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STANDPUNKT/456: Ein Albtraum bei Tag und bei Nacht (Uri Avnery)


Ein Albtraum bei Tag und bei Nacht

von Uri Avnery, 9. Mai 2015


BENJAMIN NETANJAHU scheint jetzt von jedermann verachtet zu werden. Fast so sehr wie seine sich ständig einmischende Ehefrau Sarah'le.

Vor sechs Wochen war Netanjahu der große Sieger. Im Gegensatz zu allen Volksbefragungen errang er im letzten Augenblick einen Überraschungssieg, gewann 30 von den 120 Knesset-Sitzen und ließ die Laborpartei ("Das Zionistische Lager" genannt) weit hinter sich zurück.

Diese übrigen Sitze kamen nicht von der Linken. Sie kamen von seinen nächsten Konkurrenten, den Parteien der Rechten.

Trotzdem war es ein großer persönlicher Triumpf. Netanjahu war voll überschwänglicher Freude. Sarah'le strahlte. Netanjahu ließ keinen Zweifel daran, dass er jetzt der Meister der Welt sei und entschlossen die Dinge nach seinen Wünschen regeln würde.

In dieser Woche hatte er seine wohl verdiente Strafe bekommen. Am allerletzten Tag der ihm zur Verfügung stehenden Zeit, die ihm das Gesetz für eine neue Regierung ließ, war er nahe dran zu verzweifeln.


EIN ALTES hebräische Sprichwort drückt es kurz und bündig so aus: "Wer ist ein Held? Der aus einem Feind einen Freund macht."

In diesem Sinn ist Netanjahu ein Antiheld. Er hat ein spezielles Talent, aus Freunden Feinde zu machen. Sarah'le ist ihm dabei eine große Hilfe. Winston Churchill gab einmal den Rat, dass man im Augenblick des Sieges großmütig sein solle. Großmut ist aber keine von Netanjahus herausragenden Tugenden. Er machte klar, dass er, und allein er, jetzt der Herr sei.

Direkt nach der Wahl bestimmte Netanjahu, dass die nächste Regierung eine enge Koalition der Orthodoxen mit den rechtesten Parteien sei, die in der Lage seien, endlich all die Dinge zu tun, die er wirklich zu tun wünsche: diesem Zwei-Staaten-Unsinn ein Ende zu setzen, den Obersten Gerichtshof zu beschneiden, die Medien mundtot zu machen und vieles mehr.

Alles ging nun hervorragend. Netanjahu war vom Staatspräsidenten instruiert worden, die nächste Regierung zu bilden, die Koalitionsgespräche gingen reibungslos voran und die Konturen der Koalition wurden klar: Likud, die ashkenazische orthodoxe Torah-Partei, die orientalische orthodoxe Shas-Partei, Moshe Kahlons neue wirtschaftliche Reformpartei, Naftali Bennetts nationalistisch-religiöse Partei und Avigdor Liebermans ultrarechte Partei. Alles zusammen machte komfortable 67 von 120 Knesset-Sitzen aus.

Parteichefs müssen einander nicht lieben, um eine Koalition zu bilden. Sie müssen sich nicht einmal mögen. Aber es ist wirklich nicht sehr angenehm, in einer Regierung zusammenzusitzen, wenn man einander hasst und sich gegenseitig verachtet.


DER ERSTE, der eine Bombe warf, war Avigdor Lieberman. Lieberman wird nicht für einen "echten" Israeli gehalten. Er sieht anders aus, spricht mit einem sehr deutlichen ausländischen Akzent, sein Geist scheint anders zu arbeiten. Obwohl er seit Jahrzehnten in Israel lebt, wird er noch immer für "einen Russen" gehalten. Tatsächlich kam er aus Sowjet-Moldavien.

Es gibt eine Redensart, die Stalin zugesprochen wird: Rache serviert man am besten kalt. An diesem Dienstag, 48 Stunden vor Ende der vom Gesetz festgelegten Regierungsbildung, warf Lieberman seine Bombe.

Bei der Wahl verlor Lieberman mehr als die Hälfte seiner Sitze an den Likud. Seine Partei schrumpfte auf sechs Sitze zusammen. Trotzdem sicherte ihm Netanjahu zu, dass er seinen Posten als Außenminister behalten könne. Es war ein billiges Zugeständnis, da Netanjahu ohnehin alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen selbst trifft.

