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STANDPUNKT/995: Blick in den Abgrund (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. März 2022
german-foreign-policy.com

Blick in den Abgrund

Wirtschaftskrieg des Westens gefährdet die Weltwirtschaft und bedroht vor allem ärmere Staaten mit Hungersnot und Kollaps. Kiews Botschafter prangert Angst vor Atomkrieg an.


BERLIN/WASHINGTON/MOSKAU - Der Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland entwickelt sich zur Bedrohung für die Weltwirtschaft. Nach der gestrigen Verhängung eines US-Erdölembargos gegen Russland ist der Ölpreis auf neue Rekordhöhen geschnellt. Auch deutsche Politiker fordern, die EU solle sich anschließen; für diesen Fall sagen Ökonomen eine gravierende Wirtschaftskrise nicht nur für Deutschland sowie die EU, sondern für große Teile der Welt voraus, die ärmere Staaten in den Kollaps stürzen könnte. Schon jetzt ist die Nahrungsmittelversorgung etwa von Teilen Afrikas bedroht, weil die US- und EU-Sanktionen den Export russischen Getreides und russischer Düngemittel behindern; Russland ist bei beidem einer der größten Produzenten der Welt. Die akute Gefährdung ärmerer Staaten geht mit Mordaufrufen von Politikern aus Europa und den USA einher, die öffentlich wünschten, Russlands Präsident Wladimir Putin möge umgebracht werden. In deutschen Talkshows wird die Errichtung einer NATO-Flugverbotszone gefordert, die nach einhelligem Urteil von Experten in einen Krieg mit der Nuklearmacht Russland führt. Der Kiewer Botschafter in Berlin prangert die Angst vor einem Atomkrieg an.

Das Erdölembargo

Deutsche Politiker fordern unverändert ein Ölembargo gegen Russland. Zwar hatte Kanzler Olaf Scholz am Montag erklärt, für die Bundesregierung komme ein solches Embargo derzeit nicht in Betracht. Doch wird die Forderung weiterhin vorgetragen. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen verlangte schon am Sonntag: "Wir müssen Russlands Gas- und Ölgeschäft jetzt stoppen."[1] Gestern sprach sich nun auch der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, für ein Erdölembargo gegen Russland aus. "Unser Land, die Menschen, die sehr solidarisch mit den Ukrainern sind", erklärte Heusgen, "die würden das auch mittragen, wenn bei ihnen es in der Stube etwas kälter würde."[2] Die USA haben gestern in einem unilateral beschlossenen Vorstoß ein nationales Erdölembargo beschlossen. Wie US-Präsident Joe Biden mitteilte, wird russisches Erdöl in Zukunft "an amerikanischen Häfen nicht mehr angenommen".[3] Unklar ist, wie die Vereinigten Staaten die Versorgungslücke schließen wollen. Aktuell verhandelt die US-Administration mit Venezuela, das bislang unter US-Sanktionen stand. Allerdings gehen Experten davon aus, dass auch das venezolanische Erdöl nicht ausreicht, um den aktuell durch das Russland-Embargo entstehenden Bedarf zu schließen.

Vom Kollaps bedroht

Die Risiken, die schon mit dem US-Erdölembargo verbunden sind, sind erheblich; gestern schnellte der Preis für ein Fass Rohöl der Sorte Brent zeitweise auf gut 132 US-Dollar in die Höhe und näherte sich damit dem bisherigen historischen Höchstpreis von 2008, der bei rund 143 US-Dollar liegt. Sollten auch Berlin und die EU den Forderungen von Röttgen, Heusgen und anderen nachkommen, wäre mit noch weitaus schlimmeren Folgen zu rechnen. Gestern äußerte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dazu, es gehe dann nicht mehr nur um "solche Preissprünge", sondern um "eine dauerhaft hohe Preisbindung der fossilen Energien" - mit gravierenden Folgen: "Wir reden dann über eine schwere Wirtschaftskrise in Deutschland und damit in Europa." Dann stünden "Unternehmenszusammenbrüche und Arbeitslosigkeit" bevor - auf lange Zeit: "Wir reden hier nicht über drei Tage und auch nicht über drei Wochen", sondern eher über "drei Jahre".[4] Dabei hätten dauerhafte Energiepreise in einer historischen Höhe Folgen, die weit über Deutschland und Europa hinausgingen und vor allem ärmere Länder träfen. Letztlich könne ein solcher Energiepreisanstieg, hieß es gestern, "zum Kollaps ganzer Staaten in Asien, Afrika und Südamerika führen".[5]

Hungersnöte

Gravierende Folgen haben die Sanktionen auch für die globale Lebensmittelversorgung. Dies liegt zum einen daran, dass Russland und die Ukraine bedeutende Getreideexporteure sind, zum anderen daran, dass Russland und Belarus riesige Mengen an Düngemitteln exportieren. Bereits Russlands Krieg gegen die Ukraine blockiert die ukrainische Getreideausfuhr. Hinzu kommt nun aber, dass die Sanktionen zusätzlich den russischen Getreideexport erschweren: zum einen, weil die Lieferungen aufgrund des SWIFT-Ausschlusses vieler russischer Banken nicht mehr bezahlt werden können; zum anderen, weil Russlands wichtigster Exporthafen in Noworossijsk mit westlichen Sanktionen belegt worden ist.[6] Experten warnen längst vor neuen Hungersnöten etwa in Ostafrika. Darüber hinaus wiegt schwer, dass auch der russische Düngemittelexport unter den Sanktionen leidet.[7] Dies führt zum einen zu Düngermangel, zum anderen zu steigenden Düngemittelpreisen; beides droht für die weltweite Nahrungsmittelproduktion und damit für die Nahrungsmittelversorgung vor allem auch der ärmeren Staaten dramatische Konsequenzen mit sich zu bringen. Leidtragende sind die Bevölkerungen diverser Länder, die mit dem Konflikt zwischen den westlichen Mächten und Russland meist nichts zu tun haben.

