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STANDPUNKT/400: Hühnerkot (Uri Avnery)


Hühnerkot

von Uri Avnery, 1. November 2014



WENN EIN hochrangiger Regierungsbeamter eines Landes den Führer eines anderen Landes "Chickenshit"(*) nennt, könnte vermutet werden, dass die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht zum Besten stehen. Tatsächlich könnten sie für alles andere als herzlich angesehen werden.

In dieser Woche ist das geschehen. Ein ungenannter sehr hochrangiger US-Beamter sagte es in einem Interview mit jenem angesehenen amerikanischen Journalisten, der den sehr jüdischen Namen Jeffrey Goldberg trägt.

Kein hochrangiger Funktionär würde solch einen Ausdruck ohne die ausdrückliche Genehmigung des Präsidenten der USA öffentlich verwenden.

Die Geschichte hat viele seltsame Beziehungen zwischen Nationen gesehen. Aber ich wage zu behaupten, dass keine seltsamer ist, als die bestehende zwischen Israel und den USA.

Oberflächlich gesehen könnten keine zwei Staaten einander näher sein. Nur ein kleineres Beispiel: An dem Tag, an dem die denkwürdige "Chickenshit"-Bemerkung Schlagzeilen machte, nahm die UN-Generalversammlung eine Resolution an, die die USA aufruft, das 50jährige Embargo gegen Kuba zu beenden. 188 Länder, einschließlich des ganzen Spektrums der EU- und der Nato-Länder, stimmten zu. Zwei Staaten stimmten dagegen: Die USA und Israel.

Zwei Länder gegen die ganze Welt? Nein, nicht ganz. Mikronesien, Palau und die Marschall-Inseln enthielten sich. (Diese drei mächtigen Inselnationen unterstützen gewöhnlich auch Israel, obwohl nur wenige Israelis sie auf einer Karte im Atlas finden könnten.)

Jahrelang stand Israel bei Hunderten von UN-Abstimmungen loyal zu den USA und umgekehrt. Eine unerschütterliche Allianz - so schien es. Und jetzt nennen sie unseren tapferen Ministerpräsidenten "Chickenshit"?


DER REGIERUNGSVERTRETER begründete seine unhöfliche Bemerkung mit Benjamin Netanjahus Ablehnung, den Iran zu bombardieren, was er wiederholt angedroht hatte, als auch mit Netanjahus fehlender Bereitschaft, mit den Palästinensern Frieden zu schließen.

Die erste Anklage ist unbegründet, da Netanjahu nie ernsthaft daran dachte, den Iran anzugreifen. Einige meiner Leser mögen sich daran erinnern, dass ich vom ersten Tag an ihnen versicherte, dass solch ein Angriff nicht geschehen würde. Dabei habe ich mir für den Fall, dass ich mich geirrt hätte, keine Hintertür offengehalten. Ich wusste, dass solch ein Angriff gar nicht infrage kam. Und nicht nur, weil das ganze israelische Verteidigungsestablishment dagegen war.

Die zweite Anklage ist sogar noch grundloser. Netanjahu drücke sich davor, Frieden zu schließen. Dies würde voraussetzen, dass er überhaupt Frieden will. Falls die Amerikaner das wirklich glauben, sollten sie ein paar gute Artikel lesen, (speziell die meinigen).

Netanjahu hat nie auch nur einen Moment lang die Idee in Erwägung gezogen, Frieden zu schließen. Seine ganze Erziehung schließt dies völlig aus. Sein verstorbener Vater Ben-Zion war ein so extremer und unbeugsamer Nationalist, dass verglichen mit ihm, Vladimir Jabotinsky, der Führer der Zionisten vom Rechten Flügel, wie ein linker Pazifist erschien.

Jedes Wort, das Benjamin Netanjahu jemals zu Gunsten von Frieden und der Zwei-Staaten-Lösung äußerte, war eine glatte Lüge. Einen palästinensischen Staat anzuerkennen, ist für ihn so, als wäre der Oberrabbiner damit einverstanden, an Jom Kippur Schweinefleisch zu essen.

Jeder amerikanische Diplomat, der das nicht weiß, sollte sofort nach Mikronesien (oder Palau) versetzt werden.


SEIT KURZEM scheint es, als tue Netanjahu alles, was in seiner Macht steht, um einen Streit mit der US-Regierung zu provozieren.

