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STANDPUNKT/1009: Der globale Süden und der Krieg in Europa - Ein unmöglicher Dialog? (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2022

Der globale Süden und der Krieg in Europa
Ein unmöglicher Dialog?

von Roberto Bissio


Die meisten Länder des Globalen Südens (GS) weigern sich, Russland für seine Invasion der Ukraine zu verurteilen oder zu sanktionieren, und Europa versteht nicht, warum. Der GS wiederum versteht nicht, warum Europa Solidarität erwartet, wenn es sich bei nahezu jeder internationalen Entscheidungsfindung aktiv gegen grundlegende Forderungen des GS stellt und sich stattdessen den von den Neocons oder den Interessen großer Unternehmen inspirierten US-Strategien anschließt.

Die EuropäerInnen sind schockiert über die mangelnde Bereitschaft vieler Länder des GS, den russischen Krieg in der Ukraine zu verurteilen (24 Länder stimmten in der UN-Generalversammlung gegen die Suspendierung Russlands vom Menschenrechtsrat, 58 enthielten sich). Noch mehr Länder weigern sich, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, so dass nur die NATO-Mitglieder und einige enge Verbündete an der Wirtschaftsblockade beteiligt sind.

Die Öffentlichkeit im GS ist wiederum schockiert über das, was sie als europäische Doppelmoral wahrnimmt: Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine werden an der Ostgrenze Europas mit offenen Armen empfangen. Währenddessen wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, Dutzende, die ebenfalls vor Krieg und Hunger fliehen, am 24. Juni 2022 in Melilla getötet, als sie versuchten, an der EU-Außengrenze zu Marokko europäisches Hoheitsgebiet zu erreichen.

Zu Beginn der Europäischen Entwicklungstage am 20. Juni 2022 erinnerte die Europäische Kommission die Entwicklungsländer daran, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten mit circa 70 Milliarden Euro der weltweit größte Geber öffentlicher Entwicklungshilfe sind. Doch wie der ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär Stephen Cutts in der Financial Times schrieb, "kann man diesen Zahlen leider nicht trauen"[1]. In den letzten Jahren haben die Geberländer die Buchhaltungsverfahren geändert, indem sie ihren tatsächlichen Beiträgen überhöhte Schätzungen des 'Subventionsäquivalents' ihrer Darlehen (die die Entwicklungsländer zurückzahlen) sowie Kreditgarantien, die nie ausgezahlt wurden, hinzufügten. Außerdem wurden ausländische Investitionen als Entwicklungshilfe angerechnet, die daraus resultierenden Erträge aber nicht abgezogen. Auch wurde die Spende von Corona-Impfstoffen, die kurz vor dem Verfallsdatum standen, als Entwicklungshilfe verbucht, und zwar zu einem Preis pro Impfstoff, der im Durchschnitt doppelt so hoch ist wie der, den die europäischen Länder dafür bezahlten, als sie viel mehr kauften als benötigt.

Rassismus zum Schutz von Unternehmensgewinnen?

Europa hat beim Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) den Profiten der großen Pharmaunternehmen Vorrang vor dem indisch-südafrikanischen Vorschlag eingeräumt, auf geistige Eigentumsrechte an Impfstoffen, Arzneimitteln und Behandlungen gegen Covid-19 zu verzichten - eine Initiative, die es beispielsweise Afrika ermöglichen sollte, durch die Herstellung eigener Impfstoffe Leben zu retten.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung stellte im April 2022 fest, "dass die unverhältnismäßigen Auswirkungen der Pandemie in Form von höheren Morbiditäts- und Mortalitätsraten zu einem erheblichen Teil auf die Folgen der historischen Rassenungerechtigkeit der Sklaverei und des Kolonialismus zurückzuführen sind". In der Resolution dieses UN-Gremiums werden Deutschland, die Schweiz, das Vereinigte Königreich und die USA ausdrücklich als Länder genannt, die es versäumt haben, Technologietransfers durch national ansässige Pharmaunternehmen sicherzustellen.

Schlimmer noch: Als südafrikanische WissenschaftlerInnen die genetischen Informationen der Omicron-Variante identifizierten, sequenzierten und ihre Informationen weitergaben - und damit ihren vertraglichen Verpflichtungen zur Pandemieprävention nachkamen -, wurde ihr Land sofort mit ungerechtfertigten Reiseblockaden und massiven Einbußen im Tourismus bestraft. Derweil erzielen die Pharmakonzerne, die auf Grundlage dieser Informationen Impfstoffe entwickeln, Milliardengewinne und sind nicht verpflichtet, ihre Rezepte weiterzugeben. Sie sind durch das Recht am geistigen Eigentum geschützt, welches die EU um jeden Preis verteidigt.

In ähnlicher Weise blockieren Industrieländer bei den derzeitigen Klimaverhandlungen alle Vorschläge zur weiteren Untersuchung von Verlusten und Schäden, die Länder des GS durch den Klimawandel erlitten haben. Die knappen Hilfen, die ihnen im Kampf gegen den Klimawandel bereitgestellt werden, sind auf die Eindämmung des Klimawandels (bspw. durch Verringerung oder Begrenzung der bereits niedrigen Emissionen der Entwicklungsländer) und nicht auf die Anpassung an den Klimawandel ausgelegt - was viele Länder des GS aber dringender benötigen würden.

