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STANDPUNKT/551: Die Quadratur des Kreises (Uri Avnery)


Die Quadratur des Kreises

von Uri Avnery, 16. April 2016


ICH MAG den Präsidenten des Staates Israel, Reuven (Rubi) Rivlin. Ich mag ihn sehr.

Das mag etwas seltsam erscheinen, da er ein Mann der Rechten ist. Er ist ein Mitglied der Likud-Partei. Er glaubt an das, was man im Hebräischen "das ganze Land Israel" nennt.

Er ist jedoch eine sehr menschliche Person. Er ist freundlich und bescheiden.

Seine Familie ist seit vielen Generationen in Palästina verwurzelt. Er betrachtet sich selbst als Präsidenten aller Israelis, einschließlich der arabischen Bürger.

Ich glaube, dass er Benjamin Netanjahu und seinesgleichen heimlich verachtet. Wie wurde er also zum Präsidenten gewählt? Der Präsident Israels wird in einer geheimen Wahl der Knesset gewählt. Ich habe den starken Verdacht, dass er nicht alle Stimmen des Likud erhielt, aber von den Stimmen der Linken gewählt wurde.


IN DIESER Woche veröffentlichte Präsident Rivlin einen Friedensplan. Das ist kein gewöhnlicher Akt des Präsidenten, dessen Amt hauptsächlich repräsentativ ist.

Sein Plan gründet sich auf die Föderation zweier "Einheiten" - einer zionistisch-jüdischen und einer arabisch-palästinensischen Einheit.

Er ging nicht ins Detail. Offensichtlich glaubt er, dass es in diesem Stadium besser sei, eine allgemeine Idee zu verbreiten und die Leute daran zu gewöhnen. Dies mag weise sein.

Doch ist es auch schwierig, den Plan ernsthaft zu beurteilen. Wie die Redewendung es ausdrückt: der Teufel liegt im Detail. Es kann ein sehr guter Plan sein oder ein sehr schlimmer. Es kommt auf die Details an.

Doch die reine Tatsache, dass Rivlin diese Idee veröffentlicht, ist positiv. Im heutigen Israel sind Ideen festgefroren. Das trägt dazu bei, eine Atmosphäre der Resignation, der Gleichgültigkeit oder sogar der Verzweiflung zu schaffen. "Es gibt keine Lösung" ist eine allgemeine Haltung, die von Netanjahu unterstützt wird, der die passende Schlussfolgerung für sich zog: "Wir werden immer mit dem Schwert leben."


DIE IDEE einer Föderation ist nicht neu. Ich selbst habe darüber viel Male nachgedacht. (Ich muss mich deshalb entschuldigen, wenn ich hier Dinge wiederhole, die ich schon früher erwähnt habe.)

Vor dem 1948er-Krieg glaubten einige von uns, dass die Hebräer und die Araber in diesem Land in einer neuen gemeinsamen Nation fusionieren könnten. Der Krieg vernichtete diese Auffassung. Ich zog die Schlussfolgerung, dass wir in diesem Land zwei verschiedene Nationen haben und dass jede realistische Lösung sich auf diese Tatsache gründen muss.

Unmittelbar nach diesem Krieg - anfangs 1949 - traf sich eine kleine Gruppe, um eine Lösung zu finden. Zu dieser Gruppe gehörten auch ein Moslem und ein Druse. Sie schuf das, was jetzt die Zwei-Staaten-Lösung im Land zwischen Mittelmeer und dem Jordan und vielleicht darüber hinaus genannt wird. Heute ist das der Konsens in aller Welt.

Es war für uns klar, dass zwei Staaten in einem kleinen Land wie dem unseren nicht ohne sehr enge Zusammenarbeit nebeneinander existieren könnten. Wir dachten daran, es eine Föderation zu nennen, aber dann entschieden wir uns, dies nicht zu tun, da wir fürchteten, dass dies beide Seiten erschrecken würde.

Unmittelbar nach dem 1956er-Krieg (in diesem Land sind wir immer "unmittelbar nach dem Krieg") bildeten wir eine viel größere Gruppe, die sich "semitische Aktion" nannte. Sie schloss Nathan Yallin-Mor, den früheren Kommandeur der (terroristischen) Untergrund-Gruppe Lehi ein, die bei den Briten als die Stern-Bande bekannt war, auch die Schriftsteller Boaz und Amos Kenan und andere gehörten dazu.

