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STANDPUNKT/463: Die Karte an der Wand (Uri Avnery)


Die Karte an der Wand

von Uri Avnery, 30. Mai 2015


EIN EHEMALIGER Kabinettsminister, eine (trotz allem) intelligente Person, fragte mich eines Tages: "Nehmen wir an, Ihr Plan wird verwirklicht. Ein palästinensischer Staat entsteht Seite an Seite mit Israel. Ja, sogar eine Art Föderation. Dann wird in ein paar Jahren eine gewalttätige anti-israelische Partei dort an die Macht kommen und alle Verträge zunichte machen. Was dann?

Meine einfache Antwort war: "Israel wird immer mächtig genug sein, um jede Bedrohung zu verhindern".

Das ist wahr, aber das ist nicht die richtige Antwort. Die richtige Antwort liegt in den Lehren der Geschichte.


DIE GESCHICHTE zeigt uns, dass es (mindestens) zwei Arten von Friedensabkommen gibt. Die eine Art, die törichte, gründet sich auf Macht. Die andere, die intelligente, gründet sich auf gemeinsame Interessen.

Das berüchtigtste Beispiel für die erste Art ist der Versailler Vertrag, der dem Ersten Weltkrieg folgte.

Er wurde vier Jahre vor meiner Geburt unterzeichnet - aber als Kind war ich ein Augenzeuge seiner Folgen.

Es war ein "diktierter" Friede. Nach vier Jahren Kampf mit Millionen von Opfern wollten die Sieger den Besiegten ein Maximum an Schaden zufügen.

Große Teile Deutschlands wurden vom Vaterland abgetrennt und den Siegern im Osten und Westen zugesprochen. Riesige Entschädigungssummen wurden Deutschland auferlegt, das schon vom Krieg total erschöpft war.

Am schlimmsten von allem war vielleicht die "Kriegsschuld"-Klausel. Die Ursprünge des Krieges waren mannigfaltig und kompliziert. Ein serbischer Patriot tötete den österreichischen Thronfolger. Österreich antwortete mit einem harschen Ultimatum. Das russische Zarenreich, das sich selbst als der Protektor aller Slaven sah, erklärte eine allgemeine Mobilmachung, um die Österreicher abzuschrecken. Die Russen waren mit den Franzosen verbündet. Um eine gemeinsame Invasion von beiden Seiten zu verhindern, fielen die Deutschen, die mit den Österreichern verbündet waren, in Frankreich ein. Die Idee war, die Franzosen zu schlagen, bevor die schwerfällige russische Mobilisierung vollendet war. Großbritannien, das einen deutschen Sieg fürchtete, eilte den Franzosen zu Hilfe.

Kompliziert? Tatsächlich. Aber die Sieger zwangen die Deutschen, eine Klausel zu unterschreiben, in der sie allein für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht wurden.


ALS ICH in Deutschland zur Schule ging, hing vor meinen Augen eine Landkarte Deutschlands. Sie zeigte die gegenwärtigen Grenzen des Reichs, (wie es damals genannt wurde) und drum herum eine rote Linie, die die Grenzen vor dem Krieg zeigte.

Diese Landkarte hing in jeder Klasse in jeder Schule in Deutschland. Von frühester Kindheit an wurde jeder deutsche Junge und jedes Mädel täglich an die große Ungerechtigkeit erinnert, die dem Vaterland zugefügt worden war, indem große Stücke aus ihm herausgerissen wurden.

Noch schlimmer, jedes deutsche Kind wurde gelehrt, dass sein Vater vier ganze Jahre tapfer gegen einen weit überlegenen Feind gekämpft hatte und sich nur aus reiner Erschöpfung ergeben hatte. Deutschland hatte nur eine kleinere Rolle bei den Ereignissen gespielt, die zum Krieg geführt hatten, aber die ganze Schuld am Krieg wurde ihm aufgebürdet. Ebenso riesige "Reparationen", die die deutsche Wirtschaft ruinierten.

Die Demütigung, einen so ungerechten Vertrag unterschrieben zu haben, war ein permanenter Stachel und wurde zum Schlachtruf Adolf Hitlers und seiner neuen nationalsozialistischen Partei. Die deutschen Politiker, die das Dokument unterzeichnet hatten, wurden ermordet.

Die Geschichte hat die Führer der siegreichen Verbündeten, die diese Bedingungen diktierten, der Dummheit bezichtigt, besonders nachdem der weitsichtige amerikanische Präsident Woodrow Wilson davor gewarnt hatte.

Vielleicht hatten sie keine andere Wahl. Der schreckliche Krieg hatte so intensiven Hass ausgebrütet und die Menschen waren so rachedurstig. Sie zahlten teuer dafür, als Deutschland unter Hitlers Führung den Zweiten Weltkrieg anfing.


DAS ENTGEGENGESETZTE Beispiel bietet der Frieden von Wien 1815 fast hundert Jahre vorher.

