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AFRIKA/2057: Läßt der Sturz Gaddafis ältere Zerwürfnisse des Kontinents aufbrechen? (SB)


Afrikanische Union uneins - AU-Kommission erstmals ohne Vorsitzenden

Daß aus Libyen ein gescheiterter Staat wurde, zieht Erschütterungen in der politischen Landschaft ganz Afrikas nach sich


Der Sturz des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi schadet dem gesamten Kontinent. Das gilt vor allem für Sicherheits- und Wirtschaftsfragen. Hatte das Libyen unter Gaddafi seine Einnahmen aus dem Erdölexport diversifiziert, wovon vieles in afrikanische Entwicklungsprojekte gesteckt wurde [1], so herrscht nun Ungewißheit darüber vor, ob das nordafrikanische Land weiterhin im gleichen Umfang in die Subsaharastaaten investieren wird. Der neue, international anerkannte Übergangsrat ist schwer zerstritten und somit weitgehend nur mit sich beschäftigt. Zudem liefern Berichte von Menschenrechtsorganisationen [2] sowie der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR), Navanethem Pillay [3], über großmaßstäbliche Folter in libyschen Gefängnissen eine düstere Vorahnung auf bestehende und kommende Auseinandersetzungen.

Die Angehörigen und Stammesmitglieder der Folteropfer, die vor allem unter den Anhängern Gaddafis anzutreffen sind, werden die Übergriffe nicht tatenlos hinnehmen. Die jüngsten Kämpfe in der Stadt Bani Walid zwischen Revolutionsmilizen und Einwohnern, die nach Angaben des UN-Beauftragten für Libyen, Ian Martin, fälschlicherweise als Rückeroberung durch Gaddafi-Getreue beschrieben wurden [4], deuten auf grundlegende, kaum zu kittende Risse in der offenbar lediglich von außen zusammengeschweißten Oppositionsbewegung gegen das frühere Regime. Inzwischen wird Libyen bereits als zweites Somalia bezeichnet. Jenes Land am Horn von Afrika verfügt seit mehr als zwanzig Jahren über keine Zentralregierung mehr und wird von Clans-Fehden, Stellvertreterkriegen zwischen Eritrea und Äthiopien, westlichen Einflußversuchen sowie religiös geprägten Kämpfen zwischen gemäßigtem und fundamentalistischem Islam hin und her geworfen.

Muammar Gaddafi hatte wie kein anderer an der Ablösung der Organisation Afrikanische Einheit (OAU) im Juli 2002 durch die Afrikanische Union (AU) mitgewirkt und die neue panafrikanische Administration finanziert. Zuletzt trug Libyen 15 Prozent der Kosten der AU und half darüber hinaus kleineren Ländern, ihren Anteil zu begleichen. Gaddafis erklärtes Ziel war die Befreiung der afrikanischen Staaten von der noch aus der Kolonialzeit stammenden Abhängigkeit vom Westen.

Hatte der Revolutionsführer anfangs versucht, sich an die Spitze der AU zu setzen, was er jedoch nicht durchsetzen konnte, hielt er sich in den Folgejahren zurück. Die Zeit arbeitete für sein Anliegen. Vor allem mit China, aber auch mit Indien betraten zwei aufstrebende Wirtschaftsmächte afrikanischen Boden und stellten sich in Konkurrenz zu den europäischen Staaten und den USA. Auch der Süd-Süd-Handel entwickelte sich im vergangenen Jahrzehnt stetig weiter. Solche Alternativen zur postkolonialen Ausrichtung eröffnen den afrikanischen Ländern, die oftmals nur als bloße Ressourcenlieferanten und Absatzräume für Produkte der Industriestaaten angesehen wurden, einen größeren Verhandlungsspielraum.

Gaddafi wurde gestürzt - und erstmals hat sich die AU-Kommission auf keinen neuen Vorsitzenden einigen können. Zwei Ereignisse, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheinen. Doch könnte der Machtkampf zwischen dem amtierenden Kommissionspräsidenten Jean Ping aus Gabun und der ehemaligen südafrikanischen Außenministerin Nkosazana Dlamini-Zuma sehr wohl eine Begleitfolge der Entwicklung in Libyen sein, wo sich die AU nicht hat behaupten können.

Ping hatte zwar nach drei Wahlgängen einen leichten Vorsprung errungen, aber anschließend die für seine Wiederwahl erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt. Er darf nicht wieder antreten. Erst beim kommenden AU-Gipfel im Juni wird erneut gewählt. Bis dahin ist die Afrikanische Union ohne einen Kommissionspräsidenten, was sie schwächt. Zusätzlich schwächt, müßte man sagen, denn der Libyen-Konflikt hatte gezeigt, daß die AU nicht mal im eigenen Haus das Sagen hat. Der von Frankreich angeführte Angriff auf das Land zum Schutz der angeblich von der Regierungsarmee bedrohten Zivilbevölkerung erfolgte ausgerechnet an dem Tag, an dem eine AU-Kontaktgruppe nach Tripolis reisen und zwischen den Konfliktparteien vermitteln wollte. Das wurde abgelehnt - eine Ohrfeige für das Selbstbewußtsein der Afrikanischen Union.

