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DILJA/1221: Brasilien - Großmachtsambitionen vertragen sich nicht mit "Sozialismus" (SB)


Brasilien möchte als Führungsmacht Lateinamerikas Weltpolitik machen

Für die Emanzipationsbewegung könnte sich Präsident Lula da Silva als Teil des Problems und nicht der Lösung erweisen


Seit dem 1. Januar 2003 fungiert Luiz Inácio (Lula) da Silva von der 1980 von ihm mitgegründeten Arbeiterpartei "Partido de Trabalhodores" (PT) in Brasilien als Staats- und Regierungschef. Bei den Wahlen im Oktober 2006 wurde er in seinem Amt bestätigt, und so liegt die Vermutung nahe, daß sich mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Metallarbeitergewerkschaft im Präsidentenamt auch der mit Abstand größte Staat Lateinamerikas der linken Emanzipationsbewegung angeschlossen hat, die in den Hauptstädten der europäisch-nordamerikanischen Achse längst für erhebliches Kopfzerbrechen gesorgt haben wird. Nicht nur in Washington, sondern auch in Brüssel, London, Paris und selbstverständlich auch Berlin werden die Regierungen derjenigen Staaten Lateinamerikas, die sich die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft nicht nur zu Befriedungszwecken auf die Fahnen geschrieben, sondern im Zuge ihrer diesbezüglichen Bemühungen realexistierende und unbestreitbare soziale Erfolge errungen haben, nicht nur mit Argusaugen angesehen, sondern mit mehr oder minder unsauberen Methoden zu diskreditieren versucht.

Die Glaubwürdigkeit, die beispielsweise die Regierung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez unter großen Teilen der eigenen Bevölkerung, aber auch über die Landesgrenzen Venezuelas hinaus genießt, ist keineswegs dem Redetalent geschuldet, das westliche Repräsentanten dem Politiker, früheren Oberstleutnant und Kommandeur einer Fallschirmjägereinheit nicht ohne Neid zugestehen. Der heutige Präsident Venezuelas hatte mit nicht unerheblichen Vorbehalten zu kämpfen, die ihm als einem ehemaligen Militär vor dem Hintergrund der noch jungen, von Diktaturen und Militärputschen geprägten Geschichte Lateinamerikas entgegengebracht wurden, und so hatten sich die ersten Jahre seiner Regierungszeit als die wohl schwierigsten erwiesen.

Solche Probleme hatte sein brasilianischer Amtskollege Lula da Silva nicht zu gegenwärtigen, steht doch einem führenden Gewerkschafter und Gründungsmitglied einer "Partei der Arbeiter" das Etikett "links" quasi auf die Stirn geschrieben. Zu den sogenannten Linkspräsidenten Lateinamerikas sind desweiteren Evo Morales (Bolivien), Fernando Lugo (Paraguay) und Rafael Correa (Ecuador) zu zählen. Alle fünf nahmen am 29. Januar 2009 im brasilianischen Belém am globalisierungskritischen Weltsozialforum teil. Mit scharfen Worten geißelten die Regierungschefs, die einen großen Teil Lateinamerikas repräsentierten, Kapitalismus und Neoliberalismus, machten diese für Armut und Arbeitslosigkeit auf dem Kontinent verantwortlich und riefen die Linke zu einer Offensive auf. Auf einer Kundgebung mit zehntausend Teilnehmern zeigte sich Hugo Chávez recht nüchtern angesichts des vielfach mit großen Hoffnungen verknüpften Wahlerfolgs Barack Obamas, während sein brasilianischer Amtskollege da Silva den Wechsel im US-Präsidentenamt damit verknüpft sehen wollte, daß die Linke Fortschritte mache.

"Das heißt, daß sich die Dinge ändern. Nicht so schnell, wie wir das wünschen, aber sie ändern sich", so der Präsident Brasiliens, der zudem erklärte, daß keine Präsidenten mehr gewählt werden könnten, die nicht auf das Volk und die sozialen Bewegungen hörten. Die Betonung einer solchen Selbstverständlichkeit mutet ein klein wenig entlarvend an, und es fällt auf, daß Lula da Silva es tunlichst vermeidet, seine Regierung an der Umsetzung der Wahlversprechen wie auch der Forderungen, die von Basisorganisationen erhoben werden, messen zu lassen. Der brasilianische Präsident wird seine Gründe gehabt haben, im Unterschied zu den vier anderen Regierungschefs am selben Tag in Belém nicht an einer Diskussionsveranstaltung der internationalen Bauernbewegung "Via Campesina" teilgenommen zu haben, auf der Chávez vor abermals 1200 Zuhörern davon sprach, daß die Utopie einer neuen Welt in Südamerika liege und daß namentlich der frühere kubanische Staatschef Fidel Castro den Linksruck in Lateinamerika vorangebracht habe.