Ganz plötzlich, ohne dass er provoziert worden wäre, berief Lieberman eine Pressekonferenz ein und machte eine folgenschwere Ankündigung: Er würde sich der neuen Regierung nicht anschließen.

Warum? Alle persönlichen Forderungen Liebermans waren erfüllt worden. Die Gründe, die er nannte, waren offensichtlich vorgeschoben. Zum Beispiel will er, dass "Terroristen" exekutiert werden, eine Forderung, der alle Sicherheitsdienste entschieden widersprechen, denn sie glauben (ganz zu Recht), dass Märtyrer zu schaffen eine sehr schlechte Idee sei. Lieberman möchte auch junge Orthodoxe, die sich weigern, in der Armee zu dienen, ins Gefängnis stecken - eine lächerliche Forderung von einer Regierung erhoben, in der die orthodoxen Parteien eine zentrale Rolle spielen, und so weiter.

Es war ein klarer und eklatanter Akt von Rache. Offensichtlich stand für Lieberman diese Entscheidung von Anfang an fest und er hielt sie bis zum allerletzten Augenblick geheim, bis Netanjahu keine Zeit mehr geblieben war, die Zusammenstellung der Regierung zu ändern, z.B. indem er die Labor-Partei eingeladen hätte.

Es war tatsächlich eine kalt servierte Rache.


OHNE DIE sechs Mitglieder von Liebermans Partei, hat Netanjahu noch eine Mehrheit von 61, gerade genug, um der Knesset die Regierung vorzustellen und die Vertrauensfrage zu stellen. Gerade so.

Eine Regierung mit 61 Abgeordneten ist ein nicht endender Albtraum. Ich würde ihn meinem schlimmsten Feind nicht wünschen.

In solch einer Situation kann kein Koalitionsmitglied ins Ausland reisen, ohne einen Misstrauensantrag der Opposition fürchten zu müssen. Für Israelis ist das schlimmer als der Tod. Die einzige Möglichkeit für einen Knesset-Abgeordneten der Koalition, nach Paris zu reisen, wäre, eine Vereinbarung mit einem Abgeordneten der Opposition zu treffen, der, sagen wir mal, nach Las Vegas reisen will. Eine Hand wäscht die andere, wie man so sagt.

Aber es gibt einen viel schlimmeren Tag- und Nachtalptraum für einen König wie Netanjahu: in einer 61-Mitgliederkoalition "ist jeder Bastard ein König" sagt ein hebräisches Sprichwort. Jedes einzelne Mitglied kann jeden Gesetzentwurf, den die Regierung vorgelegt hat, zu Fall bringen und es kann bewirken, dass ein Antrag der Opposition angenommen wird, indem es bei der entscheidenden Abstimmung abwesend ist.

Jeder Tag wäre ein Kampftag mit vielen Erpressungen. Netanjahu wäre gezwungen, der Marotte jedes Mitgliedes nachzugeben. Selbst in der griechischen Mythologie war eine solche Folter nie erfunden worden.


DAS ERSTE Beispiel gab es schon gleich am ersten Tag nach Liebermans Bombe.

Bennett, der das Koalitions-Abkommen noch nicht unterzeichnet hatte, fand sich nun in der Position, dass es ohne ihn keine Netanjahu-Regierung geben würde. Er strengte sein Gehirn an, um herauszufinden, wie er die Situation ausnützen und etwas mehr bekommen könnte, als ihm schon versprochen worden war (und wie er dabei Netanjahu demütigen könnte). Er kam mit der Forderung, dass Ayelet Schaked Justizministerin werden solle.

Schaked ist die Schönheitskönigin der neuen Knesset. Trotz ihrer 38 Jahre hatte sie eine mädchenhafte Frische. Sie hat auch einen hübschen Namen: Ayelet bedeutet Gazelle, Schaked bedeutet Mandel.

Ihre Mutter war eine linke Lehrerin, aber ihr im Irak geborener Vater war ein rechtes Likud-Mitglied vom Zentral-Komitee. Sie tritt in seine Fußstapfen.

