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STANDPUNKT/881: Türkei - AKP erteilt den kurdischen Friedensangeboten eine Absage (Civaka Azad)


Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Türkei: Absetzung von kurdischen Bürgermeister*innen - AKP erteilt den kurdischen Friedensangeboten eine Absage

Informationsdossier von Civaka Azad, September 2019


Einleitung

In der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan herrscht ein etwas eigenwilliges Verständnis von demokratischen Wahlen vor. So werden gerne Mal Wahlen wiederholt, wenn die Ergebnisse nicht im Sinne der Regierungspartei sind (Parlamentswahlen 2015/Kommunalwahlen Istanbul 2019) oder aber auch gewählte Mandatsträger*innen ihres Amtes enthoben oder gleich aus dem Parlament heraus in das Gefängnis gesteckt (Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister*innen der HDP 2016). Im Jahr 2016 hatte die AKP-Regierung es schließlich auf die Höhe getrieben, als sie auf Grundlage des Ausnahmezustands insgesamt 94 von 102 gewählten Bürgermeister*innen der Demokratischen Partei der Regionen (DBP, Schwesterpartei der HDP) in den kurdischen Siedlungsgebieten absetzte und 93 von ihnen festnehmen ließ. An die Stelle der paritätisch besetzten Doppelspitze wurden männliche sogenannte Zwangsverwalter im Auftrag der AKP-Regierung eingesetzt, von denen sich viele in der Folgezeit in Korruptionsaffären verwickelten und die kurdischen Kommunen unter einem Schuldenberg begruben. Folglich wunderte es nicht, dass bei den Kommunalwahlen am 31. März dieses Jahres die HDP in den meisten kurdischen Kommunen die Mehrheit erlangte und demokratisch legitimierte Bürgermeister*innen in den kurdischen Gebieten wieder ihre Arbeit aufnehmen konnte. Doch auch dieses Mal war die AKP mit den Wahlergebnissen in den kurdischen Regionen nicht einverstanden und griff schließlich am 19. August zur Tat.


Was geschah am 19. August?

Der türkische Staatspräsident und seine AKP gingen an diesem Tag wieder gegen die kurdischen Stadtverwaltungen im Land vor. In den Metropolen Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) sind die HDP-Oberbürgermeister*innen Adnan Selçuk Mizrakli, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan auf Betreiben des Innenministeriums ihres Amtes enthoben worden. Die Stadtverwaltungen wurden anschließend unter die kommissarische Leitung von AKP-Bürokraten gestellt. Die rechtliche Grundlage für dieses Vorgehen ergebe sich aus Ermittlungen gegen die betroffenen Bürgermeister*innen wegen Terrorvorwürfen, heißt es in einer Stellungnahme des Innenministeriums.

Neben der Absetzung der Ko-Bürgermeister*innen in Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) wurden am selben Tag bei Razzien und Durchsuchungen mindestens 418 politische Aktivist*innen, darunter zahlreiche HDP-Mitglieder, festgenommen. Unter den festgenommenen HDP-Mitgliedern befinden sich Provinz- und Kreisstadtverantwortliche sowie gewählte Mitglieder der Provinz- und Stadträte.

In den besagten drei Städten waren bereits 2016 Zwangsverwalter der AKP eingesetzt worden. Dass die Bevölkerung mit diesem Vorgehen der Regierung nicht einverstanden war, bewiesen die Wahlergebnisse vom 31. März 2019.

Kommunalwahlen Amed/Diyarbakir, 31. März 2019
HDP: 490.571 Stimmen, Stimmanteil: 62,93%
AKP: 241.633 Stimmen, Stimmanteil: 30,99%

Kommunalwahlen Wan/Van, 31. März 2019
HDP: 260.495 Stimmen, Stimmanteil: 53,83%
AKP: 196.040 Stimmen, Stimmanteil: 40,51%

Kommunalwahlen Mêrdin/Mardin, 31. März 2019
HDP: 208.854 Stimmen, Stimmanteil: 56,24%
AKP: 143.060 Stimmen, Stimmanteil: 38,53%

Doch am 19. August wagte es die AKP erneut, sich über den Willen der Wähler*innen in den kurdischen Städten hinwegzusetzen und ließ unter Missachtung von insgesamt mehr als 950.000 Wähler*innenstimmen, die in den drei Städten für die HDP gestimmt hatten, die Bürgermeister*innen durch eigene Zwangsverwalter ersetzen.


Wie bewertet die betroffene HDP diese Maßnahme und wie reagieren die Bürger*innen der Städte?

Die HDP bezeichnet das Vorgehen der AKP als einen "politischen Putsch". In einer schriftlichen Stellungnahme der Partei heißt es weiter: "Die Absetzungen zeigen die feindliche Haltung zum erklärten politischen Willen des kurdischen Volkes. Das Innenministerium macht sich damit zum Zentrum eines Putsches, mit dem Rechte und Freiheiten usurpiert und Entscheidungen getroffen werden, die keine Spur von Demokratie aufweisen. (...) In der Zeit der Zwangsverwaltung sind in den betroffenen drei Großstädten und den anderen Kommunalverwaltungen alle Ressourcen aufgebraucht worden. Die staatlichen Treuhänder haben einen Trümmerberg hinterlassen. Durch die Zwangsverwaltung sind die Rathäuser zu Zentren der Korruption und des Diebstahls gemacht worden."

