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STANDPUNKT/582: Sie haben die Macht und sie werden sie verlieren (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Sie haben die Macht und sie werden sie verlieren

Von Mariano Quiroga, 7. September 2016


Schwarzweißfoto mit Prostestierenden aller Altersgruppen - Foto: by Tuane Fernandes / Midia NINJA als BY-SA-2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Foto: by Tuane Fernandes / Midia NINJA
als BY-SA-2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Hunderttausende von Menschen gehen zur Zeit auf unserem Kontinent Lateinamerika auf die Straßen. Einige fordern die Wiederherstellung der Demokratie und das Ausbremsen des Staatsstreiches, der gegen Dilma Rousseff im Gange ist, aber viele haben sich auch für die Verteidigung des demokratischen Prozesses in Venezuela eingesetzt. Angesichts einer starken Mobilmachung, die die Durchführung eines Referendums zur Abwahl von Nicolás Maduro fordert, haben sich die Aktivisten der bolivianischen Revolution mit ihren roten Jacken im Verhältnis 10 zu 1 zurück unter die Bevölkerung verteilt und nur so konnte verhindert werden, dass sich wieder Gewalt in den venezuelanischen Straßen ausbreitet. Auch unser Land Argentinien macht mit der Marcia Federale mobil und heute, am 3. September, werden alle Märsche auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires zusammentreffen, vereint im Kampf gegen Entlassungen, ansteigende Preise und wirtschaftliche Repressionen.

Joao Stedile, Anführer der MST (Bewegung der Arbeiter ohne Land; Anm.d.Ü.) hat für die Aktivisten eine Nachricht aufgezeichnet, in der er erklärt, warum dieser Staatsstreich in Brasilien stattfand. Darin heißt es, dass die Wirtschaftseliten die Regierung Dilma entmachten mussten, weil sie ein Hindernis zur Abschaffung von Exportsteuern auf Rohmaterialien darstellte, weil sie die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen des Landes erschwerte und außerdem zu viele öffentliche Gelder in Erziehung, Gesundheitswesen und Sozialleistungen steckte. Die Eliten wollten die totale Kontrolle sowohl öffentlicher als auch staatlicher Mittel mit dem Ziel, Unternehmen und Institutionen der öffentlichen Hand privatisieren zu können und dadurch ihre Macht so auszubauen, dass ihnen diese auch nach Verlust der politischen Macht zur Verfügung stünde. Gleichzeitig hätten sie mit diesen Maßnahmen und aufgrund der Rezession auch erreicht, die Arbeiterschaft dazu zu bringen, sinkende Löhne zu akzeptieren und sie gleichzeitig glauben zu machen, über ihre Verhältnisse zu leben.

Das gleiche passiert gerade in Argentinien, nämlich genau das, was der Neoliberalismus überall macht, wenn er sich eines Landes bemächtigt. Stedile beklagt die Tatsache, dass keine ausreichende Zusammenarbeit zustande kam, um diese neoliberalen Strömungen zu stoppen, und auch, dass es immer noch die herrschenden Medien sind, die der großen Mehrheit sagen, was und wie sie zu denken hat. Gleichzeitig ruft er aber auch alle Völker Lateinamerikas dazu auf, aus der Lethargie zu erwachen und antikapitalistischen Widerstand zu organisieren sowie zu vertiefen.

Jetzt ist nicht die Zeit für Persönlichkeiten, für Retter oder große Namen. Denn abgesehen von der Entleerung der Demokratie, durchgeführt indem die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess auf ein paar wenige Wahlgänge reduziert wird, stehen wir vor der größten Krise der Zivilisation. Eine wirtschaftliche Krise von enormer Tragweite, eine wahre Diktatur des Finanz- und Kapitalwesens, in deren Vokabular das Wort Gleichheit nicht existiert, eine nie dagewesene soziale Krise, denn je mehr reiche Leute es gibt, desto mehr Arme gibt es auch, mit Kriegen die keine Grenzen mehr kennen und einer Verteilung der Ressourcen, die ungleicher nicht mehr sein könnte. Und schließlich auch eine gravierende ökologische Krise, die das Überleben unserer Spezies ernsthaft bedroht, und die keinen Zweifel daran lässt, in welche Richtung die Werte und Prioritäten driften, denen wir ausgesetzt sind.

Die aktuellen Dringlichkeiten sind klar und ausreichend, um jeglichen Gedankengang hinwegzufegen, der weiß machen will, die Lösung unserer Probleme läge im Individuellen oder jeder solle sich um seine eigenen kümmern. Unsere Probleme sind die von allen oder von keinem.

Man verzeihe mir meine dramatische Vehemenz, aber die wahre Vehemenz liegt bei der anderen Seite und der Beutezug der Neokannibalen und Antihumanen ist leider allzu offensichtlich. So sei jedem der hunderttausend von Menschen gedacht und gedankt, die ihr Leben dem gemeinsamen Kampf widmen, die ihre Kräfte einsetzen, ihre eigene Zeit und Energie, für das einzige Ziel das nunmehr Sinn macht: die Vereinigung der Völker gegen den Raubtierkapitalismus.


Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2016

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