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STANDPUNKT/723: Bibis Sohn oder Drei Männer in einem Wagen (Uri Avnery)


Bibis Sohn oder: Drei Männer in einem Wagen

von Uri Avnery, 13. Januar 2018


NEIN, ICH will nicht über die Affäre Yair Netanjahu schreiben. Ich weigere mich standhaft. Keine Macht der Welt wird mich zwingen, dies zu tun.

Doch hier bin ich und schreibe über Yair, verdammt noch mal. Ich kann nicht widerstehen.

Und vielleicht geht es ja wirklich um mehr als nur um Klatsch. Vielleicht ist es etwas, das wir nicht ignorieren können.


ES HANDELT sich nur um ein Gespräch zwischen drei jungen Leuten in einem Wagen vor etwa zwei Jahren.

Einer der jungen Männer war Yair, der älteste der beiden Söhne des Ministerpräsidenten.

Yair wurde nach dem Führer der "Sterngruppe" genannt, dessen wirklicher Name Abraham Stern war. Der ursprüngliche Yair spaltete 1940 einen Teil von der Irgun ab, als Britannien gegen Nazi-Deutschland allein stand. Während der Irgun seine Aktionen gegen die britische Regierung einstweilen stoppte, verlangte Stern genau das Gegenteil: Nutzt den Augenblick aus, um die Britten aus Palästina hinauszuwerfen. Er wurde von der britischen Polizei erschossen.

Der moderne Yair und seine beiden Freunde waren auf einer Sauftour durch die Striptease-Clubs Tel Avivs - eine Bezeichnung, die oft eine höfliche Art und Weise zu sein scheint, um ein Bordell zu beschreiben.

Irgendjemand machte sich die Mühe, das Gespräch der jungen Männer - des Sohnes des Ministerpräsidenten und der Söhne zweier der reichsten "Magnaten" im Land - aufzuzeichnen.

Diese Aufnahme ist nun aufgetaucht. Seit der Veröffentlichung spricht kaum jemand in Israel noch über etwas anderes.

Dieser Aufnahme zur Folge bat Yair seinen Freund Nir Maimon, ihm 400 Schekel (etwa 100 Dollar) zu geben, um eine Prostituierte zu besuchen. Als der Freund sich weigerte, rief Yair: "Mein Vater gab deinem Vater eine Konzession, die eine Milliarde Dollar wert ist und du weigerst dich, mir 400 Schekel zu geben?"

Bei der Konzession handelt es sich um die ergiebigen Gasfelder im Meeresboden nahe der israelischen Küste.

Auf besonders widerliche Weise zeigt er seine äußerste Verachtung für das weibliche Geschlecht: Er bietet auch noch all seinen Freunden die Sex-Dienste seiner Ex-Freundin an.


DIESE AUFZEICHNUNG wirft einen Haufen Fragen auf, eine unerfreulicher als die nächste.

Als erstes: Wer machte die Aufzeichnung? Abgesehen von Yair und seinen beiden Kumpeln waren nur noch zwei Personen anwesend: der Fahrer des Wagens und der Leibwächter.

Dies wirft noch einige andere Fragen auf: Zunächst, warum wird der 26-Jährige überhaupt von einem Leibwächter begleitet, noch dazu bei einer Fahrt zu Striptease-Clubs?

Yair hat keine offizielle Funktion. Kein Sohn und keine Tochter eines früheren Ministerpräsidenten war je mit einem Leibwächter ausgestattet gewesen. Keine bekannte Gefahr bedroht diesen speziellen Sohn. Warum muss ich also einen Leibwächter für ihn bezahlen?

Zweitens: Wie ist das mit dem Fahrer? Yair fuhr mit einem Regierungswagen, der von einem Regierungsfahrer gefahren wird. Warum? Was für ein Recht hat er im Allgemeinen auf einen Regierungswagen und einen Regierungsfahrer und im Besonderen für solch eine Eskapade?

Die Episode hat inzwischen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diesen privilegierten Sohn gelenkt.

Wer ist Yair Netanjahu? Was tut er für seinen Lebensunterhalt? Die einfache Antwort: nichts.

Er hat keinen Beruf. Er hat keinen Job. Er wohnt im staatseigenen Amtssitz in Jerusalem und der Staat füttert ihn durch.

Wie steht es mit seinem Militärdienst? Den einzigen Dienst, den er jemals als Soldat geleistet hat, war im Büro des Armeesprechers - was mit keinem Risiko verbunden war, eine Kugel in den Kopf zu bekommen. Man braucht eine Menge guter Beziehungen, um solch einen gemütlichen Job in der Armee zu bekommen.

Jeder Leser oder jede Leserin frage sich selbst, wo er oder sie war, als sie 26 Jahre alt war?

(Ich meinerseits hatte in diesem Alter einige Jahre Dienst im Irgun-Untergrund, ein Jahr fortgesetzten Kampfes in einer berühmten Armee-Kommando-Einheit, eine Kriegsverletzung und den Start meiner Karriere als Chef-Redakteur eines streitbaren Nachrichten-Magazins. Ich habe meinen Lebensunterhalt seit meinem 15. Lebensjahr selbst verdient. All das ist nichts Spezielles, auf dass man stolz sein muss - viele junge Leute meiner Generation haben dieselbe Vergangenheit, (abgesehen vom journalistischen Teil natürlich.)


