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STANDPUNKT/951: Überlegungen zu einer notwendigen anderen Welt (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Überlegungen zu einer notwendigen anderen Welt

Von Marco Bersani, ProMosaik, 19. April 2020


1. Aus einem Modell aussteigen, das keinen Schutz bietet

Das einbrechende Element, das uns die dramatische gesundheitliche und soziale Notlage übergibt, ist das Bewusstsein, dass ein Modell, das auf der einseitigen Marktideologie und der Priorisierung der Gewinne basiert, keinen Schutz bietet.

Die Privatisierung der Gesundheitssysteme, die drakonischen Kürzungen auf dem Altar der Haushaltszwänge und die Merkantilisierung der wissenschaftlichen Forschung haben ein ernstes Gesundheitsproblem in einen dramatischen Notfall verwandelt, der die gesamte Gesellschaft, das Leben der Menschen und ihre sozialen Beziehungen verzerrt und auf diese Weise die Prekarität zu einer verallgemeinerten existenziellen Dimension gemacht hat.

Wenn die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007-2008 das Ende des Märchens des Marktes verordnete, einen "Durchsickereffekt" des Wohlstandes für Alle hervorgebracht hätte, so hat die Covid19-Epidemie die "souveränistische" Illusion in Luft aufgelöst, nach der das bestehende Wohlbefinden einigen sozialen Gruppen bzw. wirtschaftlich fortgeschrittenen Gebieten vorbehalten wäre.

Die systemisch-ökonomische, ökologische, soziale und gesundheitliche Krise des kapitalistischen Modells hat deutlich gemacht, dass dieses keinen Schutz gewährleisten kann. Der Konflikt wird inzwischen buchstäblich zwischen der Börse oder dem Leben ausgetragen. Sich fürs Leben zu entscheiden, bedeutet, einen allgemeinen Kampf zwecks Ausstiegs aus dem Kapitalismus zu eröffnen.


2. Die Pandemie bekämpft man mit der Ökologie

Wir befinden uns nicht vor einem Ereignis, das sich außerhalb des ökonomisch-sozialen Modells abspielt. Die derzeitige Covid19-Pandemie ist weder extern noch ist sie auf eine unbekannte Herkunft zurückzuführen. Unsere wachsende Anfälligkeit für Viren ist in der fortschreitenden Zerstörung natürlicher Ökosysteme zu suchen. Die fortschreitende Entwaldung, der drastische Rückgang der biologischen Vielfalt, die chemische Landwirtschaft, die Monokulturen, die Industrialisierung, die Verstädterung und die Umweltverschmutzung haben zu einer plötzlichen Veränderung der Lebensräume zahlreicher Tier- und Pflanzenarten geführt und die seit Jahrhunderten konsolidierten Ökosysteme untergraben. Dies hat dazu geführt, dass diese Ökosysteme ihre Funktionsweise verändern und eine größere Konnektivität zwischen den Arten ermöglichen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die derzeitige Epidemie bereits Teil der allgemeineren Klimakrise, die alle, aufgrund des gesundheitlichen Notfalls, offensichtlich verdrängt oder entschieden haben, zu vertagen.

Die Dringlichkeit eines Richtungswechsels weg vom kapitalistischen Modell, das an sich gleichgültig gegenüber dem "Was, Wie und Warum" ist, erhält eine noch entscheidendere Bedeutung.

Es sind zahlreiche wirtschaftliche Ressourcen erforderlich, um die derzeitige Pandemie und die sich daraus ergebende tiefgreifende Wirtschaftskrise zu überwinden. Es muss von Anfang an verlangt werden, dass diese ausschließlich auf den Aufbau eines anderen Modells mit sozialer und ökologischer Ausrichtung fokussieren.


3. Die soziale Reproduktion schlägt die wirtschaftliche Produktion

Während des derzeitigen Gesundheitsnotstands offenbart sich der grundsätzliche Widerspruch des kapitalistischen Modells zwischen der wirtschaftlichen Produktion und der sozialen Reproduktion. Die ausschließliche Berücksichtigung der ersteren und die daraus resultierende Abwertung der zweiten zeigen sich in den Maßnahmen der Regierungen zwecks Bekämpfung der Epidemie: der Schutz der Produktion und die Vermeidung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs wurden als Priorität angesehen. Dies hatte zur Folge, dass ein ernsthaftes gesundheitliches Problem in eine Massentragödie der Hauptindustriegebiete des Landes umgewandelt wurde.