Auf den ersten Blick sieht es wie ein Akt des Wahnsinns aus - ein so gefährlicher Akt, dass jeder kompetente Psychiater ihn in die geschlossene Abteilung einer Irrenanstalt einweisen würde.

Israel ist von den USA total abhängig - nicht 99%ig, sondern 100%ig. An genau demselben Tag an dem die "Chickenshit"-Äußerung veröffentlicht wurde, waren die USA damit einverstanden, Israel eine zweite Schwadron von F-35-Kampfflugzeugen zu verkaufen, und zwar nach dem Verkauf der ersten 19 Flugzeuge (die 2,35 Milliarden Dollar kosten). Das Geld dafür kommt aus dem jährlichen Tribut, den die USA Israel zahlen.

Ohne das automatische US-Veto auf jede UN-Sicherheitsrat-Resolution, die nicht von der israelischen Regierung gebilligt wurde, hätte es längst schon einen Staat Palästina als anerkanntes Mitglied der UN gegeben. Ein Eckpfeiler unserer Auslandsbeziehungen ist der Glaube vieler Länder, dass sie, wenn sie die Gunst des US-Kongresses gewinnen wollten, zuerst einmal dessen Torwächter Israel bestechen müssten. Und so weiter.

Buchstäblich jeder Israeli ist davon überzeugt, unsere Beziehungen mit den USA seien die Lebensadern des Staates. Falls es da überhaupt etwas gibt, das Israelis aller Altersstufen, Gemeinschaften, Glauben und politischer Orientierungen eint, so ist es diese Überzeugung.

Wie kommt es dann, dass unser Ministerpräsident Tag und Nacht daran arbeitet, die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen zu zerstören?

Als unser Verteidigungsminister Moshe Ya'alon in dieser Woche Washington DC besuchte, wurden alle seine Anfragen, US-Kabinett-Minister und andere hohe Amtspersonen zu treffen, kategorisch abgelehnt - mit Ausnahme eines Treffens mit seinem Kollegen Chuck Hagel, der nicht gut absagen konnte. Das war eine noch nie da gewesene, offene Beleidigung.

Ya'alon, ein früherer Stabschef der Armee, wird nicht gerade als ein Genie angesehen. Einige glauben, dass es besser gewesen wäre, wenn er in seinem früheren Beruf geblieben wäre - in einem Kibbuz als Kuhmelker. Als er erklärte, John Kerry leide mit seinen Bemühungen, Frieden zwischen Israel und Palästina herzustellen, an "zwanghaftem Messianismus", waren Kerry und Präsident Barack Obama zutiefst beleidigt.

Aber solche Äußerungen von israelischen Kabinettsministern sind schon zur Routine geworden. Ebenso die scharfen Widerlegungen offizieller US-Regierungssprecher. Diese werden von der israelischen Öffentlichkeit ignoriert.


BENJAMIN NETANJAHU ist kein Tor. "Chickenshit" oder nicht, im Gegensatz zu Ya'alon wird er als gewieft und intelligent angesehen. Was tut er also?

Sein Wahnsinn hat Methode.

Netanjahu wuchs in den USA auf. Als sein Vater von der israelischen akademischen Welt boykottiert wurde, weil sie sich weigerte, ihn als Historiker ernst zu nehmen, zog die Familie in einen Vorort von Philadelphia. Benjamin brüstet sich, intime Kenntnisse über die USA zu haben.

Was hat er vor?

Er weiß, Israel kontrolliert den US-Kongress. Kein amerikanischer Politiker könnte möglicherweise wiedergewählt werden, wenn er nur die leiseste Andeutung von Kritik am "Jüdischen Staat" übte. Dafür würde AIPAC schon sorgen, die mächtigste Lobby in Washington (außer der Nationalen Rifle-Vereinigung). Der mächtige Einfluss, den die jüdische Lobby auf die Medien hat, ist eine weitere Garantie.

Nach Netanjahus Sicht wird der Präsident bei jeder Israel betreffenden Konfrontation zwischen dem Kongress und dem Weißen Haus unterliegen. Man muss also nichts fürchten.


NETANJAHU spielt mit all dem Kapital Israels im großen Kasino, USA genannt, in der Tat Roulette. Vielleicht ist er von seinem Mentor und Beschützer, dem Casino-Zar Sheldon Adelson, angesteckt worden, der beim Dirigieren der israelischen Politik in den USA seine Hand im Spiel hat.