UND DOCH kann der Charakter dieses besonderen jungen Mannes diesen Teil der Geschichte erklären. Können Eltern für den Charakter ihrer Nachkommen verantwortlich gemacht werden?

Wie viele Politiker hat Netanjahu keine Zeit für seine Kinder. Die Mutter trägt also den größten Teil der Verantwortung.

Sarah Netanyahu, "Sarah'le" genannt, ist allgemein unbeliebt. Sie ist eine ehemalige Stewardess, die Binyamin in einem Lufthafen-Duty-Free-Shop einfing und die dann seine dritte Frau wurde. Sie ist eine eingebildete und streitsüchtige Person, die sich ständig mit ihren von der Regierung bezahlten Hausangestellten herumstreitet. Einige Streitereien erreichen die Gerichte.

Dies ist eigentlich eine Familienangelegenheit - nur dass sie einige profunde politische Fragen aufwirft.

Was ist das soziale Umfeld des Ministerpräsidenten, der der Sohn eines armen Universitätsprofessors ist und der selbst fast sein ganzes Leben lang Regierungsangestellter war?

Seine Kinder verkehren mit den Söhnen der reichsten Leute des Landes - mit Leuten, die sich selbst mit der aktiven Hilfe des Ministerpräsidenten bereichern. Netanjahu beeinflusst die Regierungsfinanzierung von großen Projekten. Im Augenblick führt die Polizei mindestens vier getrennte Untersuchungen von Netanjahus persönlichen Wirtschaftsangelegenheiten durch.

Gegen alle persönlichen Mitarbeiter und Freunde Netanjahus wird polizeilich ermittelt. Gegen seinen engsten Freund, Rechtsanwalt und Verwandten wird bezüglich des Ankaufs immens teurer in Deutschland hergestellter U-Boote ermittelt. Die Marine erklärt, dass sie die nicht alle benötigt.

In seinem Privatleben wird gegen Netanjahu ermittelt, weil er von superreichen "Freunden", denen er einige Dienste erwiesen hat, lange Zeit die teuersten kubanischen Zigarren erhielt. Gegen Sarah'le wird ermittelt, weil sie auf Nachfrage von einem anderen Milliardär regelmäßig mit teurem Rosé-Champagner versorgt wurde. Außerdem hatte sie ihn gebeten, ihr Juwelen zu kaufen.


DIESE GANZE Atmosphäre von öffentlicher und privater Korruption an der Spitze des Staates ist sehr weit von unserer Vergangenheit entfernt. Es ist etwas Neues, worin sich die Ära Netanjahu widerspiegelt.

Man hätte sich so etwas nicht einmal in den Zeiten von David Ben-Gurion vorstellen können. Sein Sohn Amos war in einige Affären verwickelt, die mein Magazin aufdeckte, aber keine davon ähnelte den jetzigen auch nur im Entferntesten.

Menachem Begin lebte viele Jahre lang als Mitglied der Knesset in derselben Zweizimmer-Wohnung, in der er sich versteckt hielt, als er der am meisten gesuchte Terrorist im britischen Palästina war. Golda Meir, Yitzhak Rabin und Shimon Peres lebten alle in bescheidenen Verhältnissen.

Der öffentliche Humor nennt Netanjahu "König" oder sogar "Kaiser" und spricht von der "königlichen Familie". Warum?

Ein Grund ist sicher der Zeit-Faktor. Netanjahu ist jetzt in seiner vierten Amtszeit. Das ist viel zu lange.

Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut, wie Lord Acton bemerkte. Man kann "absolute Macht" durch "Langzeit-Macht" ersetzen.

Eine Person mit Macht ist von Versuchungen, Schmeichlern und Verführern umgeben und mit der Zeit schwindet ihr Widerstand gegen sie alle. Das ist leider nur allzu menschlich.

Nach der endlosen Präsidentschaft von Franklin Delano Roosevelt, einem relativ ehrenhaften und erfolgreichen amerikanischen Präsidenten, tat das amerikanische Volk etwas äußerst Kluges: es begrenzte die Amtszeit eines Präsidenten auf zwei Amtszeiten. Auch ich bin zu dem Schluss gekommen, dass acht Jahre genau richtig sind.

(Das gilt auch für mich. Ich war 10 Jahre lang Mitglied des Parlamentes; im Rückblick habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass acht Jahre genug gewesen wären. Während meiner letzten zwei Jahre war ich von weniger Begeisterung und Kampfgeist erfüllt.)


ICH HASSE Binyamin Netanjahu nicht. Er interessiert mich als Person nicht wirklich. Aber ich fürchte, dass er eine Gefahr für die Zukunft Israels ist. Seine Obsession, an der Macht zu kleben, bewirkt, dass er unsere nationalen Interessen an Interessengruppen verkauft, und zwar nicht nur an Milliardäre, sondern auch an das korrupte religiöse Establishment und viele andere.

Solch ein Mensch ist nicht in der Lage, Frieden zu schließen, selbst wenn er es wollte. Frieden zu schließen verlangt Charakterstärke, die sich unter anderem darin zeigt, dass einer das Risiko, gestürzt zu werden, auf sich nimmt. Solch eine Kühnheit kommt Netanjahu nicht einmal in den Sinn.

Sag mir, wer dein Sohn ist und ich sage dir, wer du bist.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 13.01.2018
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2018

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