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NAHOST/950: Risse in der Mauer des Schweigens um den drangsalierten Gazastreifen (SB)


Kritik an Angriffskrieg und Blockade durchbricht Medienkontrolle


Der von der israelischen Regierung und ihren Verbündeten generierte Deckmantel aus Pressezensur und Medienkontrolle, der die Leiden der drangsalierten Palästinenser im Gazastreifen vergessen machen soll, hat Risse bekommen. Das läßt sich an Stellungnahmen überstaatlicher Gremien und internationaler Institutionen ablesen, die ein weiteres Stillschweigen nicht länger mit den von ihnen vertretenen Grundprinzipien vereinbaren können. Wenngleich derartige offizielle Berichte in aller Regel nur einen Bruchteil dessen wiedergeben, was jedem, der sich dafür interessiert, schon seit geraumer Zeit bekannt sein muß, könnte doch die zunehmende Dichte dieser Stellungnahmen Grund zur Annahme geben, daß die Berichterstattung ein weithin preisgegebenes Terrain wieder erschließt und die Tabuzone nicht länger akzeptiert.

Wie es in einer soeben veröffentlichten Untersuchung des UNO-Büros für die Koordination von Nothilfe in New York heißt, sperre die israelische Blockade der Grenzübergänge zum Gazastreifen 1,5 Millionen Menschen in einer der am dichtesten bevölkerten Regionen der Welt seit mehr als zwei Jahren von der Außenwelt ab. Wenngleich in den vergangenen drei Monaten die Einfuhr einiger dringend benötigter Güter gestattet worden sei, reiche dieser eng begrenzte Schritt bei weitem nicht aus, die Not zu lindern. Durch den Einschluß würden die Palästinenser ihres Lebensunterhalts beraubt. Angesichts der blockierten Ein- und Ausfuhren seien etwa 120.000 Arbeitsplätze weggefallen. Zu der gefährdeten Versorgung mit Lebensmitteln geselle sich eine Wasser-, Energie- und sanitäre Krise. Die 3.540 Häuser, die beim Angriff der israelischen Streitkräfte Anfang des Jahres zerstört wurden, seien auf Grund des fehlenden Baumaterial noch nicht wieder aufgebaut worden. [1]

Zuvor hatte bereits die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, in einem in Genf vorgestellten Bericht unterstrichen, daß Israel mit der Blockade des Gazastreifens gegen internationale Regeln verstoße, da es sich dabei gemäß den Genfer Konventionen um eine unzulässige kollektive Bestrafung von Zivilpersonen handle. Pillay forderte in dem 34seitigen Bericht eine umgehende Lockerung der Beschränkungen für den Personen- und Warenverkehr sowie Maßnahmen zu einer vollständigen Aufhebung der Blockade. Des weiteren mahnte die Hochkommissarin die Einstellung des Siedlungsausbaus im Westjordanland und die Bestrafung von Siedlern an, die Palästinenser angreifen. [2]

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit Sitz in New York fordert in einem jüngst veröffentlichten 63seitigen Bericht die israelische Regierung auf, sieben voneinander unabhängige Vorfälle zu untersuchen, in denen unschuldige palästinensische Zivilisten im Gazastreifen von Soldaten erschossen wurden, obwohl sie weiße Fahnen hochhielten, um sich in Sicherheit zu bringen. Demnach wurden mindestens elf Personen, darunter fünf Frauen und vier Kinder, unter derartigen Umständen getötet. [3]

Die israelischen Streitkräfte reagierten auf den Bericht mit der Erklärung, die Untersuchung stütze sich auf unzuverlässige Zeugenaussagen. Ihre Soldaten seien dazu ausgebildet, niemandem Schaden zuzufügen, der eine weiße Fahne vorzeigt, um sich zu ergeben. Zudem warf die Armeeführung der Menschenrechtsorganisation vor, diese habe ihr keine Gelegenheit gegeben, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen und eine interne Ermittlung einzuleiten, bevor sie damit an die Öffentlichkeit ging. Demgegenüber machte Human Rights Watch geltend, die israelischen Streitkräfte hätten auf schriftlich vorgelegte Fragen nicht geantwortet und es wiederholt abgelehnt, zu einer Erörterung der Vorfälle zusammenzutreffen.