Die von den Arbeitern selbstorganisierten Streiks waren Streiks fürs Leben (für die soziale Reproduktion) und gegen das Profitdenken (die wirtschaftliche Produktion). Die Pandemie zeigt, dass keine wirtschaftliche Produktion möglich ist, ohne die soziale Reproduktion zu gewährleisten. Das ist ein Aspekt, auf den das feministische Denken immer schon hingewiesen hat. Und wenn die soziale Reproduktion bedeutet, für sich selbst, andere und die Umwelt Fürsorge zu tragen, dann muss mit dem Fokus auf diese Themen das gesamte ökonomisch-soziale Modell überdacht werden, um eine Gesellschaft der Fürsorge aufzubauen, die sich der Wirtschaft der Ausbeutung und des Profits widersetzt.


4. Wiederaneignung des sozialen Reichtums

Die Pandemie offenbarte uns die künstlich konstruierte Falle rund um das Thema der Staatsverschuldung, die als Erpressung eingesetzt wurde, um soziale und Arbeitsrechte zu liberalisieren und gemeinschaftliche Güter und öffentliche Dienstleistungen einfach zu vermarkten.

Es sind auch dieselben Vorläufer der Priorisierung der Haushaltszwänge, die heute besagen, man könnte und müsste ausgeben, man sollte dies umgehend und ohne jegliche Höchstgrenze tun. Dies zeigt uns die bisherige politische Manipulation der Staatsverschuldung.

Wenn der Schutz der Menschen die Überwindung des Stabilitätspakts, des Fiskalpakts, der von Maastricht auferlegten Parameter mit sich bringt, so bedeutet dies, dass diese Einschränkungen nicht nur nicht notwendig sind, sondern dank der drastischen Kürzungen bei den öffentlichen Gesundheitsausgaben auch die Hauptursache für die Umwandlung eines ernsthaften Gesundheitsproblems in eine Massentragödie darstellen.

Es ist an der Zeit, sich den sozialen Reichtum erneut anzueignen, der durch die bedingungslose Freiheit des Kapitalverkehrs, durch die finanztechnische Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft, durch die Privatisierung von Bank- und Finanzsystemen und durch den Wucher der Zinsen der Schulden enteignet wurde.

Es ist erforderlich, die Kontrolle über den Kapitalverkehr, die öffentliche Funktion der Europäischen Zentralbank und ihre Rolle als uneingeschränkter Garant für die Staatsverschuldung der Staaten sowie die Sozialisierung des Bankensystems ausgehend von der italienischen Kasse der Rücklagen und Darlehen (Cassa Depositi e Prestiti) zu beanspruchen.

Um zu verhindern, dass sich die Verschuldungsfreiheiten, die man sich heute nimmt, nicht zu noch strengere Sparketten in der Zukunft werden, müssen wir die Finanzen endlich in den Dienst der Gesellschaft stellen und nicht umgekehrt.


5. Gemeinschaftsgüter und öffentliche Dienstleistungen außerhalb des Marktes

Es ist kein Schutz möglich, wenn die Grundrechte auf Leben und Lebensqualität nicht gewährleistet werden. Die gemeinschaftlichen - natürlichen, sozialen, aufstrebenden und für den bürgerlichen Gebrauch vorgesehenen - Güter müssen als Grundelemente des territorialen Zusammenhalts und einer ökologisch und sozial orientierten Gesellschaft anerkannt werden. Dies bedeutet, sich das Ziel zu setzen, alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen darauf auszurichten, um ein soziales, ökologisches und Geschlechtergleichgewicht zu erreichen. Die Wahrung des Gemeinschaftsgutes und der öffentlichen Dienstleistungen, die seine Zugänglichkeit und Nutzbarkeit gewährleisten, muss vorsehen, dass dieses umgehend dem Markt entzogen wird. Denn das Gemeinschaftsgut muss Gegenstand einer dezentralen, gemeinschaftlichen und partizipativen Verwaltung sowie einer angemessenen und keinesfalls unbeschränkten Ausgabekapazität sein.


6. Raus aus dem Prekariat/Grundeinkommen für Alle

Im Rahmen dieses gesundheitlichen und sozialen Notfalls haben wir erlebt, was Prekarität im existenziellen Sinne bedeutet: Unsere Gewissheiten, unsere täglichen Rituale, unsere Beziehungsuniversen wurden auf den Kopf gestellt und wir sind uns zwangsweise der intrinsischen Fragilität des menschlichen und sozialen Lebens bewusst geworden. Aber viele Frauen und Männer haben noch konkreter und dramatischer dargelegt, was es bedeutet, kein Einkommen zu haben, weil sie immer schon einen prekären und ungesicherten Arbeitsplatz hatten. Oder sie können, obwohl sie ein Einkommen haben, ihre Rechte auf Leben und Gesundheit nicht geltend machen, um sich nicht erpressen zu lassen, unter Bedingungen zu arbeiten, bei denen die Sicherheitsvorschriften offensichtlich nicht eingehalten werden.

All dies macht deutlich, dass kein Horizont ohne die Entscheidungen, die im Jetzt unmittelbar die Überwindung aller prekären Bedingungen angehen, ernsthaft umsetzbar ist.

