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AFRIKA/1971: 50 Jahre DR Kongo - Unabhängigkeit blieb aus (SB)


Demokratische Republik Kongo feiert 50 Jahre Unabhängigkeit

Paradebeispiel für fortgesetzte Geschichte fremdnütziger Interessen


Heute vor 50 Jahren wurde die Demokratische Republik Kongo in die Unabhängigkeit entlassen. Wurde sie das wirklich? Ein Vergleich zwischen kolonialzeitlichen und heutigen Formen der Herrschaftsausübung zeigen eine Kontinuität der Ausbeutung. Wurde einst die menschliche Arbeitskraft bei der Gewinnung von Kautschuk, Kupfer und anderen Rohstoffen verwertet, sind es heute Coltan, Gold und andere Erze, welche die Begehrlichkeit fremdnütziger Interessen wecken und zum Raubbau an Natur und zur Ausbeutung an den Menschen führen.

Wann genau Menschen begannen, ihre Artgenossen zu unterwerfen, liegt im fernen Nebel der Geschichte. Ganz sicher gab es schon vor dem Eindringen der Europäer Formen der Zwangsarbeit und Sklaverei in dem Gebiet, das heute Demokratische Republik Kongo genannt wird und einst verschiedene Bantu-Reiche beherbergte. Die Wurzeln des nationalen Korsetts, das seit einem halben Jahrhundert besteht und nun nicht zuletzt gefeiert wird, um eine Einheitlichkeit zu beschwören, reichen bis zur berühmten Afrika-Konferenz in Berlin in den Jahren 1884/85 zurück. Damals vereinbarten die europäischen Mächte, daß sie den Kontinent unter sich aufteilen wollen. Der belgische König Leopold II. erreichte, daß ihm von den anderen das Kongobecken samt Hinterland als Privatbesitz zugesprochen wurde. Mit verheerenden Folgen für die Bewohner dieser Großregion.

Der von Leopold II. gegründete Kongo-Freistaat diente der rücksichtslosen Plünderung von Land und Leuten durch die Kautschuk-Unternehmen, von deren Wirtschaften Leopold II. profitierte. In den nächsten rund zwei Jahrzehnten wurden, je nach Einschätzung, zwischen zehn und 18 Millionen Kongolesen umgebracht. Viele wurden verstümmelt, da sie die ihnen abverlangte Menge an Kautschuk nicht anlieferten. Ehefrauen der Kautschuksammler wurden gefangen gehalten, um die Männer zur Folgsamkeit zu pressen.

Eine gewisse Parallele von der damaligen zur heutigen Ausbeutung besteht darin, daß die weißen Kolonialherren nur die Offiziere stellten, wohingegen das Hände-Abhacken und andere direkte Formen der Repression von der Force Publique vollzogen wurde, die aus Schwarzen bestand. Heute werden die kongolesischen Rohstoffe von Milizenbanden - auch unter Zuhilfenahme von Sklaverei und sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen - abgebaut und über Zwischenhändler an Unternehmen verkauft, von denen sich nicht wenige in der Hand von Weißen befinden. So schließt sich der historische Kreis.

Ein halbes Jahrhundert DR Kongo, das zur Zeit der Herrschaft von Mobutu Sese Seko Zaire hieß, hat dem Staat von Anfang an nicht die Unabhängigkeit gebracht, die sich die Bewohner davon erhofft haben dürften. Zwar wählten sie 1960 Patrice Lumumba zum erster Ministerpräsidenten des Landes. Doch wurde dieser in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1961 im Anschluß an schwere Folter von einem belgisch-kongolesischen Erschießungskommando hingerichtet. Lumumba, der gegen die westlichen Verfügungsinteressen durchsetzen wollte, daß die Reichtümer des Kongo in erster Linie den Einwohnern des Landes zugute kommen, sah sich in schwere innerkongolesische Machtkämpfe verstrickt. Daraufhin bat er die USA um Hilfe, erhielt jedoch eine Abfuhr und wandte sich der Sowjetunion zu.

