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STANDPUNKT/478: Warnung vor Kerneuropa (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. Juli 2015 (german-foreign-policy.com)

Warnung vor Kerneuropa


BERLIN/WASHINGTON/ATHEN - Der deutsche Durchmarsch beim EU-Diktat gegen Griechenland erschüttert jetzt auch das transatlantische Verhältnis. Öffentlich fordert der in Washington angesiedelte Internationale Währungsfonds (IWF) einen umfassenden Schuldenschnitt zugunsten Athens oder eine weitgehende Umstrukturierung der Gläubigerforderungen. Die Attacke zielt auf die deutsche Bundesregierung. Eine Erleichterung der griechischen Schuldenlast durch einen "hair cut" hatte das Bundeskanzleramt zuletzt am Dienstag erneut abgelehnt. Um den transatlantischen Druck zu verstärken, kündigt US-Finanzminister Jacob Lew ein Treffen in Berlin an, wo er am heutigen Donnerstag mit seinem Amtskollegen Wolfgang Schäuble sprechen wird. Schäuble hatte Lew bei einem kontroversen Telefonat am 8. Juli mit kompromittierenden Äußerungen überrascht, die er später als "Witze" bezeichnete. Die von Lew terminierte Aussprache findet 24 Stunden vor der morgigen Sondersitzung des Bundestages statt und stellt eine unverhohlene Warnung an die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien dar. Anschließend trifft sich Lew mit dem französischen Finanzminister, der für das von Berlin erzwungene EU-Diktat mitverantwortlich ist. Wegen der französischen Gefolgschaft für die deutsche Europa-Politik ist die US-Regierung beunruhigt. In Konsequenz des Brüsseler Abkommens vom vergangenen Sonntag bereitet sich die deutsche Bundesbank auf eine "Überprüfung" des griechischen Finanzsektors vor. Sollten griechische Banken "abgewickelt" werden müssen, haben ab 22. Juli auch griechische Bankanleger zu haften, heißt es in einer aktuellen Mitteilung der Bundesbank. Die Ankündigung droht mit Enteignungsmaßnahmen. Washington stellt sich der radikalisierten deutschen Wirtschaftspolitik entgegen.

In der am gestrigen Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme des Internationalen Währungsfonds werden entschiedene Erleichterungen für Griechenland gefordert. Die auf Athen lastenden Finanzverpflichtungen seien in der gegenwärtigen Form "unmöglich aufrechtzuerhalten".[1] Verlangt wird eine Stundung über 30 Jahre, ersatzweise die Subventionierung des griechischen Staatshaushalts aus EU-Mitteln oder ein "tiefer Schuldenschnitt".[2] Sämtliche Forderungen widersprechen dem Brüsseler EU-Diktat und insbesondere der bestimmenden Haltung Deutschlands, das in der internationalen Öffentlichkeit einer bespiellosen Erpressung zu Lasten der griechischen Bevölkerung beschuldigt wird.[3] Bei der ausführlichen Stellungnahme des IWF handle sich um eine "Attacke", die bereits zuvor bestehende Widersprüche mit Berlin nun erstmals öffentlich mache, heißt es bei BBC (London).[4]


Geopolitische Folgen

Seit Monaten drängt die Obama-Regierung Deutschland und seine europäischen Gefolgschaftsstaaten, Athen einen tragbaren Kompromiss anzubieten. Mal mit, mal ohne IWF-Begleitung warnte das US-Finanzministerium Anfang Juli, "ein Zusammenbruch Griechenlands würde weltweit wirtschaftliche Schäden in Höhe von hunderten Milliarden Dollar verursachen".[5] Der US-Präsident trug diese Sorge mehrmals telefonisch der deutschen Bundeskanzlerin vor, erhielt jedoch keine präzisen Zusagen. Zeitgleich mit der Stellungnahme des US-Finanzministeriums vom 8. Juli appellierte IWF-Direktorin Christine Lagarde "implizit an Deutschland", die Opposition gegen Schuldenerleichterungen zu beenden. Lagarde blieb ebenfalls ohne eindeutige Antworten. Bei einer Rede in Washington wurde der US-Finanzminister daraufhin noch deutlicher: Mute man dem griechischen Ministerpräsidenten weitere Belastungen der Bevölkerung zu ohne realistische Aussicht auf einen erträglichen Schuldenabtrag, könnten nicht nur die weltweiten Wirtschaftsbeziehungen Schaden nehmen - "ich denke, es wäre auch geopolitisch ein Fehler", sagte Lew und spielte auf die Rolle Griechenlands in der NATO an.