Ob Lula da Silva an einem solchen Ruck tatsächlich interessiert ist, ist eine noch ungeklärte Frage, gilt der brasilianische Staatschef doch als politisch gemäßigt. Ihm wird nachgesagt, daß die USA schon zu Zeiten von Obamas Amtsvorgänger, dem Republikaner George Bush Jun., sehr daran interessiert waren, ihn zu einem politischen Gegengewicht und Kontrahenten gegenüber Chávez aufzubauen; diesem Zweck soll die Bush-Visite in Brasilien im März 2007 gegolten haben. Inzwischen hat sich da Silva auf internationalem Parkett sehr wohl profiliert und positioniert, und dies in durchaus US-kritischer Hinsicht. Erinnert sei nur an die Entscheidung Brasiliens, dem gestürzten honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya nach dessen heimlicher Rückkehr in sein Land in ihrer Botschaft Schutz vor den Machthabern zu gewähren. Die jüngsten diplomatischen Aktivitäten des brasilianischen Präsidenten, der in kurzer Zeit führende Repräsentanten aller am Nahost-Konflikt beteiligten Staaten zu Gesprächen in Brasilia empfing, sprechen für die Fortschritte, die Brasilien in seinem Bestreben, sich nicht nur als Führungsmacht Lateinamerikas, sondern als globaler Akteur zu etablieren, inzwischen allem Anschein nach gemacht hat.

Die These, Lula da Silva könnte von führenden westlichen Staaten instrumentalisiert worden sein, um ihn in dem Kampf um die "Hirne und Herzen" der Menschen in Lateinamerika, aber auch darüber hinaus, als Sympathieträger mit systemstabilisierender Wirkung aufzubauen, ist damit keineswegs widerlegt. Es steht zudem zu bezweifeln, daß sich der internationale politische Einfluß des brasilianischen Präsidenten, wenn es ihn denn gäbe, tatsächlich mit einer rigoros antikapitalistischen Haltung begründen ließe. Wenn Brasilien heute weltpolitisch ein gewisser Status zuerkannt wird, mag dies an dem stillen Wohlwollen seitens der führenden westlichen Staaten wie auch der wirtschaftlichen und militärischen Potenz des größten Landes Lateinamerikas liegen.

Ein kurzer Blick in die soziale Realität Brasiliens mag genügen, um die eklatanten Unterschiede zu Staaten wie Kuba, Venezuela und Bolivien zu verdeutlichen. So wird in Rio de Janeiro seit Beginn dieses Jahres noch massiver als zuvor gegen Bettler und Obdachlose vorgegangen. Nicht die Armut, sondern die Armen werden bekämpft mit repressiven Methoden, wie sie in kapitalistischen Staaten gang und gäbe sind. Namentlich das Nulltoleranz-Konzept des früheren New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani, demzufolge auch minimalste Verfehlungen streng geahndet werden, hat hier Pate gestanden. In Rio wurden die (illegalen) Behausungen der ärmsten Bewohner der Favelas systematisch abgerissen, um der Stadt ein dem Tourismusgeschäft zuträgliches Äußeres zu verschaffen. In Sao Paulo kam es im Februar in der sozial schwächsten Favela zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern und der Militärpolizei, nachdem ein des Autodiebstahls verdächtigter Anwohner bei einer Polizeiaktion erschossen worden war. In Rio de Janeiro wurden an einem einzigen Tag bei ähnlichen Auseinandersetzungen in den Favelas mindestens zwölf Menschen getötet.