Wir widmeten der Erstellung eines Dokuments, von dem ich glaube, dass es bis heute beispiellos ist, ein ganzes Jahr. Darin entwarfen wir einen Plan für die vollkommene Neugestaltung des Staates Israel in allen Lebensbereichen. Wir nannten es das "hebräische Manifest".

Das Manifest schließt eine Föderation zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina ein mit den notwendigen gemeinsamen Instituten an der Spitze. Es befürwortete auch die Schaffung einer "semitischen Konföderation" aller arabischen Staaten, Israel und vielleicht auch der Türkei und dem Iran (die keine semitischen Länder sind, obgleich ihre Religion semitische Wurzeln hat.)


SEIT DAMALS ist die Idee einer Föderation oder einer Konföderation zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen aufgetaucht, hat jedoch keine Wurzeln geschlagen.

Die Ausdrücke selbst sind ungenau. Was ist der Unterschied zwischen ihnen? In verschiedenen Ländern haben sie verschiedene Bedeutungen. Russland ist jetzt offiziell eine Föderation, doch ist nicht klar, welche Rechte die einzelnen Bestandteile haben. Die Schweiz nennt sich eine Konföderation. Der deutsche Bund ist eine "föderale Republik". Die europäische Union ist für alle praktischen Zwecke eine Konföderation, wird aber nicht so genannt.

Es wird mehr oder weniger akzeptiert, dass eine "Föderation" viel mehr eine Union ist als eine "Konföderation". Dies wurde durch den amerikanischen Bürgerkrieg klar, als der "föderale" Norden gegen die "konföderalen Südstaaten kämpfte, die versuchten, sich von der Union zu trennen, weil sie für ihren Geschmack zu eng war.

Aber, wie gesagt, ist die Bedeutung dieser Termini sehr fließend. Und sie sind wirklich nicht bedeutend. Es ist die Substanz, die von Bedeutung ist, und die Substanz variiert notwendiger Weise von Ort zu Ort, je nach Geschichte und Umständen.


FÜR UNSER Land liegt die Schönheit der Idee in der Tatsache, dass sie eine Quadratur des Kreises ist.

Was wollen die beiden Seiten?

Die Juden wollen einen jüdischen Staat, einen Staat, der sich auf die jüdische Kultur und Geschichte gründet, in dem man hauptsächlich hebräisch spricht und die mit der jüdischen Diaspora verbunden ist. Außer für eine kleine Minderheit ist dies ein allen jüdischen Israelis gemeinsames Ideal. Viele Israelis würden auch gerne das Land vereint behalten und besonders die Stadt Jerusalem.

Die Palästinenser wollen endlich einen eigenen freien Staat, in dem sie ihre eigenen Herren sind, ihre eigene Sprache sprechen, ihre eigene Kultur und Religion pflegen, befreit von der Besatzung, unter ihrem eigenen Gesetz.

Eine (Kon)Föderation kann durch die Quadratur des Kreises diese scheinbaren Widersprüche lösen. Sie würde beiden Völkern erlauben, in ihren eigenen Staaten frei zu leben, mit ihren eigenen Identitäten, nationalen Flaggen, National-Hymne, Regierungen und Fußball-Teams, während zur selben Zeit die Einheit des Landes gerettet ist und ihre gemeinsamen Probleme in Einheit und enger Kooperation gelöst werden. Die Grenze zwischen ihnen wird notwendiger Weise zur freien Passage von Personen und Waren offen sein.

Ich bin kein Experte für Nordamerika. Aber es scheint mir, dass so etwas zwischen den USA, Kanada und Mexiko schon existiert (wenigstens bis Donald Trump Präsident wird) trotz der kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen den drei Völkern.


PRÄSIDENT RIVLIN sollte sich nicht mit der Darlegung der Idee begnügen. Er sollte etwas zu ihrer Verwirklichung tun, trotz der Beschränkung seines Amtes.

Ich würde vorschlagen, dass er auf höchster Ebene eine Konferenz von Experten in seine Residenz einberuft und damit beginnt, in die Details zu gehen, um herauszufinden, wie dies praktisch aussehen könnte.

