgebrochen und schloss eine lange Belagerung von Sewastapol ein. Die Welt erinnert sich noch an den Angriff "der Leichten Brigade". Eine Engländerin mit Namen Florence Nightingale baute die erste Organisation auf, die sich um Verwundete auf dem Schlachtfeld kümmerte. Daraus entstand das Rote Kreuz.

In der Zeit meines Lebens ermordete Stalin Millionen von Ukrainern durch bewusstes Aushungern. Eine Folge davon war, dass die meisten Ukrainer die deutsche Wehrmacht 1941 als Befreier willkommen hieß. Es hätte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein können, aber leider hatte Hitler vor, die ukrainischen "Untermenschen" auszurotten, um die Ukraine in den deutschen "Lebensraum" zu integrieren.

Die Krimbevölkerung litt schrecklich. Das tartarische Volk, das die Halbinsel in der Vergangenheit beherrschte, wurde nach Zentralasien deportiert, Jahrzehnte später wurde ihm erlaubt, zurückzukehren. Jetzt sind sie eine Minderheit, anscheinend unsicher, wo ihre Loyalität liegt.


DIE BEZIEHUNG zwischen der Ukraine und den Juden ist nicht weniger kompliziert.

Einige jüdische Schriftsteller wie Arthur Köstler und Schlomo Sand glauben, dass das Khazarenreich, das vor tausend Jahren die Krim und die benachbarten Gebiete beherrschte, zum Judentum konvertierte, und dass die meisten Aschkenazim von ihnen abstammen. Dies würde uns alle zu Ukrainern machen (Viele frühe zionistische Führer kamen tatsächlich aus der Ukraine.)

Als die Ukraine ein Teil des umfangreichen polnischen Reiches war, nahmen viele polnische Adlige große Ländereien dort in Besitz. Sie beschäftigten Juden als ihre Manager. So betrachteten die ukrainischen Bauern die Juden als Agenten ihrer Unterdrücker, und Antisemitismus wurde zu einem Teil der nationalen Kultur der Ukraine.

Wie wir in der Schule lernten, wurden bei jedem Wandel in der ukrainischen Geschichte Juden ermordet. Die Namen der meisten ukrainischen Volkshelden, Führer und Rebellen, die in ihrer Heimat verehrt wurden, sind im jüdischen Bewusstsein mit schrecklichen Pogromen verbunden.

Der Kossake Hetman (Führer) Bohdan Chmeinytsky, der die Ukraine vom polnischen Joch befreite, und von den Ukrainern als Vater der Nation angesehen wird, war einer der schlimmsten Massenmörder in der jüdischen Geschichte. Symon Petliura, der nach dem 1. Weltkrieg die Ukrainer gegen die Bolschewiken führte, wurde von einem jüdischen Rächer in Paris getötet.

Für einige ältere, jüdische Immigranten in Israel war es schwer zu entscheiden, wen sie mehr hassten, die Ukrainer oder die Russen (von den Polen ganz zu schweigen.)


MENSCHEN IN aller Welt fällt es ebenfalls schwer, sich für eine Seite zu entscheiden.

Die gewöhnlichen kalten Krieger haben es einfacher - sie hassen aus Gewohnheit entweder die Amerikaner oder die Russen.

Was mich betrifft: je mehr ich mich mit der Situation beschäftige, umso unsicherer werde ich. Dies ist keine Schwarz- oder Weiß-Situation. Die erste Sympathie gehört den Maidan Rebellen (Maidan ist ein arabisches Wort und bedeutet Stadtplatz. Seltsam, wie es nach Kiew kam. Wahrscheinlich via Istanbul.)

Sie wollen sich mit dem Westen verbinden, sich der Unabhängigkeit und der Demokratie erfreuen. Was ist falsch daran?

Nichts, außer dass sie zweifelhafte Genossen haben. Neo-Nazis in ihren nachgeahmten Nazi-Uniformen, die mit dem Hitlergruß grüßen, und den Mund voll antisemitischer Sprüche haben, sind nicht sehr reizvoll. Die Ermutigung, die sie von westlichen Verbündeten erhalten, einschließlich der abstoßenden Neokonservativen, ist auch abstoßend.

Auf der anderen Seite ist auch Wladimir Putin nicht sehr einnehmend. Er verkörpert mal wieder den alten russischen Imperialismus.

Der von den Russen benutzte Slogan: die Notwendigkeit, die russisch sprechenden Menschen im Nachbarland zu schützen, klingt doch unheimlich bekannt. Es ist eine genaue Kopie von Hitlers Behauptung, 1938 die Sudetendeutschen vor dem tschechischen Monster zu schützen.

Aber Putin hat einige Logik auf seiner Seite. Sewastopol - das die heroischen Belagerungen im Krim-Krieg und im 2. Weltkrieg erlitt - ist wesentlich für seine Marine. Die Verbindung mit der Ukraine ist ein wichtiger Teil des russischen Strebens nach einer Weltmacht.

Als kaltblütiger, berechnender Akteur, wie man ihn jetzt selten in der Welt findet, spielt Putin die guten Karten, die er hat, sehr vorsichtig aus, um nicht zu viele Risiken auf sich zu nehmen. Er managt die Krise scharfsinnig und nutzt die offensichtlichen Vorteile Russlands: Europa benötigt sein Öl und Gas, er benötigt Europas Kapital und Handel. Russland spielt in Syrien und Iran eine führende Rolle. Die USA steht plötzlich wie ein Zuschauer daneben.

Ich vermute, dass es am Ende einen Kompromiss gibt. Russland will einen Fuß in der kommenden ukrainischen Führung haben. Beide Seiten werden den Sieg verkünden, und das ist gut.

(Übrigens für unsere Anhänger der "Ein-Staat-Lösung": wieder scheint ein multikultureller Staat auseinander zu brechen.)


WO WIRD uns Netanjahu hinführen? Netanjahu hat einige Monate oder Jahre gewonnen, ohne sich in Richtung Frieden bewegen zu müssen, und in der Zwischenzeit kann er die Besatzung fortführen und den Siedlungsbau mit großer Geschwindigkeit fortsetzen.

Das ist die traditionelle zionistische Strategie. Zeit ist alles. Jeder Aufschub gibt weitere Möglichkeiten, neue Tatsachen vor Ort zu schaffen. Netanjahus Gebete sind erhört worden.

Gott segne Putin.


Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 08.03.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2014