Was auch immer Lumumba erreicht hätte, wäre er nicht umgebracht worden, bleibt der Spekulation überlassen. Der Vorfall zeigt jedoch, daß die USA, die bereits 1960 einen Tötungsversuch auf den Ministerpräsidenten verübten, aber damit scheiterten, und die frühere Kolonialmacht Belgien nicht an einer Unabhängigkeit des Kongo interessiert waren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der afrikanische Staat ist, wie faktisch alle anderen auch, fest in eine Weltordnung eingebunden und dementsprechenden den vorherrschenden Nord-Süd-Verwertungszwängen unterworfen.

Kürzlich erklärte der ehemalige EU-Kommissar für Entwicklungshilfe, der Belgier Louis Michel, der zur Zeit führendes Mitglied der liberalen Partei MEP ist, daß er König Leopold II. für einen "echten Visionär seiner Zeit, einen Helden" halte. [1] Er fragte: "Und selbst wenn es damals im Kongo schreckliche Ereignisse gab, sollten wir sie heute verurteilen?" Solche Anschuldigungen verdiene Leopold II. nicht, sagte Michel, der ein Nachfahre des belgischen Königs ist.

Man könnte das als Entgleisung oder persönliche Meinung eines einzelnen Politikers auffassen, der sich früher lediglich einer durch diplomatische Etikette eingehegten Wortwahl bedient und auf seinen Reisen nach Afrika anders gesprochen hatte. Das mag speziell auf die Einschätzung Michels der Machenschaften Leopold II. zutreffen, nicht jedoch auf die ebenfalls von ihm gelieferte Erklärung, daß die Belgier Eisenbahnen, Schulen und Krankenhäuser gebaut und das Wirtschaftswachstum vorangebracht hätten. Dieser Vorstellung zufolge haben die Belgier den Kongolesen die Zivilisation gebracht.

Das stolze Ergebnis dieser mutmaßlichen Anhebung des Wilden in den Stand eines zivilisierten Menschen: Das Belgien von heute kennt zahlreiche Burgen und Schlösser aus der Kolonialzeit. Zuvorderst ist der Königspalast in Brüssel zu nennen, der unter Leopold II seine neobarocke Gestalt erhielt. Auch Schloß Laken wurde von ihm erweitert und mit üppigen Gewächshäusern ausgestattet, die heute noch für ihre Pracht bewundert werden. Ein paar Körper voll abgehackter und über dem Feuer zwecks Konservierung getrockneter Hände am Eingang der vielen Prachtbauten würden die ökonomischen Voraussetzungen ihrer Entstehung auf sicherlich interessante Weise in ein passendes Licht rücken.

Michels an kolonialzeitlichen Rassismus erinnernden Ausführungen fassen die klare Hierarchie zwischen in diesem Fall Belgien und der DR Kongo hinsichtlich der Möglichkeit afrikanischer Staaten, Einfluß auf die eigene Geschicke zu nehmen, in politisch unkorrekte Worte, geben aber keine Einzelmeinung wider. Die Vorstellung, daß die Europäer den Bewohnern des afrikanischen Kontinents die Zivilisation brachten und nicht alles an der Kolonialzeit schlecht gewesen ist, tat auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy vor rund drei Jahren auf seiner ersten Afrikareise als Staatsführer kund. Vor 1300 geladenen Gästen an der Universität von Dakar bescheinigte er dem afrikanischen Bauern (und damit dem Afrikaner schlechthin) eine verengte Geisteshaltung, einen Mangel, die Idee des Fortschritts zu erfassen und unentrinnbar in archaischen Kosmologien und Naturanschauungen gefangen zu sein.

In der Demokratischen Republik Kongo wird am heutigen Mittwoch, den 30. Juni 2010, das Jubiläum der fünfzigjährigen Unabhängigkeit gefeiert. Möge es den Menschen gelingen, sich nach Jahrzehnten der Bevormundung von den vielen Michel und Sarkozy in der westlichen Welt ebenso zu befreien wie von deren afrikanischen Pendants, bei denen die persönliche Bereicherung höchste Priorität genießt. Formal ist die DR Kongo seit fünfzig Jahren unabhängig, faktisch ist sie ein Negativbeispiel für fortgesetzte Interventionen ausländischer Interessen und ihrer inländischen Verbündeten.


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Anmerkungen:

[1] "Ex-commissioner calls Congo's colonial master a 'visionary hero'", EU-Observer, 22. Juni 2010

30. Juni 2010