Der stellvertretende Nahost-Direktor von Human Rights Watch, Joe Stork, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die israelischen Streitkräfte seit Jahren eine Kultur der Straflosigkeit hinsichtlich widerrechtlich getöteter Palästinenser zugelassen hätten. Interne Ermittlungen der Armee seien daher in den meisten Fällen ungeeignet, zur rückhaltlosen Aufklärung beizutragen.

In wenigen Wochen sollen zwei Berichte der UNO vorgestellt werden, die sich mit dem Angriff der Armee auf den Gazastreifen zum Jahreswechsel befassen. Die israelische Regierung hat es abgelehnt, mit dem Südafrikaner Richard Goldstone zusammenzuarbeiten, der vom UN-Menschenrechtsrat in Genf mit der Untersuchung betraut worden war. Israel bezeichnet den Menschenrechtsrat als voreingenommen und daher nicht in der Lage, Ermittlungen auf angemessene Weise durchzuführen. Dies entspricht der durchgängigen Praxis israelischer Regierungen, die Aussagen und Beschlüsse internationaler Gremien bis hin zur UN-Vollversammlung nicht anzuerkennen, sofern sich diese kritisch zur Politik Israels äußern.

Neben dem Bericht der Gruppe um Goldstone wird ein zweiter, weniger kritisch abgefaßter Report im Auftrag der UN-Menschenrechtskommission erstellt, an dessen Erarbeitung sich Israel beteiligt. Beide Versionen werden voraussichtlich Ende August fertig sein und dann zunächst der israelischen Regierung vorgelegt, bevor man sie Mitte September dem UN-Menschenrechtsrat präsentiert. Möglicherweise könnten die beiden Berichte dazu führen, daß Klage gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erhoben wird. Nach Angaben der Zeitung Haaretz bereitet das Außenministerium bereits eine Verteidigungslinie dagegen vor.

Für beträchtliches Aufsehen sorgten auch Berichte israelischer Soldaten, die bestätigen, daß das barbarische Vorgehen der Streitkräfte im Gazastreifen unmittelbare Folge der Befehlslage war, eigene Verluste unter allen Umständen zu vermeiden, auch wenn dies maximalen Einsatz von Gewalt erforderte. Gezielte Schüsse auf Zivilisten, Panzergranaten und Bomben gegen Gebäude, in denen sich Menschen aufhielten, der Einsatz von weißem Phosphor in einem dichtbesiedelten Gebiet, menschliche Schutzschilde beim Erstürmen von Häusern und die Verwendung modernster Explosivwaffen mit verheerender Wirkung - mithin Kriegsverbrechen nach Maßgabe der Genfer Konventionen - resultierten demnach nicht aus einem Fehlverhalten einzelner Soldaten, sondern dem strategischen Kalkül der israelischen Militärführung.

Die "Operation Gegossenes Blei" und die fortgesetzte Blockade des Gazastreifens sind von sämtlichen internationalen Organisationen angefangen vom Roten Kreuz, über Hilfsdienste und Menschenrechtsgruppen bis hin zu den genannten UN-Gremien in mehr oder minder scharfer Form verurteilt worden. Auch fehlt es in der Literatur und in elektronischen Medien beileibe nicht an übereinstimmenden Berichten und Zeugenaussagen, die den Charakter einer glaubwürdigen Dokumentation haben. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß diese Initiativen wie so oft in der Vergangenheit ignoriert, abgeblockt und als Propaganda der Feinde Israels diffamiert werden. Um der Menschen im Gazastreifen willen ist jedoch entschiedene Parteinahme erst dann vergebens, wenn sie sich zum Schweigen bringen läßt.

Anmerkungen:

[1] UNO-Studie dokumentiert Gaza-Elend. Israels Blockade sperrt die Bevölkerung ein (19.08.09)
Neues Deutschland

[2] UN-Kommissarin verurteilt Israel (15.08.09)

junge Welt

[3] Israel killed Palestinians waving white flags, report says (13.08.09)
Christian Science Monitor

20. August 2009