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DILJA/1281: Kriegsgefahr in Nahost? Massive Spannungen zwischen Israel und der Türkei (SB)


Was wäre, wenn zwei US-Verbündete aufeinander losgingen?

Im Anschluß an den israelischen Überfall auf die "Free Gaza"-Flottille nehmen die Spannungen zwischen Israel und der Türkei massiv zu


Jahrzehntelang stützte sich die US-amerikanische Einflußnahme und Vorherrschaft in der Region des Nahen und Mittleren Ostens auf zwei enge Verbündete oder, weniger freundlich ausgedrückt, willfährige Vasallen. Sowohl die Türkei als auch Israel gelten oder vielmehr galten als Staaten, über deren Gefolgschaft sich in Washington niemand mehr große Sorgen zu machen braucht. Da beide Länder zudem in nicht unerheblichen Ausmaße aus den USA Militärhilfe erhalten und miteinander über viele Jahre hinweg eine intensive politische, wirtschaftliche und auch militärische Zusammenarbeit entwickelt haben, stellt die aktuelle Entwicklung ein Problem dar, mit dem die Obama-Administration, aber auch die Verantwortlichen in der EU, wohl kaum gerechnet haben dürften.

Zwar sind die Spannungen zwischen dem NATO-Mitgliedstaat Türkei und dem Nicht-Mitglied Israel nicht erst durch den Angriff Israels auf die internationale Hilfsflotte für die Palästinenser im Gazastreifen entstanden, bei dem am 31. Mai acht türkische Staatsbürger von israelischen Soldaten getötet wurden, sie haben aber eine bislang unerreichte Qualität erlangt. Dieser Vorfall, für den sich zumindest gegenüber Ankara zu entschuldigen der israelischen Regierung ebensowenig einfällt wie Tel Aviv der vom türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogans verlangten unabhängigen Untersuchung zuzustimmen bereit ist, hat jedoch eine Wirkung entfaltet, die einer Lunte am offenen Feuer gefährlich nahe kommt.

Zwischen beiden US-Verbündeten findet derzeit ein verbaler Schlagabtausch statt, der das Potential einer darüber hinausgehenden Eskalation in sich tragen könnte. Der tatsächliche Hintergrund dürfte mehr auf türkischer Seite liegen als auf israelischer, weil die AKP-Regierung Erdogans schon seit längerem einen politischen Kurs erkennen läßt, der eine gewisse Distanz des NATO-Staates und EU-Aufnahmekandidaten zu den westlichen Mächten offenbart und die Aggressionen Israels mitausgelöst haben dürfte. Aus Sicht der türkischen Regierung ist diese Entwicklung nachvollziehbar und den Interessen des Landes durchaus zweckdienlich, auch wenn die den Staat bislang recht unangefochten kontrollierenden kemalistischen bzw. säkularen Eliten im Staats- und Militärapparat dies anders sehen dürften.

Die Erdogan-Regierung scheint zum großen Mißfallen Israels und der eher stillen Verärgerung ihrer NATO-Partner einen kooperativen Kurs gegenüber dem Iran eingeschlagen zu haben in dem Bestreben, sich auf eine eigenständige, das heißt von den westlichen Staaten losgelöste Weise als eine einflußreiche Regionalmacht in der Region zu etablieren. In der arabischen und asiatischen Welt wird die Türkei durchaus schon so wahrgenommen, und so ist es aus Sicht Ankaras nur folgerichtig, auch weiterhin die politische Zusammenarbeit mit diesen Staaten zu suchen und zu intensivieren. Eine Gelegenheit dazu bot sich der AKP-Regierung Anfang dieser Woche bei der "Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien" (CICA) in Istanbul.

In ihrer Gastgeberrolle hatte Ankara bei diesem zweitägigen Treffen darauf gedrungen, Israel wegen seines Überfalls auf die Free-Gaza-Flottille scharf zu verurteilen. Dazu kam es zwar nicht, was aber nach Informationen der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti einzig daran lag, daß diese 22 Teilnehmerstaaten umfassende Organisation nach dem Einstimmigkeitsprinzip Beschlüsse faßt, was es Israel ermöglichte, durch seine Stimme die eigene Verurteilung zu verhindern. Dem Vernehmen nach soll das gewaltsame Vorgehen der israelischen Marine von den allermeisten Konferenz-Teilnehmern gleichwohl scharf verurteilt worden sein.

Auch der seitens Israels sowie der westlichen Staaten schlecht beleumdete iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad hatte an der zweitägigen CICA-Konferenz in Istanbul teilgenommen. Dieser habe bei dieser Gelegenheit, so zumindest war es der westlichen Presse zu entnehmen, "seine verbalen Attacken gegen Israel erneuert" [2]. Unter Bezugnahme auf die Jerusalem Post wurde der iranische Präsident bei Welt.online mit den Worten zitiert, die "Intervention der israelischen Armee gegen die Gaza-Solidaritätsflotte" habe "die Totenglocke für das zionistische Regime" geläutet. Dies soll Ahmadinedschad vor einer "begeisterten Menge" gesagt haben. Da an anderer Stelle von der westlichen Presse durchaus moniert wurde, daß die Konferenz hinter verschlossenen Türen stattgefunden habe, darf angenommen werden, daß nicht nur der Iran, sondern auch die übrigen Teilnehmer, unter ihnen auch Rußland, auf diese Weise diskreditiert werden sollten.