Napoleons Truppen hatten große Teile Europas überrannt. Anders als Hitlers Deutschland, brachte Napoleons Frankreich eine zivilisierende Botschaft, aber seine Truppen begingen natürlich auch viele Gräueltaten. Als Frankreich erschöpft war und zusammenbrach, hätten die siegreichen Verbündeten ihm leicht dieselben strafenden und demütigenden Bedingungen auferlegen können, wie es ihre Nachfolger ein Jahrhundert später taten. Sie taten es nicht.

Statt Frankreich wie einen besiegten Feind zu behandeln, luden sie es an den Tisch ein. Napoleons Ex-Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand wurde als einer der Führer, die das künftige Europa gestalten sollten, willkommen geheißen.

Der führende Geist des Wiener Kongresses war Clemens von Metternich, dem der britische Lord Castlereagh gekonnt zur Seite stand. Frankreich wurde ermöglicht, sich innerhalb kurzer Zeit wieder zu erholen.

Einer der großen Bewunderer von Metternich und seinen Kollegen ist Henry Kissinger. Leider tat er das Gegenteil, als er später selbst US-Außenminister wurde.

Das "Konzert der Nationen", das der Frieden von Wien schuf, errichtete ein solides System, das es Europa ermöglichte, fast hundert Jahre in Frieden zu leben - mit ein paar Ausnahmen (dem französisch-preußischen Krieg von 1870). Der Geist seiner Gründer ist heute ein leuchtendes Beispiel an Weisheit.


DER ZWEITE Weltkrieg, der schrecklichste von allen, hätte mit einem zweiten Versailler Vertrag enden können; tat es aber nicht.

Nach Deutschlands bedingungsloser Kapitulation wurde überhaupt kein Friedensvertrag unterzeichnet. Deutschland wurde geteilt. Nach all den schrecklichen Gräueltaten der Nazis war kein großzügiger Friedensvertrag möglich. Deutschland wurde geteilt; aber statt riesige Entschädigungssummen zu zahlen, empfing es - es ist unglaublich - große Geldsummen von den Siegern; so konnte es sich in kurzer Zeit wieder aufbauen. Es verlor eine Menge Land, aber nur wenige Jahrzehnte später wurde Deutschland eine führende Macht in einem vereinten Europa. Ein größerer Krieg ist jetzt in Europa undenkbar.

Winston Churchill und seine Partner hatten offensichtlich die Lektion von Versailles gelernt. Sie widerlegten das populäre Sprichwort, dass niemand irgendetwas aus der Geschichte lerne.

Selbst der neue Staat Israel benahm sich sehr weise - soweit es Deutschland betrifft. Die Kamine von Auschwitz hatten kaum zu rauchen aufgehört, als unter der Führung von David Ben Gurion mit Deutschland ein Vertrag geschlossen wurde. Schade, dass Ben Gurion im Hinblick auf die arabische Welt nicht dieselbe Weisheit zeigte.

Dann kam es zum Moment von Oslo, als alles möglich gewesen wäre. Martin Buber sagte einmal zu mir: "Es gibt einen richtigen Augenblick für eine historische Handlung. Ein Moment davor ist es falsch. Ein Moment danach ist es falsch. Aber für einen Augenblick ist es richtig." Leider erkannte Yitzhak Rabin ihn nicht. Ich zweifle, dass er viel Weltgeschichte kannte.


WAS LERNEN wir daraus? Kissinger schrieb davon in seinen Büchern, bevor er, wie ihm vielfach vorgeworfen wird, Kriegsverbrechen (in Vietnam und Südamerika) beging.

Die Lektion ist: Frieden wird nur dann halten, wenn alle Seiten davon profitieren. Frieden wird nicht halten, wenn einer der Hauptbeteiligten übergangen wird.

Im Moment des Sieges glaubt der Sieger, dass seine Macht ewig ist. Er kann seine Verträge dem Feind diktieren und ihn demütigen. Aber die Geschichte zeigt, dass sich die Machtverhältnisse ändern: Der Starke von heute kann der Schwache von morgen sein. Der Schwache kann stark sein und sich rächen.

Das ist die Lektion, die Israel in sich aufnehmen sollte. Heute sind wir stark und die arabische Welt ist ein Scherbenhaufen. Es wird nicht immer so bleiben.

Ein Friedensvertrag mit Palästina und der arabischen Welt wird halten, falls er weise und großzügig ist. Weise genug, dass das palästinensische Volk oder wenigstens ein großer Teil davon, zu der Schussfolgerung kommen wird, dass es sich lohnt und ehrenhaft ist, ihn zu halten.

Es ist immer gut, eine starke Armee zu haben. Für alle Fälle. Aber die Geschichte zeigt, dass weder starke Armeen noch ein Überfluss an Waffen den Frieden garantieren. Es ist der gute Wille auf beiden Seiten und der gründet sich auf Eigeninteresse.

Und auf die Weisheit der Politiker - die allerdings ist ein seltenes Gut.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 30.05.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2015

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