Weniger CO2, aber nur innerhalb der Festung EU

Die Europäische Union ist dabei, im Alleingang einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) einzuführen - eine Steuer auf importierte Waren, die auf den EU-Märkten verkauft werden, auf der Grundlage ihres Kohlenstoffgehalts. Eine solche Maßnahme könnte dazu beitragen, Emissionen zu verringern und die Wettbewerbsbedingungen für in der EU ansässige Unternehmen zu verbessern. Der damit verbundene Handelsprotektionismus könnte Entwicklungsländern aber schaden. Diese werden zur Kompensation mehr produzieren müssen und dabei mehr Kohlenstoff verbrennen. Darüber hinaus hat die Gender and Trade Coalition (GTC), ein Zusammenschluss von FeministInnen aus dem GS, beobachtet, dass die europäischen VerhandlungsführerInnen auf der jüngsten WTO-MinisterInnenkonferenz in Genf die Subventionen für einkommensschwache, ressourcenarme FischerInnen in Entwicklungsländern stark einschränkten, während Industrieländer industrielle Fischereiaktivitäten bis auf Weiteres mit unvermindert hohen Subventionen unterstützen dürfen. Die GTC stellte fest, dass "die Pandemie und die derzeitige Nahrungsmittelkrise von der EU und anderen genutzt werden, um auf eine weitere Öffnung der Agrarmärkte im GS zu drängen und gleichzeitig die Interessen der in ihren Ländern ansässigen Agrarindustrie zu schützen"[2].

Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (die USA, Russland, China, Frankreich und das Vereinigte Königreich) sind zwar ebenfalls dem Völkerrecht verpflichtet, genießen aber dank ihres Vetorechts eine ständige Straffreiheit.


Unberechtigte Invasion(en)

Keiner der oben genannten Missstände entbindet Russland von seiner Verantwortung. Sie rechtfertigen nicht das, was der ehemalige US-Präsident George W. Bush als "die Entscheidung eines einzelnen Mannes, eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion in den Irak zu starten" bezeichnete. Bush korrigierte sich schnell und sagte: "Ich meine in die Ukraine", kicherte und murmelte "auch den Irak", während das Publikum lachte. Dieser bereits denkwürdige Fauxpas (oder Freudsche Versprecher) vom 18. Mai 2021 unterstreicht nur eine Tatsache in der Weltordnungspolitik: Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (die USA, Russland, China, Frankreich und das Vereinigte Königreich) sind zwar ebenfalls dem Völkerrecht verpflichtet, genießen aber dank ihres Vetorechts eine ständige Straffreiheit.

Während des Kalten Krieges versuchte der GS, der erzwungenen Dichotomie zu entkommen, sich selbst zu schützen und zum Weltfrieden beizutragen, indem er mit der Bewegung der Blockfreien Staaten einen dritten Raum schuf. Das Ende des Kalten Krieges weckte Hoffnungen auf eine 'Friedensdividende' in einer multipolaren Welt mit China und Europa als neuen Hauptakteuren, die dem GS Raum böten, um in einer ungerechten Weltordnung ein besseres Geschäft zu machen.

Quo vadis, Europa?

Doch aus welchen Gründen auch immer hat sich Europa den ungerechtfertigten Blockaden der Trump-Administration gegen den Iran oder Venezuela angeschlossen oder konnte sich ihnen nicht widersetzen. Im Januar dieses Jahres schrieben elf ehemalige PräsidentInnen aus Lateinamerika und Spanien einen gemeinsamen Brief, in dem sie forderten, "dass der Internationale Währungsfonds die Verantwortung dafür übernimmt, dass er der [argentinischen] Regierung von Mauricio Macri ein Rekorddarlehen gewährt hat, das nicht eingehalten werden kann, nur um ihn bei den nationalen Wahlen zu begünstigen". Europa hat es versäumt, diesen eklatanten Verstoß gegen die Statuten des IWF zu unterbinden, um einen Freund und Geschäftspartner von Donald Trump zu begünstigen. Die damalige Geschäftsführerin des IWF Christine Lagarde wurde mit der Berufung an die Spitze der Europäischen Zentralbank belohnt.

All diese Symptome eines neuen Kalten Kriegs - diesmal zwischen China und den USA mit Europa als Juniorpartner - waren bereits offensichtlich, bevor der Krieg in der Ukraine sie noch verschärfte. Die Auswirkungen des Kriegs auf den GS sind nun aber so groß, dass selbst diejenigen, die die Invasion verurteilen, eine US-Strategie wittern, den Krieg künstlich zu verlängern und Russland in eine demütigende Niederlage zu treiben. Bipolarität ist kein ideales Szenario für die Länder in der Peripherie, aber zwei um die Vormacht konkurrierende Staaten sind immer noch besser als eine unipolare Welt ohne Gegengewicht zu derjenigen Macht, die am Ende alles dominiert.

Roberto Bissio ist ein uruguayischer Journalist und Aktivist. Er koordiniert Social Watch, ein globales Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, das die Regierungen zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen in den Bereichen Armutsbekämpfung und Gleichstellung der Geschlechter zur Rechenschaft zieht.

Aus dem Englischen von Eileen Roth



Anmerkungen:

[1] "Overseas aid statistics are not credible" in der Financial Times vom 15. Juni:
https://www.ft.com/content/dc55dbfa-9b43-4469-adfe-733072769c38

[2] Open Letter from the Gender and Trade Coalition to the Director-General and Honorable Delegates of the World Trade Organisation (WTO) ahead of MC12:
https://www.wto.org/english/thewto_e/minist_e/mc12_e/gtc_open_letter.pdf

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Quelle:
Rundbrief 2/2022, Seite 27-29
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 1. Oktober 2022

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