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DILJA/1326: Zum Gedenken an Blancanieve Portocarrero, Repräsentantin des neuen Venezuelas (SB)


"Eine andere Etappe in der Geschichte dieser Welt durchwandern"

Zum Tode der Botschafterin der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Blancanieve Portocarrero


Eine andere Welt ist möglich. Eine andere Welt ist möglich? Für die Venezolanerin Dr. Blancanieve Portocarrero ist bzw. war dies keine offene Frage, repräsentierte sie doch im engsten Wortverständnis die "Bolivarische Republik Venezuela" und damit den gleichnamigen Revolutionsprozeß in ihrem Heimatland, der ungeachtet aller Widersprüchlichkeiten, Rückschläge und noch immer ungelösten Probleme schon heute Ergebnisse gezeitigt und Tatsachen geschaffen hat, die die eingangs gestellte Frage gegenstandslos machen. Die Vehemenz, mit der hierzulande wie auch in den übrigen westlichen Führungsstaaten das heutige Venezuela inklusive seines Präsidenten Hugo Chávez wahlweise ignoriert oder nach Kräften diskrediert wird, korrespondiert gleichwohl nicht unbedingt mit den unbestreitbaren sozialen und partizipativen Fortschritten dieses lateinamerikanischen Landes, sondern mit der Virulenz, die die kapitalistische Welt nicht zu Unrecht in ihm vermutet ganz einfach deshalb, weil es ein Beispiel zu geben imstande ist für einen sozialen und politischen Transformationsprozeß, der auf der Nichtakzeptanz der bestehenden Gesellschaftsordnung beruht.

Venezuelas Botschafterin Blancanieve Portocarrero am 3.12.2008 - © by Schattenblick 2008

Venezuelas Botschafterin Blancanieve Portocarrero am 3.12.2008
© by Schattenblick 2008

Der promovierten Juristin und Soziologin Dr. Blancanieve Portocarrero oblag die nicht anders als schwierig zu nennende Aufgabe, als Botschafterin ihres Landes in der Bundesrepublik Deutschland dem vorherrschenden gerüttelt Maß an Desinformation und Diffamierung mit Gegenaufklärung, engagierter Stellungnahme und eigenem Beispiel nach Kräften entgegenzutreten. Bei gleich zwei Anlässen in der Berliner Botschaft Venezuelas hatte der Schattenblick in den zurückliegenden Jahren die Gelegenheit ergreifen und nutzen können, diese Bemühungen durch entsprechende Berichte und Interviews mit Botschafterin Portocarrero zu unterstützen. So hatte die Botschaft beispielsweise am 3. Dezember 2008 das venezolanische Tanzprojekt "Tanz und Behinderung" der elfköpfigen Gruppe "Transito" präsentiert. In ihrer Ansprache hatte Botschafterin Portocarrero anläßlich dessen davon gesprochen, daß die Botschaft dieses aus sogenannten "behinderten" und "nicht-behinderten" Menschen bestehenden Tanzensembles nicht zuletzt auch darin bestünde, der Welt zu zeigen, daß die venezolanische Regierung und das venezolanische Volk heute "eine andere Etappe in der Geschichte dieser Welt durchwandern" [1].

Am 21. November 2010 ist Frau Dr. Blancanieve Portocarrero nach schwerer Krankheit im Alter von 75 Jahren in ihrer Heimatstadt Valencia im venezolanischen Bundesstaat Carabobo verstorben. An der Universität von Carabobo war sie von 1967 bis 1999 als Professorin der Rechtswissenschaft tätig gewesen und hatte dort 1997 das Lehrfach "Rechte der Frau" eingeführt. Doch nicht nur geschlechtsspezifischen Gleichberechtigungsfragen galt ihr besonderes und unverbrüchliches Engagement. Nicht von ungefähr wurde sie 1999, also gleich zu Beginn des durch den ersten Erfolg von Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen Ende 1998 ermöglichten und aus der Taufe gehobenen Transformationsprozesses, der später "Bolivarische Revolution" genannt werden sollte, in die Verfassungsgebende Nationalversammlung in Caracas gewählt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie, wie sie dem Schattenblick anschaulich schilderte, "die Aufgabe, die Kapitel über die sozialen Rechte in der Verfassungsgebenden Versammlung zu koordinieren" [2].

Diese Verfassung, die keineswegs als eine sozialistische zu bezeichnen wäre und in weiten Strecken eine hohe Verwandtschaft zu den Verfassungen europäischer bürgerlicher Demokratien, so auch dem deutschen Grundgesetz, aufweist und doch in Einzelaspekten wesentlich konsequenter die erhobenen Teilhaberechte umsetzt und konkretisiert, trat am 24. März 2000 in Kraft. Namentlich das Kapitel über die sozialen Rechte, deren Koordination Portocarrero oblag, scheint ihre persönliche Handschrift zu tragen, was nur deshalb nicht voll zutreffend sein dürfte, weil der Prozeß der Verfassungsgebung, wie sie selbst schilderte, nicht das Werk Einzelner, sondern des ganzen Volkes unter Einbeziehung aller Interessengruppen gewesen war. Gleichwohl darf angenommen werden, daß die spätere Botschafterin Venezuelas in Berlin maßgeblich daran beteiligt gewesen war, daß auch zuvor gesellschaftlich ausgegrenzte und systematisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht nur sozialpolitisch betreut, sondern zu einem Leben in Würde berechtigt wurden.