Auf dem Planeten reicht der erzeugte Reichtum vollkommen aus, um allen seinen Bewohnern eine würdige Existenz zu gewährleisten. Die Umwelt- und Klimakrise ist zum ersten Mal eine Krise, die auf Überproduktion und nicht auf Knappheit zurückzuführen ist. Diese beiden Elemente erfordern ein Überdenken der Bedeutung der Arbeit an sich und spornen uns dazu an, umgehend den Weg des bedingungslosen Grundeinkommens einzuschlagen, das für Alle gewährleistet werden muss.


7. Wiederaneignung der Allmende

Die Covid19-Epidemie legt uns die Verpflichtung auf, das Paradigma der Suche nach dem maßlosen Wachstum in Frage zu stellen, das ausschließlich auf der Geschwindigkeit des Waren-, Personen- und Kapitalflusses und der daraus resultierenden Hyperverbindung der Finanz-, Produktions- und Sozialsysteme beruht. Genau diese Kanäle haben das Covid19-Virus in die Lage versetzt, die Infektion mit noch nie zuvor erlebten Geschwindigkeiten auf dem gesamten Planeten zu verbreiten. Sie reisen in den Körpern von Managern, Geschäftsführern, hochspezialisierten Technikern sowie Transport- und Logistikmitarbeitern und Touristen.

Die Organisation der Gesellschaft zu überdenken bedeutet eine Neulokalisierung der Produktionstätigkeiten ausgehend von den territorialen Gemeinschaften. Diese müssen zum Fokus einer neuen ökologisch und sozial orientierten Transformationswirtschaft werden.

Es geht darum, sich das "Gemeinschaftsgut" als einen fruchtbaren und lebenswichtigen Raum und als Terrain der sozialen Wiederaneignung zurückzuholen, die ausschließlich auf der Verfolgung des Allgemeininteresses beruht und alle Branchen der Produktion von Gütern und Hauptdienstleistungen für die Bedürfnisse der Bevölkerung, die materiellen und digitalen Infrastrukturen und alle Formen der Forschung dem Privaten und der Ideologie der Privatisierung entzieht.

Es geht aber auch darum, die führungsorientierte und bürokratisierte "Öffentlichkeit" zu überwinden, um das "Gemeinschaftsgut" als potenziellen Raum für die Selbstverwaltung territorialer, unterstützender und in Föderationen zusammengeschlossener Gemeinschaften aufzubauen.

Wenn man in diese Richtung sieht, muss man den Begriff der "Wiederaneignung des Gemeinschaftsgutes" auch auf der Grundlage der konkreten Bedeutung der Wiederaneignung der Institutionen der direkten Demokratie auslegen, die von jahrzehntelanger Sparpolitik betroffen sind und das Ziel verfolgen, das öffentliche Vermögen, die örtlichen öffentlichen Dienstleistungen und das Territorium, das heißt die Gemeinschaftsgüter, zu vermarkten, die einer Menge von Menschen die Möglichkeit bieten, sich als Gemeinschaft zu definieren.


8. Die Demokratie verwirklichen

Die Frage der Demokratie ist zentraler denn je. Alle oben beschriebenen Aspekte können nur in einem Kontext einer wahren Demokratie umgesetzt werden, die als die bewusste Beteiligung der höchstmöglichen Anzahl von Menschen an den Entscheidungen, die uns alle betreffen, zu verstehen ist.

Dieser Kontext ist zu diesem Zeitpunkt noch notwendiger, weil wir einerseits alle gemeinsam den wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Mächten, die bisher Entscheidungen getroffen haben, ohne jemals über irgendeine Form der Beteiligung der Bevölkerung jenseits der förmlichen Beteiligung an den regelmäßigen Wahlen nachzudenken, eine radikale Wende auferlegen müssen; und weil andererseits individuelle und soziale Freiheiten, die in Zeiten der Pandemie aus außerordentlicher Notwendigkeit heraus eingeschränkt wurden, die Gefahr laufen, selbst im Falle einer Rückkehr zur Normalität in Frage gestellt zu werden.

Angesichts der Menge und tiefgründigen Beschaffenheit der erforderlichen Umwandlungen, um wirklich "Nie wieder" sagen zu können, ist es vielleicht an der Zeit, von unten einen breiten und "konstituierenden" Diskussionsablauf für den endgültigen Ausstieg aus der liberalen Politik und dem kapitalistischen Modell einzuleiten.


Von Marco Bersani, Il Manifesto [1], 7. April 2020. Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik


Deutschsprachige Erstveröffentlichung:
https://promosaik.blogspot.com/2020/04/uberlegungen-zu-einer-notwendigen.html


Anmerkung:
[1] https://ilmanifesto.it/riflessioni-per-un-altro-mondo-necessario/


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2020

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