"Putin physisch eliminieren"

Das Motiv für die extremen Sanktionen, die schwerste Schäden anzurichten drohen, haben unter anderem Außenministerin Annalena Baerbock sowie Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire ganz offen benannt. Baerbock hatte geäußert, die Sanktionen würden "Russland ruinieren". Le Maire hatte am 1. März angekündigt: "Wir werden einen totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland führen. Wir werden die russische Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen."[8] Ganz ähnlich äußerte sich US-Senator Lindsey Graham. Graham erklärte, solange Wladimir Putin in Russland als Präsident amtiere, solle die russische Bevölkerung "nicht in der Lage sein, ihre Träume zu verwirklichen, sondern in Armut und Elend leben": "Sie müssen diesen Kerl loswerden."[9] Graham ergänzte dies am 4. März auf Twitter um einen Mordaufruf: "Der einzige Weg, das zu beenden, besteht darin, dass jemand in Russland diesen Typ beseitigt." Dies war nicht der erste Mordaufruf im Westen. Bereits zuvor hatte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn erklärt, alles, was man sich zur Zeit wünschen könne, sei, "dass Putin physisch eliminiert wird".[10] Nur aufgrund heftigen Protests distanzierte sich Asselborn später davon.

Rutschbahn in den Weltkrieg

Jenseits der Mordaufrufe wächst im Westen auch die Bereitschaft, einen Krieg der NATO gegen Russland und damit einen potenziellen Atomkrieg in Kauf zu nehmen. Seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der vergangenen Woche verlangt hatte, der westliche Militärpakt solle eine Flugverbotszone über der Ukraine errichten, schließen sich der Forderung stets neue Stimmen an. Unter Fachleuten herrscht Konsens, dass die Errichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine einen Kriegseintritt der NATO gegen Russland bedeutete; damit befänden sich zwei Nuklearmächte in einem heißen Krieg gegeneinander - mit hoher Eskalationsgefahr. Neben - meist ukrainischen - Rednern auf Demonstrationen hat am Sonntagabend der ukrainische Botschafter in der Bundesrepublik, Andrij Melnyk, in einer bekannten Talkshow für eine NATO-Flugverbotszone geworben. "Ich frage mich, was ist aus Deutschland geworden", sagte Melnyk: "Angst ist jetzt der Ratgeber: 'Atomkrieg - oh Gott, bloß nichts tun, damit wir nichts riskieren.'"[11] Am Montagabend fragte in einer weiteren Talkshow die ehemalige Moskau-Korrespondentin Gesine Dornblüth, ob es nicht "möglicherweise geboten" sei, "dass die Nato aktiver wird", etwa mit der Errichtung einer Flugverbotszone.[12] Omid Nouripour, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, stufte daraufhin "eine direkte Konfrontation zwischen Nato und Russland" als "Rutschbahn Richtung 3. Weltkrieg" ein.[13]


Siehe dazu:
"Russland ruinieren"
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8856
Die dritte Front
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8861
und "Russland isolieren"
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8862


Anmerkungen:

[1] Norbert Röttgen: Wir müssen Russlands Gas- und Ölgeschäft jetzt stoppen! tagesspiegel.de 06.03.2022.

[2] USA setzen Ölembargo auf Agenda. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2022

[3] Amerika stoppt die Einfuhr von Öl und Gas aus Russland. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.03.2022.

[4] Habeck: Prüfen Wege, um Energiepreise zu dämpfen. sueddeutsche.de 08.03.2022.

[5] USA setzen Ölembargo auf Agenda. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2022

[6] Marina Zapf: Putins Krieg: Droht eine Ernährungskrise? capital.de 08.03.2022.

[7] Olaf Zinke: Düngerpreise: Die Ruhe vor dem Sturm? - Der Krieg und die Folgen. agrarheute.com 01.03.2022.

[8] Michaela Wiegel: Paris: Totaler Finanzkrieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.03.2022.

[9] Majid Sattar: Amerika will Russland wirtschaftlich niederringen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.02.2022.

[10] "Physisch eliminieren": Außenminister Asselborn gesteht nach umstrittener Aussage Fehler ein. tageblatt.lu 02.03.2022.

[11] Christian Bartlau: "Anne Will": Ukraines Botschafter Melnyk wütet gegen Ampel und Annalena Baerbock - "Ausrede!" web.de 08.03.2022.

[12], [13] Christian Bartlau: "Hart aber fair" zum Russland-Ukraine-Krieg: Grünen-Chef Nouripour ringt um Fassung. web.de 08.03.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

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