Eine in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkte AU könnte sich vielerorts als konfliktverschärfend erweisen. Kenia und Äthiopien haben ihre Truppen nach Somalia vorstoßen lassen, damit sie dort die Milizen der Organisation Al-Shabab bekämpfen - an eine Stärkung der AU-Mission für Somalia (Amisom), die aus Soldaten Ugandas, Burundis und Dschibutis besteht, dürften die beiden Staaten nach dem Libyen-Debakel der AU inzwischen noch viel weniger denken.

Ein Konflikt in Westafrika mit dem Potential, sich zu einem Flächenbrand auszuweiten, ist vor wenigen Tagen in Senegal entstanden. Dort hat der von Staatspräsident Abdoulaye Wade ernannte, fünfköpfige Verfassungsrat eine dritte Amtsperiode Wades abgenickt, obgleich laut Verfassung nur zwei zulässig sind. Wohingegen gleichzeitig der beliebte Popstar Youssou N'Dour nicht zur Wahl zugelassen wurde. Nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verfassungsrats kam es in dem Land zu schweren Ausschreitungen. Der "arabische Frühling" habe Westafrika erreicht, meldeten die Medien.

Höchst brisant ist der wieder aufgeflammte Dauerkonflikt zwischen den Tuareg im Norden Malis und der Regierung in Bamako. Anscheinend haben sich aus Libyen geflohene Tuareg ihren malischen Brüdern angeschlossen und diese verstärkt. Die neu gegründete Rebellenorganisation Movement for the National Liberation of Azaouad (MNLA) soll bereits einen Kampfjet des Typs Mig-21 der malischen Streitkräfte abgeschossen haben. [5]

Damit scheinen sich die Befürchtungen, daß durch den Libyen-Konflikt große Mengen an Waffen, darunter bis zu 10.000 Boden-Luft-Raketen, in Umlauf gebracht wurden, zu bestätigen. Die einfach zu bedienenden, mit Hitzesensoren ausgestatten Raketen haben zwar nur eine Reichweite von sechs Kilometern, so daß sie die gewöhnlich in zehn Kilometer Höhe fliegenden Linienmaschinen nicht erreichen können, aber dennoch sollen Fluglinien wie zum Beispiel Air Algérie ihre Routen verlegt haben, um die Konfliktregion Sahara zu vermeiden. Außerdem sind die Flugzeuge bei Start und Landung hochgradig gefährdet.

Der Libyen-Einsatz der NATO und ihrer Verbündeten hat die allgemeine Sicherheitslage auf dem Kontinent verschärft. Es wäre überzogen, den Sturz Gaddafis alleinverantwortlich für die aufkommenden Konflikte und Zerwürfnisse zu machen. Zumal der libysche Machthaber selber versucht hat, seinen Einfluß in Schwarzafrika mit keineswegs immer moralisch sauberen Mitteln auszudehnen. Aber so fundamentale Vorgänge wie der monatelange NATO-Einsatz zugunsten der ostlibyschen Milizen hat den ganzen Kontinent erschüttert.

Gaddafi besaß Anhänger und er besaß Feinde. Nun ist der Revolutionsführer gestürzt, doch damit sind die ursprünglichen, mit seiner Person und Funktion verknüpften Interessengegensätze der politischen Entscheidungsträger und wirtschaftlichen Funktionseliten Afrikas nicht aus der Welt geschafft. Das vor nicht mal einem Jahr noch einflußreiche Libyen hat sich in einen "failed state", einen gescheiterten Staat gewandelt. Nun steht die Afrikanische Union vor dem Scherbenhaufen und sieht sich genötigt, die angerichteten Schäden zu beseitigen und brodelnde Konfliktlagen zu entschärfen. Die krasse Zurückweisung der Libyen-Kontaktgruppe der AU durch das von der NATO geführte Bündnis hat die Afrikanischen Union bloßgestellt, was alles andere als gute Voraussetzungen für die Bewältigung zukünftiger Konflikte sind.

Anmerkungen:

[1] "Libyen-Krise mit Auswirkungen in Subsahara-Afrika", Inge Hackenbroch, Germany Trade and Invest, 15. April 2011
http://www.gtai.de/fdb-SE,MKT201104148015,Google.html

[2] "Libyen: Menschenrechtsgruppen werfen NATO Kriegsverbrechen vor", Bill Van Aucken, 24. Januar 2012
http://wsws.org/de/2012/jan2012/nato-j24.shtml

[3] "Human Rights concerns about armed brigades holding detainees in Libya", Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, 26. Januar 2012
http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/HRconcernsaboutarmedbrigadesholdingdetaineesinLibya.aspx

[4] "UNO: Kämpfer in Bani Walid sind keine Gaddafi-Anhänger", Der Standard, 26. Januar 2012
http://derstandard.at/1326503764743/UNO-Kaempfer-in-Bani-Walid-sind-keine-Gaddafi-Anhaenger

[5] "Loose Libyan missiles threaten air traffic", 30. Januar 2012
http://magharebia.com/cocoon/awi/xhtml1/en_GB/features/awi/features/2012/01/30/feature-01

31. Januar 2012