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STANDPUNKT/1022: Berlin - Auf der Seite des Krieges (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 27. Februar 2023
german-foreign-policy.com

Auf der Seite des Krieges

Berlin sperrt sich gegen Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Krieg aus mehreren Ländern des Globalen Südens. US-Experten diskutieren "ethnoreligiöse" Zerschlagung Russlands.


BERLIN/WASHINGTON/MOSKAU - Berlin weist Bemühungen aus dem Globalen Süden um Vermittlung im Ukraine-Krieg zurück und setzt weiterhin auf eine militärische Lösung. Nach ersten Vorstößen Brasiliens hat am Freitag China ein Papier "zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise" publiziert; Indiens Premierminister Narendra Modi hat am Samstag hinzugefügt, New Delhi sei seinerseits "bereit, an jedem Friedensprozess teilzunehmen". Kanzler Olaf Scholz hatte zuvor versucht, Modi davon abzubringen und New Delhi auf eine Beteiligung an der Isolierung Russlands durch den Westen festzulegen, war damit aber gescheitert. Auch die chinesische Initiative, die in der Ukraine mit Interesse aufgenommen wird, stößt in Berlin klar auf Ablehnung. Deutsche Politiker fordern weiterhin einen militärischen Sieg der Ukraine. US-Experten spekulieren schon seit einiger Zeit, im Falle einer militärischen Niederlage könne Russland "entlang ethnoreligiöser Linien" gänzlich zerfallen. Der Westen müsse die Trümmer der Russischen Föderation dann nicht nur demilitarisieren, sondern dort auch einen "massiven Lustrationsprozess" sowie eine Art Umerziehungsprogramm durchführen.

Chinas Vermittlungsvorschlag

Unwille gegenüber Vermittlungsversuchen zwischen Russland und der Ukraine war in Berlin - wie im Westen insgesamt - bereits am Freitag zu erkennen gewesen, als China sein Zwölf-Punkte-Papier "zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise" vorlegte.[1] Darin positioniert sich Beijing einerseits gegen den Krieg, indem es der "Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität aller Länder" den obersten Stellenwert einräumt. Darüber hinaus übt es scharfe Kritik an der Drohung mit Nuklearschlägen, wie Russland sie mehrmals geäußert hat. Andererseits positioniert sich Beijing auch gegen den Westen, indem es etwa eine "Kalte-Kriegs-Mentalität", doppelte Standards sowie die immer weiter ausufernde Sanktionspolitik anprangert und darauf dringt, "die Sicherheit eines Landes" müsse durchweg im Einklang mit den "legitimen Sicherheitsinteressen und -bedenken aller Länder" verfolgt werden. China verlangt die schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen und fordert alle Staaten auf, unterstützend tätig zu werden. Die Ukraine hat in ihren ersten Stellungnahmen offen reagiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj teilte mit, er wolle Chinas Präsident Xi Jinping zu näheren Gesprächen treffen.[2] Außenminister Dmytro Kuleba erklärte, man stimme in mehreren Punkten überein und werde das Papier genau prüfen; nur die sofortige Aufhebung der Sanktionen lehne Kiew ab.[3]

"Die Ukraine muss gewinnen"

Deutsche Politiker hingegen wiesen die chinesische Initiative Ende vergangener Woche zurück. Außenministerin Annalena Baerbock beharrt darauf, Russland müsse seine Truppen vollständig zurückziehen, bevor überhaupt Gespräche aufgenommen werden könnten.[4] Der Vorsitzende des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), erklärt, der chinesische Vorstoß sei bloß ein "Ablenkungsmanöver": "China versucht da, Teile der Welt zu täuschen."[5] Hieß es bislang stets, man werde sich an den politischen Entscheidungen Kiews orientieren, so ist jetzt also präzise das Gegenteil der Fall. Gleichzeitig heißt es weiter, die Ukraine müsse Russland militärisch besiegen. So fordert etwa FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai: "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen."[6] Der CDU-Außen- und Militärpolitiker Roderich Kiesewetter verlangt: "Wir müssen die ukrainische Führung unterstützen, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt."[7] Kanzler Olaf Scholz war am Samstag bei Gesprächen mit dem indischen Premierminister Narendra Modi bemüht, New Delhi, das zuletzt ebenfalls Sondierungen zugunsten einer Verhandlungslösung unternommen hat, davon abzubringen. Er hatte keinen Erfolg; Modi erklärte: "Indien steht bereit, an jedem Friedensprozess teilzunehmen und einen Beitrag dazu zu leisten."[8]