Doch nicht nur in den Städten, auch auf dem Land herrscht ein solcher, keinewegs lautloser Krieg zwischen den militarisierten Ordnungskräften und einer kriminalisierten Armutsbevölkerung. Nach Angaben der größten Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) wurden seit dem Massaker von Eldorade dos Carajás, bei dem am 17. April 1996 19 Landarbeiter von der Militärpolizei getötet worden waren, 414 Menschen bei Auseinandersetzungen um die Landfrage ermordet, wobei die Verantwortlichen in aller Regel straffrei ausgehen. An dieser Praxis hat sich in der Regierungszeit Lula da Silvas nicht das Geringste geändert. Der Präsident hat sich zwar unter anderem auch mit dem Versprechen, die längst überfällige Agrarreform in Angriff zu nehmen, wählen lassen, doch eingehalten wurde diese Zusage nicht.

Vanderlei Martini, nationaler Koordinator der Landlosenbewegung MST, stellte schon im April dieses Jahres klar, daß die Regierung da Silva in dieser Hinsicht noch schlechtere Resultate aufzuweisen hat als die ihres Vorgängers, Präsident Fernando Henrique Cardoso. Seit 1996 hätten demnach 250.000 Familien Land zugewiesen bekommen. Präsident da Silva hätte 550.000 Familien Land versprochen, doch nur 163.000 hätten in seiner ersten Amtszeit auch welches bekommen. Noch immer ist Brasilien ein Staat, in dem eine aus 20 Familien bestehende Oligarchie über soviel Land verfügt wie 3,3 Millionen Kleinbauern, während weitere 4,5 Millionen Familien noch immer überhaupt keinen Boden haben. Der zuständige Minister ist nicht bereit, mit Vertretern der Landlosenbewegung auch nur zu sprechen. Stattdessen wird diese kriminalisiert und verfolgt. Am 21. August wurde einer ihrer Aktivisten im Bundesstaat Río Grande do Sul von der Militärpolizei erschossen.

Im November kündigte João Paulo Rodrigues, Führungsmitglied der Landlosenbewegung, an, daß seine Organisation, da sich der Konflikt mit der Regierung noch weiter zugespitzt habe, bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Beschwerde einlegen wird wegen ihrer Unterdrückung und Kriminalisierung durch den brasilianischen Staat. Umgehend hagelte es Kritik seitens der Regierung, aber auch der im Parlament vertretenen Opposition. Es ginge nicht an, so befand Cándido Vaccarezza, Fraktionsvorsitzender der regierenden Arbeiterpartei PT, daß das Parlament durch eine solche Beschwerde der Landlosen diskreditiert werde. Ronaldo Caiado von den oppositionellen Demokraten (DEM) betonte, daß seine Partei die Landlosen nicht unterstütze. Im Oktober war ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingerichtet worden, der sich keineswegs mit den Feststellungen und Forderungen der MST nach einer Umsetzung der Landreform befassen sollte, sondern deren Aktivitäten, zu denen in den zurückliegenden Jahren gewaltsam durchgeführte Landbesetzungen durch mutmaßliche MST-Mitglieder gerechnet wurden, unter die Lupe nahm.

Nach Angaben des MST-Mitglieds Rodrigues ist der von Repräsentanten der Agrarlobby beeinflußte Untersuchungsausschuß ein Instrument, mit dem die Landlosenbewegung diskreditiert und die Agrarreform weiter verhindert werden soll. Dabei scheint die PT, die regierende Partei Präsident Lulas, im Lager der Agrarunternehmer zu stehen und keineswegs auf seiten der Landlosen, als deren historischer Verbündeter dieser noch immer gilt. Anfang November beschuldigte das Agrarunternehmen Santa Bárbara MST-Mitglieder, im Bundesstaat Pará im äußersten Norden Brasiliens ein Landgut zerstört und in Brand gesetzt zu haben. Die Beschuldigten wiesen die Anwürfe zurück. Gleichwohl forderten sowohl die Zivilpolizei als auch die Lulas PT angehörende Gouverneurin Präventivhaft gegen den MST-Koordinator Charles Trocate, weil dieser, ohne "physisch anwesend" zu sein, der Verantwortliche gewesen sei. Da die Regierung da Silva keine nennenswerten Anstrengungen unternimmt, um eine Agrarreform durchzuführen, die das bestehende Verhältnis zwischen arm und reich auf den Kopf stellt, kann auf ihrer Seite ein Interesse an einer Diskreditierung und Kriminalisierung der Landlosenbewegung nicht ausgeschlossen werden. Nach wie vor besitzen die oberen zehn Prozent des Landes 85 Prozent des Grund und Bodens.

