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DILJA/1386: Timoschenkos Hungerstreik liefert Vorwandslage für Konfrontationskurs (SB)


Diplomatischer Druck gegen Kiew aus angeblich humanitären Gründen



Im Oktober 2011 wurde die ukrainische Politikerin Julia Timoschenko in einem international umstrittenen Gerichtsprozeß wegen Amtsmißbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Berufungsantrag gegen dieses Urteil wurde abgelehnt. Seit dem 19. April 2012 wird in der Ukraine in einem zweiten Strafverfahren gegen die 51jährige Politikerin verhandelt, die im Jahre 2004 die "orangene Revolution", wie die vom westlichen Ausland massiv unterstützte, zivile Protest- und Umsturzbewegung in dem Land genannt wurde, angeführt hatte. Ihr damaliger Widersacher, der im Westen als pro-russisch geltende Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, hatte zwar seinerzeit den Amtssitz räumen müssen, ist jedoch, nachdem er 2010 die letzte Wahl wieder für sich entscheiden können, inzwischen Präsident des Landes. Gegen ihn hätte Julia Timoschenko beim nächsten Urnengang 2015 erneut antreten wollen, um das offenkundige Fiasko der von ihr angeführten "Revolution" abermals in einen politischen Sieg der durch sie repräsentierten Kräfte umzumünzen.

Ob die Politikerin in der Ukraine über einen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung verfügt, steht allerdings zu bezweifeln. Als Oppositionspolitikerin konnte sie sich in erster Linie in der EU sowie in den USA sowie maßgeblichen westlichen Medien einen Namen machen. Sie wird nicht müde zu behaupten, Opfer eine politischen Rachejustiz geworden zu sein und erhält bei diesen Anschuldigungen tatkräftige Unterstützung aus dem mit ihr befreundeten westlichen Ausland. Der Sachverhalt selber läßt sich nicht so ohne weiteres lückenlos aufklären. Als im August vergangenen Jahres in Kiew zu ihrer Unterstützung ein Protestcamp organisiert wurde, ließen sich nur einige wenige tausend Menschen mobilisieren, obwohl diese Initiative, zumindest aus westlicher Sicht, prominente Unterstützung durch den Wahlblock des weltbekannten Boxers Witali Klitschko gefunden hatte.

Schon damals regte sich internationaler Protest gegen die Inhaftierung der Politikerin, deren Antrag auf Umwandlung der Untersuchungshaft in einen Hausarrest per Gericht abgelehnt worden war. Die Europäische Union, die USA und etliche europäische Staaten wie Großbritannien äußerten ihre Bedenken gegenüber der ukrainischen Führung und appellierten an sie, ein rechtsstaatliches Verfahren im Fall Timoschenko zu garantieren. Seltsamerweise erntete die Regierung in Kiew jedoch auch auf russischer Seite verhaltene Kritik an dem juristischen Vorgehen gegen die Politikerin, die ausgerechnet wegen des Gas-Abkommens verurteilt wurde, das sie als Ministerpräsidentin der Ukraine 2009 mit ihrem damaligen russischen Amtskollegen Wladimir Putin abgeschlossen hatte. Nach Einschätzung von Nikolai Asarow, dem heutigen Ministerpräsidenten der Ukraine, hätten die auf diesem Abkommen beruhenden Preiserhöhungen die Ukraine beinahe in den Bankrott getrieben, weshalb er diese Vereinbarung als Verrat an dem Land und seinen Menschen ansehe.

Zwischen Kiew und Moskau gibt es weitere Verstimmungen. So lehnte die ukrainische Führung um Janukowitsch eine Fusion des nationalen Gasversorgers Naftogas Ukrainy mit dem russischen Staatsmonopolisten Gasprom ebenso ab wie die Errichtung einer gemeinsamen Wirtschaftszone. Moskau reagierte verschnupft, der damalige Präsident Dmitri Medwedew sagte einen geplanten Staatsbesuch in der Ukraine ab. Allem Anschein liegt die ukrainische Führung sowohl mit dem großen russischen Nachbarn als auch mit den westlichen Staaten über Kreuz. Inzwischen drohen auch westliche Politiker mit diplomatischen Sanktionen. Stein des Anstoßes ist die inhaftierte Julia Timoschenko bzw. ihr schlechter Gesundheitszustand. Sie leidet an Rückenschmerzen und soll sich in der akuten Phase eines Bandscheibenvorfalls befinden. Bereits im Februar haben hochrangige Mediziner der Berliner Charité, Klinikchef Karl Max Einhäupl sowie der Leiter der Orthopädie, Norbert Haas, Timoschenko in der Haft untersucht.

Am 13. April wurden die beiden Ärzte in Begleitung eines Vertreters des deutschen Bundeskanzleramtes abermals in der Haftanstalt von Charkow vorstellig, wo Timoschenko, gegen die in einem zweiten Strafprozeß wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung verhandelt wird, inhaftiert ist und wo nach einhelliger Einschätzung dieser Experten ihre Behandlung nicht in medizinisch ausreichender Weise durchgeführt werden kann. Eine Überstellung in eine nahegelegene Klinik lehnte die Politikerin, die auf eine Behandlung in der Charité hofft, ab. Dies wurde jedoch, gegen ihren Willen und mit, so die Vorwürfe, gewaltsamen Mitteln durchgesetzt. Wie die Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine, Nina Karpatschowa, bestätigte, seien bei Timoschenko an den Armen und am Bauch Blutergüsse festgestellt worden, unklar sei ihren Angaben zufolge allerdings, woher die Verletzungen rührten.

Julia Timoschenko ist, um gegen die ihr zugefügte Behandlung und Inhaftierung zu protestieren, inzwischen in einen Hungerstreik getreten. Ihre westlichen Verbündeten haben dies aufgegriffen und, wie zu vermuten steht, zu einer politischen Instrumentalisierung gegen die gegenwärtige ukrainische Führung in Stellung gebracht. Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, forderte am heutigen Freitag die sofortige Freilassung Timoschenkos aus Krankheitsgründen, und zwar noch vor Beginn der Fußball- Europameisterschaft, die vom 8. Juni bis 1. Juli in Polen und der Ukraine stattfinden wird. Bundespräsident Joachim Gauck ergriff bereits erste Maßnahmen und sagte seinen für Mai geplanten Besuch - er war zu einem Treffen mit anderen zentraleuropäischen Staatschefs in Jalta eingeladen worden - ab. Weitere führende deutsche Politiker, so der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier oder auch der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, schlossen sich den Verbalprotesten an.

Wenn es tatsächlich, wie Löning behauptete, der die Freilassungsforderung humanitär begründete, um eine Frage der Menschlichkeit im Zusammenhang mit staatlicher Repression, unwürdigen Haftbedingungen und repressiver Gewalt ginge, wäre allerdings nicht zu erklären, warum dieselbe politische Elite, die sich jetzt im Fall Timoschenko so sehr in Fahrt geredet hat, so beharrlich, konsequent und ohne jede Ausnahme schweigt, wenn es um die Situation tausender politischer Gefangener in anderen Ländern geht, die in ihrer großen Verzweiflung zum letzten Mittel inhaftierter und insofern nahezu wehrloser Menschen, nämlich dem des Hungerstreiks, gegriffen haben, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Der aktuelle Hungerstreik palästinensischer Gefangener ist denselben Funktionsträgern und Medien ebensowenig eine einzige Fußnote wert wie der vor kurzem beendete Hungerstreik kurdischer Gefangener im NATO-Partnerland Türkei.

27.‍ ‍April 2012