Hypertroph

Die Widersprüche zwischen Washington und Berlin verschärften sich auch auf persönlicher Ebene, als US-Finanzminister Jacob Lew in der vergangenen Woche mit Wolfgang Schäuble telefonierte. "Offenbar weil er es leid war, Anrufe von US-Offiziellen entgegennehmen zu müssen, die auf eine Umschuldung Griechenlands drängten" [6], erwiderte Schäuble die Vorhaltungen seines US-Amtskollegen mit einem Tauschangebot: Wenn die USA Griechenland in die Dollar-Zone übernehmen, würde Deutschland Puerto Rico zum Euro-Land machen. Das herrschaftliche Angebot, das eine deutsche Verfügung über das Wirtschaftsleben eines UNO-Mitglieds und eines US-Außengebiets suggerierte, bezeichnete Schäuble später als "Witz". Schäuble scheute sich nicht, die hypertrophe Erniedrigung der zum Tausch angebotenen Staaten in einem Pressegespräch öffentlich zu machen und US-Finanzminister Lew ("mein Freund") aufs Schwerste zu kompromittieren.


Dilatorisch

Einen letzten Versuch, Berlin zu überzeugen, unternahm der IWF kurz vor dem Brüsseler Gipfel und untermauerte seine Bedenken in einem vertraulichen Papier mit konkreten Zahlen. Demnach liegen die Vorhersagen der Euro-Gruppe über das erwartete griechische Wirtschaftswachstum selbst bei Befolgung weiterer Steuererhöhungen und Staatsverkäufe unrealistisch hoch. Der deutschen wie der französischen Regierung wurde noch einmal nahegelegt, den Bogen nicht zu überspannen und Griechenland um den Preis eines weitgehenden Schuldenschnitts im Euro zu halten. Aber selbst diplomatische Demarchen der US-Seite in der deutschen Hauptstadt wurden sowohl im Bundeskanzleramt wie im Bundesfinanzministerium dilatorisch behandelt.


Alptraum

Konnte die US-Seite hoffen, dass das vertrauliche IWF-Papier und die Telefonate der US-Regierung von den Berliner Verhandlungsführern in Brüssel berücksichtigt werden würden, so offenbarte sich mit dem EU-Diktat vom Wochenende, dass sämtliche Vorhaltungen in den Wind geschlagen worden waren: CDU/CSU und SPD hatten mit dem Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro gespielt und sowohl weltwirtschaftliche wie auch geopolitische Folgen zu Lasten der USA in Kauf genommen; Athen war erniedrigt worden, so dass eine Radikalisierung nicht nur der griechischen Innenpolitik, sondern ebenso der europakritischen Öffentlichkeit in mehreren Ländern des Kontinents die Folge sein könnte. Die ungeheure Brutalität, die dem deutschen Vorgehen weltweit bescheinigt wird [7], kündigt die Entschlossenheit der Bundesregierung an, ihr Wirtschaftsmodell wenn nötig mit Zwang durchzusetzen, um "Kerneuropa" zu errichten - ein Alptraum sowohl liberaler wie konservativer Kreise im US-Senat.


Beispiellos

Vor diesem Hintergrund veröffentlichte der IWF am gestrigen Mittwoch seine Stellungnahme - exakt dasselbe Papier, das der IWF sowohl Berlin wie Paris bereits in der vergangenen Woche überstellt hatte, berichtet BBC.[8] Damit verdeutlicht der Währungsfonds auf auf offener Bühne, dass er das EU-Diktat nicht erst nachträglich missbilligt - er hatte davor gewarnt. Trotz der Einreden aus Washington hielt es Berlin für angebracht, den Oktroy durchzusetzen. Die Athen aufgezwungenen Vereinbarungen werden vom IWF öffentlich für unerfüllbar erklärt. Weitere eigene Verpflichtungen lehnt der Währungsfonds ohne eine faktische Rückabwicklung des Diktats von Brüssel ab. Wie es in ersten Analysen internationaler Medien heißt, ist der Vorgang beispiellos. Der IWF habe deutlich gemacht, dass "Deutschland und der Rest" die vehemente Opposition gegen eine weitgehende Abschreibung der griechischen Schulden aufgeben müssen.