In anderen sozialen Fragen hat die Regierung Lula ebenfalls keine nennenwerten Erfolge vorzuweisen, was ihr nicht per se zum Vorwurf gemacht werden kann und gleichwohl die Frage aufwirft, ob sie an einer Umsetzung ihrer Versprechen tatsächlich interessiert ist. Ebensowenig wie die Landreform kommt die Alphabetisierung voran. Wie das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (IBGE) im Mai bestätigte, gibt es 14 Millionen Brasilianer und Brasilianerinnen, die über 15 Jahre alt sind und nicht lesen und schreiben können. Brasilien, das keineswegs zu den ärmsten Staaten Lateinamerikas gehört, weist ein Drittel der auf insgesamt 35 Millionen bezifferten Analphabeten der Region auf. Die Annahme, daß die Regierung da Silva die Bekämpfung der Armen und nicht der Armut betreibt, wird genährt durch eine Studie des brasilianischen Sondersekretariats für Menschenrechte, in der geschätzt wird, daß die Zahl der Jugendlichen, die zwischen 2006 und 2013 ermordet werden, bei 33 Millionen liegen wird. Diese Prognose beruht auf Informationen aus 267 Gemeindebezirken Brasiliens über die Todesursachen junger Menschen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren.

Weitere Meldungen über die soziale und politische Realität Brasiliens sind eher geeignet, Erinnerungen an die Diktatur wachzurufen, als glauben zu machen, hier sei eine Regierung angetreten, die eine Zäsur vornehmen und das Land in den Sozialismus führen will. Aufgrund weitreichender Amnestiegesetze ist es in Brasilien, so heißt es, bisher nicht möglich gewesen, die Verbrechen von Polizei und Militär während der Diktatur (1965 bis 1985) juristisch aufzuarbeiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Victoria Grabois, Vizepräsidentin der "Grupo Tortura Nunca Mais" (Gruppe Nie Wieder Folter), warnte deshalb schon im August davor, daß die Opfer der Diktatur niemals Gerechtigkeit erfahren würden. "Wie können diejenigen, die Guerilleros getötet haben, die große Teile der Bevölkerung festgenommen und gefoltert haben, nun die Verantwortung für die Untersuchung des Falles übernehmen?" fragte Grabois aus Sorge darüber, daß bei den derzeit durchgeführen Untersuchungen die letzten vorhandenen Beweise vernichtet werden könnten.

Für Lula da Silva stehen diese und ähnliche Fragen allem Anschein nach nicht auf den vordersten Plätzen seiner Prioritätenliste, und so muß geargwöhnt werden, daß das zunehmende internationale Gewicht Brasiliens der Potenz geschuldet ist, die das größte Land Lateinamerikas als Stabilisierungsfaktor der bisherigen, westlich dominierten Weltordnung geschuldet ist und nicht einem rigorosen Engagement für eine glaubwürdige Gegenposition, deren Basis fraglos die sozialen Verhältnisse im eigenen Land wären. Euphorisch zeigte sich Lula, nachdem Brasilien den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Spiele im Sommer 2016 erhalten hatte, nachdem bereits feststand, daß die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Rio de Janeiro ausgetragen werden wird.

Für die Elendsbevölkerung der 6-Millionen-Menschen-Metropole sind dies keineswegs gute Nachrichten. Präsident da Silva kündigte angesichts dessen keineswegs an, die massiven sozialen Probleme Rios wie auch aller anderen Städte und Regionen Brasiliens in Angriff nehmen zu wollen. Der unterschwellige Krieg gegen die eigene Armutsbevölkerung, der schon heute unter dem Label "Kriminalitäts- und Drogenbekämpfung" geführt wird, soll noch weiter intensiviert werden. Wie Lula ankündigte oder vielmehr androhte, soll die "anhaltende Gewalt" in den Favelas angepackt und "das schmutzige Image Rios" gesäubert werden. Mit einem solchen Konzept hat sich der Präsident Brasiliens ganz im Gegensatz zu manchen seiner im Westen als "Linkspopulisten" diffamierten Amtskollegen anderer lateinamerikanischer Staaten in Washington, Brüssel, London, Paris und Berlin ganz gewiß keine Feinde gemacht.

27. November 2009