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DILJA/1395: Weder Markt noch Wirtschaft sind sozial - Rösler will ganz Europa neu ordnen (SB)


Deutscher Bundesminister erhebt "soziale Marktwirtschaft" zum Ordnungsprinzip für die EU



Dr. Philipp Rösler, seines Zeichens Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, versuchte sich am Dienstag auf einer vom Institut für Weltwirtschaft gemeinsam mit der Friedrich-Naumann-Stiftung durchgeführten Veranstaltung in Kiel als europäischer Visionär und Zukunftsgestalter. Als geladener Gastredner verkündete er seinem Publikum, daß die Europäische Union "politisch und wirtschaftlich nur dann erfolgreich sein wird, wenn sich ihre Mitglieder auf eine Stabilitätsgemeinschaft verpflichten" [1]. Tatsächlich haben sie dies längst getan, wurde doch in den EU-Verträgen nicht nur die unternehmerische Freiheit verewigt, sondern mit der wirtschaftspolitischen Prioritätensetzung auf Währungsstabilität eine Zäsur geschaffen, die strenggenommen heftige Konflikte und Diskussionen hätte auslösen und namentlich in der Bundesrepublik Deutschland zu einer ablehnenden Haltung führen müssen, da das grundgesetzlich verankerte Sozialstaatsprinzip schwerlich damit zu vereinbaren ist.

Rösler sprach sich in Kiel dafür aus, das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft für die gesamte EU als "Ordnungsprinzip" zu etablieren nicht etwa, weil er das im bundesdeutschen Grundgesetz einst gegebene Versprechen einer sozialen Daseinsgarantie für die gesamte EU verbindlich festgelegt sehen möchte. Das genaue Gegenteil dürfte der Fall sein, ging doch der Minister in seiner Rede zu einer Pauschalbezichtigung aller notleidenden Menschen in der Bundesrepublik über. Nachdem er hinsichtlich der aktuellen wirtschaftliche Lage deutlich gemacht hatte, daß sich "Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit nicht gesetzlich festschreiben ließen, sondern immer wieder neu errungen werden müssten", stellte er folgende Behauptung auf [1]:

Aktuell ist dieses Wachstum in Deutschland vor allem von zwei Seiten gefährdet. Zum einen von dem verbreiteten Wunsch nach mehr Staat und mehr sozialen Wohltaten. Und zum anderen von der Krise im Euroraum, die im Kern vor allem eine Vertrauenskrise ist.

Den Begriff "Wachstum" erläuterte der Minister nicht näher, so daß angenommen werden kann, daß er Positiventwicklungen aus Unternehmenssicht, nicht jedoch das Wachstum an Armut, Arbeitslosigkeit oder tatsächlicher wie auch drohender Obdachlosigkeit meint, von der bereits Millionen Bundesbürger betroffen sind. Das wirtschaftliche Wachstum, das Rösler glaubt konstatieren zu können, sei also gefährdet durch den Wunsch nach "mehr sozialen Wohltaten". Diese Worte haben es in sich, enthalten sie doch den kaum verhohlenen Vorwurf, sich auf irgendwie ungerechtfertigter Weise staatlicher Wohltaten bedienen zu wollen. Rösler erweist sich als Parteigänger einer Wirtschaftsdoktrin, die in der Frühphase der Bundesrepublik in Ludwig Erhard ihres wohl prominentesten Verfechter gefunden hatte und der noch heute manch einer nachtrauert in der irrigen Annahme, mit ihr wäre die aktuelle Entwicklung der Aushebelung des Sozialstaats zugunsten einer Armuts- und Mangelverwaltung nicht möglich gewesen.

Tatsächlich ist "soziale Marktwirtschaft" von ihrer Stunde Null an ein unauflösbarer Widerspruch in sich gewesen und geblieben, denn wie könnten "Markt" oder "Wirtschaft" etwas einlösen, was mit dem Adjektiv "sozial" versprochen wird? Tatsächlich vertreten Wirtschaftliberale vom Schlage Röslers wie Erhards die Annahme, eine florierende Wirtschaft sei zugleich die beste Sozialpolitik [2]:

Das Fundament für soziale Gerechtigkeit wurde nach Ludwig Erhard durch Wettbewerb zusammen mit Geldwertstabilität und einer funktionierenden Rechtsordnung errichtet, da seiner Meinung nach nur eine auf Dauer leistungsfähige Wirtschaft auch sozial sein kann.
Demnach wäre das heutige Verständnis von der sozialen Marktwirtschaft nicht im Sinne Ludwig Erhards gewesen, denn er vertrat die Meinung, daß soziale Marktwirtschaft nicht mit einem Versorgungsstaat verwechselt werden darf. Die beste Sozialpolitik sei - nach Erhard - die gute Wirtschaftspolitik.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts - dies sei zum besseren Verständnis hier hinzugefügt - sah sich die kapitalistische Welt zum ersten Mal in ihrer Geschichte durch den sich entwickelnden Block realsozialistischer Staaten herausgefordert, und so galt es, nicht nur der bereits bestehenden Systemkonkurrenz, sondern auch der sozialistischen Idee an sich entgegenzutreten, um einen die eigene Herrschaft womöglich gefährdenden Akzeptanzverlust im Vorwege zu verhindern. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus mußte ein "soziales" Antlitz bekommen, und so war die von Ludwig Erhard und anderen propagierte "soziale Marktwirtschaft" die richtige Antwort zum richtigen Zeitpunkt. Eine Antwort allerdings, die glaubwürdig nur unter einer bestimmten Voraussetzung gegeben werden konnte, da die sozialen Leistungen jener Zeit wie auch das allgemeine Lohnniveau des sogenannten Wirtschaftswunders auf der imperialistischen Ausplünderung außereuropäischer Staaten beruhte.

Da diese früher oder später an ihre Grenzen stoßen mußte, was inzwischen längst geschehen ist, kann die dünne Tünche, die diese Widersprüche in Deutschland wie in den führenden Industriestaaten für einen befristeten Zeitraum kaschieren konnte, nicht länger verbergen, daß Wohlstand und Wachstum nur die Sache der Eliten und ihrer Teilhaber sein können. Und so müssen unter den gegenwärtig vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen administrative Vorkehrungen getroffen werden, um das bereits im Entstehen begriffene Heer arbeitsloser, sozial ins Abseits gedrängter und in ihrer Existenz gefährderter Menschen unter Kontrolle zu bringen. Die Wiederbelebung der historisch eigentlich überholten Idee einer "sozialen Marktwirtschaft" durch den bundesdeutschen Minister für Wirtschaft und Technologie besagt in diesem Zusammenhang nicht mehr und nicht weniger, als das der EU-Frontstaat Bundesrepublik Deutschland in dem Wissen, daß die anwachsenden Zwänge und sozialen Nöte, von denen immer mehr Menschen in der gesamten EU betroffen sein werden, umso leichter in ungefährliche Bahnen gelenkt werden können, wenn die zu treffenden Maßnahmen und Gewaltmittel mit dem Etikett "sozial" irgendwie in Verbindung gebracht werden können.

Anmerkungen:

[1] Siehe im Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT:
MARKT/1455: Rösler - Soziale Marktwirtschaft als Kompass für ein wirtschaftlich schlagkräftiges Europa (BMWi)
www/schattenblick.de/infopool/politik/wirtsch/pwma1455.html

[2] Grundzüge der Wirtschaftspolitik - Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft
http://www.wiwi.uni-frankfurt.de/Professoren/ritter/veranstalt/ss97/wipol/projekt/pro40.htm

22. August 2012