Das Verhältnis zwischen der Türkei und Israel ist jedoch aufgrund des Überfalls auf die "Mavi Marmara", das unter türkischer Flagge fahrende Frontschiff der kleinen Hilfsflottille, nicht etwa nur abgekühlt, sondern aufgeheizt bis zu einem Grad, der die Frage, ob daraus noch die Gefahr eines Krieges in Nahost erwachsen könne, keineswegs abwegig erscheinen läßt. Am Rande der CICA-Tagung hatte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu Israel am Montag noch einmal aufgefordert, einer unabhängigen Untersuchungskommission zuzustimmen. "Sie haben keine Chance, vor dieser Kommission wegzurennen", so Davutoglu wörtlich. Und: "Wir erlauben niemandem, unsere Bürger zu töten." [3]

Israel hingegen ist durch die Verschlechterung seiner Beziehungen zur Türkei nicht im mindesten beeindruckt. Der Standpunkt der Türkei, daß ohne eine Untersuchung der Vorfälle keine Normalisierung der bilateralen Beziehungen möglich sei, rief in Tel Aviv nicht die geringste Geste des Einlenkens hervor. Im Gegenteil. Die Regierung Netanjahu mit ihrem Rechtsaußen-Außenminister Lieberman schüttet nach Kräften Öl ins Feuer, und da die herrschenden Eliten beider Länder bei aller Ungenauigkeit eines solchen Vergleichs vieles miteinander gemein zu haben scheinen, könnte die Gefahr einer womöglich sogar militärischen Eskalation gerade darin begründet liegen, daß beide Seiten um jeden Preis ihre Positionen behaupten wollen.

In Washington scheint man inzwischen bemerkt zu haben, welch eine den eigenen Hegemonialabsichten in der Region abträgliche Entwicklung sich zwischen Israel und der Türkei nicht etwa anbahnt, sondern längst Realität geworden ist. So wurde in der New York Times am Mittwoch beklagt [4], daß die Türkei jahrzehntelang "einer der fügsamsten Verbündeten der Vereinigten Staaten, ein strategischer Grenzstaat am Rande des Nahen Ostens, der zuverlässig der amerikanischen Politik folgte", gewesen sei, nun aber Washington mit Erklärungen und Methoden, "um seine eigene Interessen zu fördern", provoziere.

Daraus läßt sich ableiten, daß die USA im Zweifelsfall Israel die Stange halten würden bzw. daß Israel möglicherweise als US-amerikanischer Frontmann die Aufgabe, die Türkei in ihre Schranken zu verweisen, übernehmen würde. Eine weiteres Anheizen der Spannungen zwischen Ankara und Tel Aviv wurde bereits eingeleitet. Der türkische Ministerpräsident Erdogan wirft Israel nicht nur "Staatsterrorismus" vor, sondern hat Medienberichten zufolge bereits angekündigt, an der nächsten Hilfsflotte für den Gazastreifen selbst als Passagier teilzunehmen und einen solchen Konvoi durch türkische Kriegsschiffe begleiten zu lassen. Diese Herausforderung ließ Israel nicht unbeantwortet.

Die Worte Uzi Dayans, des früheren stellvertretenden Chefs des Generalstabs, kommen einer Kriegserklärung gleich, von der sich die amtierende Regierung Netanjahu distanzieren könnte, weil Dayan sozusagen nur aus der zweiten Reihe (verbal) geschossen hat. Dessen Worte, Israel sollte der Türkei klarmachen, daß ein Schiff, auf dem Erdogan anwesend wäre, nicht übernommen, sondern versenkt werden würde, werden ihre Wirkung auf die türkischen Militärs ebensowenig verfehlen wie auf Erdogans AKP-Regierung. Ob daraus tatsächlich, einmal angenommen, beide Seiten setzten die Eskalation fort, eine Kriegsgefahr im Nahen Osten entstehen wird, mag dahingestellt sein, doch in jedem Fall belegt diese Situation, in welchem Ausmaß den USA in ihrer selbstmandatierten Rolle eines Weltpolizisten die Kontrolle schon entglitten ist, um vom Ränkespiel der Europäischen Union, die noch immer zu glauben scheint, die Türkei wie einen lästigen, aber nützlichen Bauern übers Schachbrett schieben zu können, ganz zu schweigen.

Anmerkungen

[1] Abschlusserklärung der CICA-Konferenz in Istanbul ohne Verurteilung Israels, RIA Novosti, 8.6.2010
http://de.rian.ru/world/20100608/126630071.html

[2] Ahmadinedschad hetzt in Istanbul gegen Israel, Welt online, 9.6.2010,
http://www.welt.de/politik/ausland/article7952173/Ahmadinedschad-hetzt-in-Istanbul-gegen-Israel.html

[3] Angriff auf Gaza-Hilfsflotte: Türkei drängt Israel zu schneller Aufklärung, stern.de, 7.6.2010,
http://www.stern.de/politik/ausland/angriff-auf-gaza-hilfsflotte-tuerkei-draengt-israel-zu-schneller-aufklaerung- 1572155.html

[4] Zitiert nach: Umorientierung in Ankara. Nach Israels Sturmangriff auf Gaza-Hilfskonvoi: Türkischer Ministerpräsident in Abwendung vom Westen gestärkt. Erdogan intensiviert Verbindungen zu Syrien, Iran und Rußland, von Rainer Rupp, junge Welt, 20.06.2010, S. 3

10. Juni 2010