Die mandeläugige Gazelle zeichnet sich durch politische Aktivitäten aus, die sich auf Hass gründen: intensiven Hass auf Araber, Linke, Homosexuelle und ausländische Flüchtlinge. Sie ist die Urheberin eines ständigen Stroms extrem rechter Gesetzesentwürfe. Unter ihnen die scheußlichen Gesetzesvorlagen, die besagen, dass der "jüdische Charakter" Israels Vorrang vor der Demokratie habe und alle Grundgesetze aufhebe. Ihre Hetze gegen die hilflosen Flüchtlinge aus dem Sudan und Eritrea, denen es von dort irgendwie gelang, Israel zu erreichen, ist ein Teil ihrer unermüdlichen Bemühungen. Obgleich sie die Nummer 2 einer religiösen Partei ist, ist sie ganz und gar nicht religiös.

Die Beziehung zwischen ihr und Bennett begann, als beide Angestellte in Netanjahus politischem Büro waren, als er Führer der Opposition war. Irgendwie zogen sich beide den Zorn von Sarah'le zu, die nicht vergessen oder nicht vergeben kann. Übrigens geschah dasselbe auch Lieberman, auch er ein ehemaliger Direktor in Netanjahus Büro.

Nun ist also Zahltag. Netanjahu quälte Bennett während der Verhandlungen und ließ ihn tagelang schwitzen. Bennett nutzte, nachdem Lieberman sich verabschiedet hatte, die Gelegenheit, eine neue Bedingung für seine Teilnahme an der Koalition zu stellen: Schaked muss Justizministerin werden.

Netanjahu, nun jeder praktischen Alternative beraubt, gab der offenen Erpressung nach. Entweder das oder gar keine Regierung.

Nun ist die Gazelle also für den Obersten Gerichtshof verantwortlich, den sie verabscheut. Sie wird den nächsten Generalstaatsanwalt bestimmen (der hier in Israel als Juristischer Berater bezeichnet wird) und das Komitee füllen, das die Richter ernennt. Sie wird auch die Verantwortung für das Komitee der Minister haben, das über die Gesetzesvorlagen entscheidet, die von der Regierung der Knesset vorgelegt werden - und welche nicht.

Keine viel versprechende Situation für die "einzige Demokratie im Nahen Osten".


NETANJAHU IST viel zu erfahren, als dass er nicht wüsste, dass er auf die Dauer mit einer so wackeligen Koalition nicht regieren kann. In naher Zukunft braucht er wenigstens einen weiteren Partner. Aber wo soll er ihn finden?

Die arabische Partei ist offensichtlich draußen. Auch Merez. So auch Yair Lapids Partei und zwar aus dem einzigen Grund, weil die Orthodoxen nicht mit ihm gemeinsam in der Regierung sitzen wollen. Also bleibt nur die Labor-Partei (oder das "Zionistische Lager"), übrig.

Offen gesagt, bin ich davon überzeugt, dass Yitzhak Herzog diese gute Gelegenheit ergreifen wird. Ihm muss inzwischen klar geworden sein, dass er nicht der Volkstribun ist, der seine Partei zur Macht führen wird. Er hat weder die Statur eines Apollo noch die Stimme eines Netanjahu. Er hat niemals eine originelle Idee vorgetragen, die zu einem erfolgreichen Protest führte.

Außerdem hat sich die Labor-Partei nie durch Opposition ausgezeichnet. Sie war die Partei, die vor und nach der Staatsgründung 45 Jahre nacheinander an der Macht war. Als Oppositionspartei ist sie armselig, genauso wie auch "Buji" Herzog.

Für Herzog wäre es ideal, wenn er in ein paar Monaten Netanjahus Regierung beitreten könnte. Ausreden finden sich immer: Wir erleben wenigstens einmal im Monat einen nationalen Notfall, der nationale Einheit fordert: Ein kleiner Krieg, Schwierigkeiten mit den USA oder etwas Derartiges. (Allerdings gab John Kerry in dieser Woche dem israelischen Fernsehen ein Interview, das ein Meisterstück an unterwürfiger, kriecherischer Selbsterniedrigung war.)

Herzog zu bekommen, würde nicht leicht sein. Labor ist kein monolithischer Block. Viele seiner Funktionäre bewundern Herzog nicht, betrachten Bennett als Faschisten und Netanjahu als einen gewohnheitsmäßigen Lügner und Betrüger. Aber die Verlockung, an der Regierung teilzuhaben, ist stark; ein Ministersessel ist so bequem.

Ich wette: Netanjahu, der große Überlebenskünstler, wird überleben.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 09.05.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2015

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