(Adelson war es, der den israelischen Botschafter in Washington ernannte: Ron Dremer, ein prominenter Aktivist der republikanischen Partei, der vom Weißen Haus verabscheut wird.)

Um das Ausmaß von Netanjahus Spiel, in dem er uns als Chips benutzt, einzuschätzen, muss man sich den Zustand der Union vor Augen halten.

Die USA sind jetzt eine zerrüttete Demokratie.

In einer normalen Demokratie - nehmen wir Großbritannien oder Deutschland - gibt es zwei zentrale Parteien oder Parteikoalitionen, die einander gegenüber stehen. Sie gehören beide dem "Mainstream" an, und die Unterschiede zwischen ihnen sind gering. Sie wechseln einander ohne viel Aufhebens von Zeit zu Zeit ab. Die Bürger bemerken es kaum.

Nicht in den USA. Nicht mehr.

Die amerikanische Öffentlichkeit ist jetzt in zwei Lager gespalten, die einander aus tiefstem Herzen (wenn sie eines haben) hassen. Dieser Hass ist abgrundtief. Die eine ist die Partei der Superreichen, die ihre Privilegien verteidigen; die andern gehören zu den moderat Reichen, die ihren eigenen Interessen dienen.

Die Ideologien der zwei Lager sind einander diametral entgegen gesetzt. Deshalb können sie sich praktisch auf nichts einigen. Alles, was die Demokraten tun, wird von den Republikanern fast als Verrat angesehen; alles, was die Republikaner befürworten, wird von den Demokraten als stupide, wenn nicht gar als verrückt angesehen.

Die Republikaner, die den Kongress kontrollieren (und womöglich in ein paar Tagen noch mehr) sind dabei, die Regierung lahm zu legen. Einmal unterbanden sie sogar alle föderalen Zahlungen und machten so das Regieren des Staates unmöglich. Eine konsequente gemeinsame Außenpolitik kommt nicht in Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob die Situation am Vorabend des großen Bürgerkrieges noch viel schlimmer war.


IN DIESE verrückte Situation hat sich Netanjahu gestürzt. Er hat all seine Chips (uns) auf die Republikaner gesetzt.

Während der letzten Präsidentschaftswahlen hat er fast offen Mitt Romney, den Opponenten von Obama, unterstützt und so der gegenwärtigen Regierung praktisch den Krieg erklärt. Die radikalen Anti-Obama-Äußerungen, die israelische Führer jetzt von sich geben, werden von republikanischen Kandidaten gegen ihre demokratischen Gegner eingesetzt - oder sind dafür gedacht, dafür eingesetzt zu werden.

Die Demokraten unternehmen gewaltige Anstrengungen, die jüdischen Wähler und Spender zu umwerben, ihnen mit den haarsträubendsten Ausdrücken zu schmeicheln und ihnen zu versichern, jede Aktion der israelischen Regierung, egal was es sein mag, zu unterstützen - jetzt und in alle Ewigkeit. Damit stoßen sie unbeabsichtigt den israelischen Friedenskräften einen Dolch in den Rücken und machen dadurch den Kampf für Frieden noch viel schwieriger.

Aber selbst wenn die Zwischenwahlen nächste Woche dazu führen, dass das Unterhaus und der Senat noch dienstbarer dem israelischen Rechten Flügel gegenüber wird, wird Obama noch zwei Jahre lang im Amt sein. Auf jeden Fall braucht er keine Wahlen mehr zu fürchten. Er wird freier sein als vorher, um Netanjahu zu blockieren.

Ich wünschte, er würde dies tun. Aber ich hege nicht zu viel Hoffnung. Selbst als "lame duck"(**) muss er noch die Interessen des nächsten demokratischen Kandidaten für das Weiße Haus berücksichtigen.


OBAMA KÖNNTE noch eine Menge für den Frieden zwischen Israel und Palästina tun, einen Frieden, der vom ganzen pro-amerikanisch-arabischen Block unterstützt wird - etwas, das eindeutig im nationalen Interesse der USA wäre, und nicht weniger in unserem.

Aber dafür ist Mut nötig, und - ja - ein bisschen mehr zwanghafter Messianismus.


Anmerkungen:
(*) Chickenshit ist der vulgär-amerikanische Ausdruck für Feigling
(**) Als lame duck werden Politiker bezeichnet, die nicht mehr zur Wiederwahl antreten



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 01.11.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2014