Enteignung

Ungeachtet der transatlantischen Erschütterungen beschleunigt Berlin seine kontinentale Wirtschaftspolitik, die auf ein industrielles Kerneuropa mit deutscher Zentrale und mehreren "Ergänzungsräumen" hinausläuft. Hierbei handelt es sich um Länder, die niedere Funktionen in der grenzüberschreitenden industriellen Montagekette einnehmen und als Käufer bei der Rationalisierung ihrer Produktions-, Verwaltungs- und Konsumtionsstrukturen in Frage kommen. Um auch das Finanzleben zu kontrollieren, bietet Berlin uneigennützige Unterstützung beim Umstrukturieren des jeweiligen Bankensektors an - so in Griechenland mittels einer aus der BRD gesteuerten "Entwicklungsbank", die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) immer wieder offeriert.[9] Voraussetzung ist die jetzt erzwungene Aufgabe hoheitlicher Rechte, zu denen nicht zuletzt die griechische Kontrolle über das Finanzwesen gehört. Nach dem Brüsseler Diktat sieht die deutsche Bundesbank den Augenblick gekommen, den gesamten griechischen Finanzsektor zu übernehmen. Laut einer gestrigen Pressemitteilung fordert die staatliche deutsche Münze eine sofortige "Überprüfung der griechischen Finanzbranche".[10] Athen habe bereits bis zum 22. Juli und nicht erst bis zum Pflichttermin im Januar 2016 "die europäische Abwicklungsrichtlinie ... in nationales Recht umzusetzen". Laut Bundesbank-Vorstand Dombret bestünden "Zweifel an der Solvenz" der vier griechischen Großbanken. Die beim Brüsseler Diktat erzwungene "Abwicklungsrichtlinie" sieht bei Insolvenzen den finanziellen Aderlass der Bankeigentümer und Einleger vor - Enteignung.


Komplizen

Die am heutigen Donnerstag stattfindenden Gespräche zwischen US-Finanzminister Jacob Lew und seinem Amtskollegen Schäuble stellen einen neuen Versuch dar, den sich radikalisierenden Weg nach "Kerneuropa" zumindest zu verlangsamen und Berlin eine teilweise Rückabwicklung der Brüsseler Vereinbarungen abzuringen. Die US-Außenpolitik ist sich im Unklaren, ob das deutsche Vorgehen gegen Griechenland systematischer Natur ist oder durch einen transatlantischen Umbau der gegenwärtigen deutschen Regierung gemäßigt werden kann. Eine pragmatische Variante, die von Republikanern und Demokraten im US-Senat an die Presse gestreut wird, legt den Rücktritt des deutschen Finanzministers (CDU) sowie des deutschen Vizekanzlers (SPD) nahe. Beide gelten als Komplizen bei der gegen Griechenland gerichteten Ausschluss-Drohung, die das Bundeskanzleramt voll unterstützte.


Mehr zum Thema: Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen, Die strategische Flanke, Austerität um jeden Preis, Zum Teufel gejagt, Das Referendum als Chance, Die erste Niederlage, Countdown für Athen, Austerität oder Demokratie, Austerität oder Demokratie (II), Die Politik des Staatsstreichs und Das Brüsseler Abkommen.


Anmerkungen:

[1] Greece debt crisis: IMF attacks EU over bailout terms.
www.bbc.co.uk 15.07.2015.

[2] IWF fordert Schuldenerlass für Athen. Tagesschau (ARD), 15.07.2015.

[3] S. dazu Das Brüsseler Abkommen
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59160

[4] Greece debt crisis: IMF attacks EU over bailout terms.
www.bbc.co.uk 15.07.2015.

[5] Jack Lew and Christine Lagarde urge debt relief for Greece.
www.ft.com 08.07.2015.

[6] Germany's finance minister proposed swapping Greece for Puerto Rico. Jack Lew wisely turned him down.
www.vox.com 09.07.2015.

[7] S. dazu Das Brüsseler Abkommen
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59160

[8] Greece debt crisis: IMF attacks EU over bailout terms.
www.bbc.co.uk 15.07.2015.

[9] S. dazu Unter Geiern
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59079

[10] Bundesbank für Überprüfung der griechischen Finanzbranche.
www.boerse-online.de 15.07.2015.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2015

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