Nicht wenige Artikel des den sozialen Rechten gewidmeten Verfassungsabschnitts müßten bundesdeutschen Politikern eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben, weil die venezolanischen Verfassungsansprüche die bundesdeutschen Verhältnisse bloßzustellen imstande sind und kritische Geister hierzulande geradezu beflügeln könnten, weil aufs Schmerzlichste deutlich wird, wie mit Menschen, die sich aufgrund bestimmter Lebensumstände am wenigsten wehren können und an denen kein gesellschaftliches Verwertungsinteresse (mehr) besteht, in einem der reichsten Industriestaaten der Welt umgegangen wird.

Im ersten SB-Interview hatte Botschafterin Portocarrero bereits erwähnt, daß in Artikel 88 der Verfassung die Tätigkeit von Hausfrauen als wertschaffende Tätigkeit anerkannt wurde mit der Folge, daß 150.000 Hausfrauen, die nie einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen waren, nun Leistungen aus der Sozialversicherung erhalten können.

In Artikel 80, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird älteren Menschen nicht nur die "volle Ausübung ihrer Rechte und Garantien" garantiert. Der Staat wird in die Pflicht genommen, ihnen "umfassenden Beistand und die Sozialleistungen, durch die ihre Lebensqualität verbessert und abgesichert wird", zu gewährleisten. Pensionen und Renten dürfen den städtischen gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten. Älteren Menschen, "die dies wünschen und dazu in der Lage sind, wird das Recht auf eine entsprechende Arbeit gewährt". [3]

Artikel 84 schreibt fest, daß der Staat ein öffentliches nationales Gesundheitssystem schafft und unter eigener Leitung betreibt, um das Recht auf Gesundheit zu gewährleisten. Für bundesdeutsche Verhältnisse mutet es nahezu unfaßbar an, daß dieses Gesundheitssystem laut venezolanischer Verfassung in ein System der sozialen Sicherheit integriert sein soll und unter anderem auf den Prinzipien der Kostenfreiheit (!), der Behandlung aller Krankheiten, Gleichheit und Solidarität zu beruhen hat.

Nun mag eingewendet werden, daß im Gesundheitssystem Venezuelas wie auch in anderen sozialen Bereichen heute nicht unbedingt alles zum besten stünde. Auf den wesentlichen Unterschied wies Botschafterin Portocarrero im Schattenblick-Gespräch hin, indem sie deutlich machte, daß die venezolanische Bevölkerung mit dieser Verfassung in der Hand ihre Rechte einfordert, was von der venezolanischen Regierung ausdrücklich befürwortet und so gewollt wird. Für hiesige Verhältnisse, in denen die Empfänger von Transferleistungen nach Kräften eingeschüchtert, bezichtigt und seitens der Sozialbehörden drangsaliert werden, um ihnen "das Anspruchsdenken" auszutreiben, muß die Haltung der venezolanischen Botschafterin in dieser Frage wie Blasphemie wirken [2]:

Und deswegen erlebt man, daß in Venezuela heute alle Welt mit einer kleinen Verfassung in der Hemdtasche oder in der Innentasche herumläuft und die auch sofort rausholt und wirklich die Rechte studiert. Das ist nun wirklich eine sehr, sehr schöne Erfahrung. Deswegen gibt es auch eine sehr umfassende soziale oder gesellschaftliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt, und deswegen verteidigt die Bevölkerung auch ihre Revolution. Deswegen war die Bevölkerung auch in der Lage, im April 2002 ihren Präsidenten zu retten. Das ist einer der Gründe dafür.

Im Jahre 2000 war Dr. Portocarrero von Präsident Chávez zur Ministerin für Arbeit ernannt worden. Zwei Jahre später hatte sie die Leitung der Ständigen Vertretung Venezuelas bei verschiedenen UN-Organisationen in Genf übernommen. Vom 1. März 2005 bis zu ihrem Todestag bekleidete sie das Amt der Botschafterin Venezuelas in Deutschland. In dieser Eigenschaft hielt sie am 4. Februar 2009 anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Bolivarischen Revolution in Venezuela einen ebenso informativen wie überzeugenden Vortrag, über den der Schattenblick ebenfalls berichtete [4].