"Russland schwächen"

Während im Globalen Süden die Forderung nach einer Verhandlungslösung immer lauter wird und konkrete Initiativen zunehmen (german-foreign-policy.com berichtete [9]), dauert im Westen die Debatte über Russlands Zukunft nach einem etwaigen militärischen Sieg der Ukraine an. Bereits im April vergangenen Jahres hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin als Ziel genannt: "Wir wollen Russland in einem solchen Ausmaß geschwächt sehen, dass es Dinge, die es mit der Invasion in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann."[10] Faktisch ist dies gleichbedeutend mit einer machtpolitischen Deklassierung im Vergleich zu den USA: Niemand bezweifelt, dass die Vereinigten Staaten zu Invasionen in schwächere Staaten in der Lage sind; sie haben das schließlich oft genug demonstriert. Mittlerweile wird in wachsendem Maß nicht nur Russlands verheerende ökonomische Schwächung (Annalena Baerbock: "Russland ruinieren" [11]), sondern auch ein möglicher kompletter Zerfall des russischen Staates diskutiert. So führten vor knapp zwei Wochen die Washingtoner Jamestown Foundation sowie das ebenfalls in der US-Hauptstadt ansässige Hudson Institute eine gemeinsame Veranstaltung durch, die dazu dienen sollte - so der Titel -, sich "auf die Auflösung der Russischen Föderation vorzubereiten". Eine solche "Auflösung", hieß es, stehe im Fall einer russischen Kriegsniederlage bevor.

"Russland zerschlagen"

Näher beschrieben - und befürwortet - haben ein derartiges Szenario bereits vergangenes Jahr Experten der Jamestown Foundation. Demnach muss zunächst Russlands "vollständige militärische Niederlage" in der Ukraine erreicht werden.[12] Auf diese könnten zweierlei Ereignisse folgen. Das eine, als "minimalistisches Ziel" beschrieben, besteht demnach darin, Russland in eine "lockerere, konföderationsähnliche politische Verwaltungsstruktur" umzuwandeln, in der es der Moskauer Zentrale nicht mehr möglich ist, eine unmittelbare Kontrolle über Grenzregionen sowie über Wohngebiete ethnischer Minderheiten auszuüben. Das zweite, als "maximalistisches Ziel" etikettiert, besteht in einer kompletten Zerschlagung und Teilung der Russischen Föderation "entlang ethnoreligiöser Linien".[13] Dabei würden zahlreiche Regionen von Tschetschenien über Dagestan bis Tatarstan zu eigenen Staaten erklärt. Vom heutigen Russland würde nur noch ein vergleichsweise kleines Kernterritorium übrigbleiben. Vorbereitend könnten etwa "ethno-regionale Aktivisten" in Russland oder im Exil unterstützt werden, notfalls online, hieß es in einer Buchpublikation im vergangenen Jahr; dazu könne man nicht nur finanzielle und publizistische Unterstützung leisten, sondern auch PR-Kampagnen innerhalb Russlands gegen Präsident und Regierung realisieren.[14]

"Russland umerziehen"