Gegen die Absetzung der Bürgermeister*innen hat die HDP zu ununterbrochenen Aktionen aufgerufen, die von den Abgeordneten der Partei angeführt werden und gegenwärtig andauern. Die türkischen Sicherheitskräfte reagieren auf diese Proteste mit äußerster Brutalität. Die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed kritisierte in einer Stellungnahme am 27. August das Vorgehen der Polizeikräfte mit deutlichen Worten. Demnach seien binnen einer Woche nach der Absetzung der Bürgermeister*innen mindestens 1.000 Menschen in Gewahrsam genommen worden. Zahlreiche von ihnen wurden illegalen Verhörmethoden unterworfen. Andere wurden unter Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Gasgranaten auf offener Straße Polizeigewalt ausgesetzt.

In derselben Stellungnahme des Menschenrechtsvereins wird auch auf die Entscheidung zur Absetzung der Bürgermeister*innen durch das türkische Innenministerium Stellung bezogen.

Die Absetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, dem Bürgermeister von Amed, wurde bereits am 1. April initiiert - also nur einen Tag nach den Kommunalwahlen. Das entsprechende Ersuchen wurde vom Provinzgouverneur gestellt. "Damit haben sich der Innenminister und der Gouverneur über die Justiz hinweggesetzt und gegen die Verfassung verstoßen. Millionen Wähler wurden ihres Wahlrechts beraubt. Es wurden Straftaten begangenen", kritisiert der IHD.


In welchem politischen Kontext findet die Einsetzung der Zwangsverwaltungen statt?

Pervin Buldan, die Ko-Vorsitzende der HDP, erklärt, dass mit der Einsetzung von Zwangsverwaltungen in die HDP-regierten Rathäuser die Entscheidung für den Krieg mit den Kurd*innen durch die AKP-Regierung ein weiteres Mal bestätigt worden ist. Dies sei nichts Neues, denn die Türkei habe im Verlauf ihrer Geschichte immer auf Krieg gesetzt, fügt sie hinzu.

Buldan, die zwischen 2013 und 2015 in der Zeit der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan Teil der "Imrali-Delegation" war, begreift die Absetzung der Bürgermeister*innen auch als eine direkte Antwort der Regierung auf das jüngste Friedensangebot des inhaftierten PKK-Vorsitzenden von der Gefängnisinsel Imrali. "Herr Öcalan hat in jedem Gespräch von Frieden gesprochen. Es ist zu Entwicklungen gekommen, in denen die damaligen Konflikte und der Kriegszustand in sehr einfacher Form in einen Frieden hätte münden können. Die Machthaber in diesem Land haben sich allerdings für das Gegenteil entschieden", so Buldan.

Gerade als die Isolation auf Imrali gebrochen war und Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses aufkam, hat die AKP ihre Einstellung zur kurdischen Frage ein weiteres Mal bestätigt, erklärt die HDP Ko-Vorsitzende weiter und erklärt abschließend: "Im Moment sind Frieden, Dialog und eine Lösung kein Thema für die AKP. Ansonsten wären keine Zwangsverwalter in unseren Stadtverwaltungen eingesetzt worden und das heutige Unrecht hätte nicht stattgefunden."


Wie sind die Reaktionen auf die Zwangsverwaltungen in der Türkei und in Europa?

Seitdem die kurdischen Kommunen von Zwangsverwaltern regiert werden, wird die damit ausgelöste Protestwelle von Tag zu Tag immer größer. In zahlreichen Städten in der Türkei, aber auch in anderen Ländern, kommt es täglich zu Demonstrationen. Zudem erklären sich immer mehr Kreise solidarisch mit der HDP, wie zum Beispiel die Union der Türkischen Architekten- und Ingenieurkammern, die Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter und die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei. Auch die "Freiheitliche Linke", eine Strömung innerhalb der Republikanischen Volkspartei (CHP), hat die Partei aufgerufen, etwas gegen die Zwangsverwaltung der Städte Amed, Wan und Mêrdîn zu unternehmen. Die Strömung "Freiheitliche Linke" besteht aus ehemaligen und aktuellen Abgeordneten, Bürgermeister*innen und Vorstandsmitgliedern der CHP sowie weiteren Akademiker*innen und Politiker*innen.

Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern finden Protestdemonstrationen statt, die von türkischen und kurdischen Exilorganisationen gemeinsam organisiert werden. Der Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Anders Knape, bezeichnet die Suspendierung gewählter Bürgermeister in der Türkei als besorgniserregend. Die lokale Demokratie werde damit unterminiert.

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Quelle:
Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
Residenzstraße 54, 13409 Berlin
Tel.: 030/91446137
E-Mail: info@civaka-azad.org
Internet: www.civaka-azad.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2019

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