Ich glaube nicht, dass beide Seiten sich damit begnügen werden, eine "Einheit" zu sein. Weder werden die jüdischen Israelis die Eigenstaatlichkeit Israels aufgeben, noch werden die Palästinenser mit irgendetwas, das weniger als ein "Staat" ist, zufrieden sein.

Vor allem gibt es das Problem der Armee. Wird es dann zwei getrennte Armeen geben, mit irgendeiner Form von Koordination - nicht wie die sehr ungleiche Beziehung, die jetzt zwischen der israelischen Armee und der palästinensischen "Sicherheitskraft" besteht. Kann es eine vereinte Armee geben? Oder etwas dazwischen?

Das ist sehr schwierig. Viel einfacher ist das Problem mit der Gesundheit. Es gibt zwischen den Völkern schon viel Kooperation: arabische Ärzte und Sanitäter, die in israelischen Krankenhäusern arbeiten, und israelische Ärzte, die palästinensische Kollegen in den besetzten Gebieten beraten.

Wie ist es mit der Bildung? In jedem der zwei Staaten wird sich der Unterricht natürlich auf die eigene Sprache, Kultur, Geschichte und die eigenen Traditionen gründen. In jedem der beiden Staaten müssen die Schüler die Sprache des anderen Staates lernen, ähnlich wie Schweizer Schüler eine der jeweils anderen Nationalsprachen lernen.

Das genügt nicht. Auf beiden Seiten müssen die Lehrer weitergebildet werden und wenigstens die Grundlagen der Kultur, der Geschichte und Religion der anderen Seite lernen. Die Schulbücher müssen von allen Spuren des Hasses gereinigt werden und wahre, objektive Berichte über die Ereignisse der letzten 120 Jahre enthalten.

Mit der Wirtschaft dürfte es ernste Probleme geben. Das Durchschnittseinkommen eines Israeli ist 20 mal (ja, das ist kein Fehler - nicht 120 Prozent, sondern 2000 Prozent) höher als das Durchschnittseinkommen eines Palästinensers in den besetzten Gebieten. Da müsste es eine föderale Anstrengung geben, um diesen unglaublichen Abstand zu vermindern.

Natürlich kann nicht alles geplant und verordnet werden. Das Leben wird übernehmen. Israelische Geschäftsleute, die in Saudi Arabien und im Irak Erfolg haben wollen, werden sich nach palästinensischen Partnern umschauen und palästinensische Unternehmer könnten israelische Kompetenz und Kapital anwenden, um Geschäfte im Jemen und Marokko zu machen. Freundschaften werden geschlossen. Hier und da wird es Mischehen geben. (Nein, Gott behüte, streichen wir den letzten Satz!!!)

Gegenseitige Kontakte haben ihre eigene Logik. Wo immer sich Muftis und Rabbiner treffen, entdecken sie die unglaublichen Ähnlichkeiten zwischen dem Islam und dem Judentum (viel mehr als zwischen einem der beiden und dem Christentum). Geld überbrückt die Kluft zwischen Geschäftsleuten. Akademiker finden eine gemeinsame Sprache.

Da wird es natürlich immense Schwierigkeiten geben. Und die Siedler? Können die Palästinenser überzeugt werden, dass einige von ihnen bleiben? Im Gegenzug können die Israelis erlauben, dass einige Flüchtlinge zurückkehren? Ich vertraue dem Leben.


ICH KANN die Bedeutung der Rolle, die Präsident Rivlin bei alldem spielen kann, gar nicht überschätzen.

Er könnte Experten in seine Residenz einladen und Gastgeber spielen, und damit ein klares Signal geben, ohne sich selbst zu kompromitieren.

Die Überlegungen an sich können großen Einfluss auf das Denken der Allgemeinheit haben, sie können die Atmosphäre verändern, die Hoffnung neu beleben und Optimismus schaffen.

Rubi Rivlin ist von Natur ein Optimist - wie ich.

Ohne Optimismus wird sich nichts zum Besseren verändern.

Der Präsident kann normalen, anständigen Leuten auf beiden Seiten zeigen: Ja, der Kreis kann zum Quadrat werden!



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.04.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2016

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