Komme es zum kompletten Zerfall der Russischen Föderation, dann müsse, so fordern es Jamestown-Experten, ein Plan umgesetzt werden, der vergleichbar sei mit dem 1944 für NS-Deutschland vorgesehenen Morgenthau-Plan.[15] So solle "ein international überwachtes Demilitarisierungsprogramm" durchgeführt werden, das "die Rückkehr eines aggressiven russischen Militarismus und Expansionismus höchst unwahrscheinlich" mache. Gleichzeitig, heißt es weiter, müssten sich vor einem internationalen Tribunal nicht nur Kriegsverbrecher, sondern auch "Schlüsselpropagandisten, Kriegsbefürworter in den politischen Eliten" und für den Ukraine-Krieg mitverantwortliche "Intellektuelle und Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes" verantworten. Dies dürfe freilich nur Teil eines "massiven Lustrationsprozesses" sein, der "breitere Schichten der russischen Gesellschaft" erfasse. Das alles müsse von einem "massiven Programm der Entsowjetisierung" begleitet werden, das "die Mythen und Täuschungen" aus der sowjetischen Ära beseitige. Schließlich gehe es auch darum, den "Indoktrinationsprozess", dem die russische Jugend ausgesetzt sei, zu stoppen und "die Ergebnisse dieses Prozesses umzukehren". Gemeint ist offenkundig eine Art Umerziehungsprogramm für die Bevölkerung des zerschlagenen, in zahlreiche Einzelregionen aufgespaltenen Russlands.

Wie die Nürnberger Prozesse

Die Debatte ist längst auch nach Europa vorgedrungen. So plädierte etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein ukrainischer Parlamentsabgeordneter dafür, Russland auf ähnliche Weise zu "entimperialisieren", wie es nach dem Ersten Weltkrieg mit Österreich-Ungarn geschah. Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas erwiderte bedauernd, es habe in Russland niemals etwas gegeben, was den Nürnberger Prozessen in Deutschland im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg entsprochen habe. Kallas forderte für das Nachkriegsrussland - etwas diffus, aber in der "entimperialisierenden" Stoßrichtung klar - "Verantwortlichkeit" ein.[16]


Mehr zum Thema:
Zur Kriegsmacht geworden
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9174
und "Auf der Seite der Diplomatie" (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9169


Anmerkungen:

[1] China's Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis. fmprc.gov.cn 24.02.2023.

[2] George Wright, Jaroslav Lukiv: Ukraine war: Zelensky wants Xi Jinping meeting following China's peace plan. bbc.co.uk 25.02.2023.

[3] Kuleba on China's peace plan: We disagree with at least one point. en.interfax.com.ua 25.02.2023.

[4] Baerbock: "Das Bomben muss aufhören". zdf.de 24.02.2023.

[5] Hofreiter: China versucht, Teile der Welt zu täuschen. tagesschau.de 24.02.2023.

[6] Djir-Sarai: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. fdp.de 24.02.2023.

[7] Klaus Schade: Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter spricht in Ettenheim. schwarzwaelder-bote.de 24.02.2023.

[8] Pressestatements von Bundeskanzler Scholz und dem indischen Premierminister Modi am 25. Februar 2023 in Neu Delhi.

[9] S. dazu "Auf der Seite der Diplomatie" (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9169

[10] Missy Ryan, Annabelle Timsit: U.S. wants Russian military 'weakened' from Ukraine invasion, Austin says. washingtonpost.com 25.04.2023.

[11] S. dazu "Russland ruinieren".
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8856

[12] Sergey Sukhankin: A 'Morgenthau Plan' for Russia: Avoiding Post-1991 Mistakes in Dealing With a Post-Putin Russia (Part Two). jamestown.org 08.12.2022.

[13] Sergey Sukhankin: A 'Morgenthau Plan' for Russia: Avoiding Post-1991 Mistakes in Dealing With a Post-Putin Russia (Part Three). jamestown.org 15.12.2022.

[14] Janusz Bugajski: Failed State. A Guide to Russia's Rupture. Washington 2022.

[15] Sergey Sukhankin: A 'Morgenthau Plan' for Russia: Avoiding Post-1991 Mistakes in Dealing With a Post-Putin Russia (Part Two). jamestown.org 08.12.2022.

[16] MSC 2023: Back to the Future? Visions for the European Security Architecture. youtube.com.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Februar 2023

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