In einem am selben Tag geführten SB-Interview wurde sie, gemünzt auf die exponierte Stellung von Präsident Chávez, gefragt, ob es nicht ein Schwachpunkt der Revolution sei, "wenn sie nach zehn Jahren immer noch von einer Person abzuhängen scheint" [5]. Ihre darauf gegebene Antwort soll hier in voller Länge wiedergegeben werden, weil aus ihr unmißverständlich und beispielhaft hervorgeht, in welch hohem Maße sich gerade diese Diplomatin die bolivarischen, sozialistischen und partizipativen Inhalte und Ideale dieses Revolutionsprozesses in ihrem Denken und Handeln zu eigen gemacht hat [5]:

In diesem Moment ist kein anderer da, der dieses Charisma hätte, wie es Präsident Chavez hat. Es geht ja nicht nur um den Präsidenten, es geht um die soziale Basis der Revolution, und wir haben im Moment niemanden, der ihn ersetzen könnte. Es gibt im Moment aber auch keinen anderen Vorschlag, der noch sozialer oder besser wäre als der bolivarische Prozeß. Dieser ist insgesamt gesehen das Wertvollste, was es im Moment gibt. Sicher werden sich andere Führer im Verlauf dieses lebendigen Prozesses herauskristallisieren und sie werden bestimmt nicht von den derzeit höheren Positionen herkommen, sondern von der Basis, von den jungen Menschen, die diesen Prozeß schon vom Jugendalter an gelebt haben. Daraus werden bestimmt neue Führer hervorgehen. Wesentlich an diesem demokratischen Prozeß ist, daß wir die Partizipation der Bürger anregen und die Selbstbestimmung fördern. Und diese Selbstbestimmung stimulieren wir natürlich in den verschiedenen Bereichen, in denen sich der einzelne Bürger bewegt, und das wird ein neues soziales Netzwerk hervorrufen, eine neue soziale Basis. Daraus wird dann wahrscheinlich nicht nur einer, sondern es werden viele Personen daraus hervorgehen, die Führungsqualitäten besitzen und die sich miteinander verbinden und daraus wird vielleicht eine ganz andere Art von Führung entstehen.

"Eine ganz andere Art von Führung" ... wer würde sich in diesem Kontext und bei diesen Worten nicht unwillkürlich an die unerfüllte und fast schon in Vergessenheit gebrachte Menschheitsutopie eines herrschaftsfreien Zusammenlebens erinnert fühlen, ob man sie nun mit dem Etikett "Sozialismus" versehen möchte oder nicht? Unter den Schattenblick-Mitarbeitern herrschte nach einem dieser eindrucksvollen Abende in der Berliner Botschaft die Auffassung vor, daß dieser Hauch Venezuela gut und gerne als "Sozialismus" bezeichnet werden könne, wohlwissend, daß eine solche Einschätzung historischen und soziowissenschaftlichen Kriterien oder auch linkstraditionellen Klassenanalysen keineswegs standhalten würde. Noch ganz unter dem Eindruck stehend, eher zu Gast bei Freunden gewesen zu sein als einem offiziellen diplomatischen Ereignis beigewohnt zu haben, hatte es keiner weiteren Worte bedurft, um klarzustellen, wie untrennbar dieser Hauch Venezuela, dieser Hauch Sozialismus mit der persönlichen Präsenz von Blancanieve Portocarrero in Verbindung gestanden hatte.


Anmerkungen

[1] Schattenblick -> INFOPOOL -> PANNWITZBLICK -> REPORT (9. Dezember 2008):
BERICHT/001: Prothetische Freiheiten - Eine kulturelle Errungenschaft in Tanz und Behinderung (SB)

[2] Schattenblick -> INFOPOOL -> PANNWITZBLICK -> REPORT (9. Dezember 2008):
INTERVIEW/001: Interview mit B. Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)

[3] Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela vom 24. März 2000, 1. deutschsprachige Auflage 2005, herausgegeben von der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland

[4] Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (9. Februar 2009):
BERICHT/011: Zehn Jahre Bolivarische Revolution in Venezuela (SB)

[5] Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (9. Februar 2009):
INTERVIEW/007: Blancanieve Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)


Zum Weiterlesen

Schattenblick -> INFOPOOL -> PANNWITZBLICK -> REPORT (9. Dezember 2008):
BERICHT/001: Prothetische Freiheiten - Eine kulturelle Errungenschaft in Tanz und Behinderung (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> PANNWITZBLICK -> REPORT (9. Dezember 2008):
INTERVIEW/001: Interview mit B. Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> BILDUNG UND KULTUR -> REPORT (9. Dezember 2008):
BERICHT/001: Entfesselter Ausdruck - Eine kulturelle Errungenschaft in Tanz und Behinderung (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (9. Februar 2009):
BERICHT/011: Zehn Jahre Bolivarische Revolution in Venezuela (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (9. Februar 2009):
INTERVIEW/007: Blancanieve Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (23. Juni 2010):
BERICHT/028: Oligarchen zittert! Hamburger Veranstaltung zur Volksmacht in Venezuela (SB)

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT (11. August 2010):
BERICHT/032: Solidarität mit Venezuela - Kundgebung in Hamburg-Ottensen (SB)


26. November 2010