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NAHOST/1096: Israels Regierung versucht Sozialprotest einzudämmen (SB)


Protestbewegung fordert Veränderung des ökonomischen Systems


Nachdem am Samstagabend rund 350.000 Menschen in Tel Aviv, Jerusalem und Städten der israelischen Peripherie die soziale Frage in einem beispiellosen Massenprotest auf die Straße getragen haben, feierten am Sonntag zahlreiche Tageszeitungen des Landes den Aufmarsch der Unzufriedenen als Wendepunkt für Israel. "Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit", skandierte eine gewaltige Menschenmenge vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. "Ägypten ist hier", stimmten die Demonstranten vielerorts in Anlehnung an die Umwälzung im Nachbarland an. Parolen wie "Erst das Volk, dann der Profit" oder "Helden der Arbeiterklasse" signalisierten radikale Töne. "Netanjahu, hör' uns zu. Wir sind das Salz der Erde. Wir wollen Veränderungen. Aber wir brauchen keine Veränderung der gewählten Koalition. Wir, die Jugend, verlangen eine Veränderung des grausamen ökonomischen Systems", forderte unter frenetischem Beifall der Vorsitzende der Studentenunion, Itzak Schmueli. [1] "Das Volk erhebt sich!", "Ein neues Land!" oder "Israel hat vergangene Nacht seine Unabhängigkeit gefeiert!", lauteten die Schlagzeilen am Tag danach. [2]

So unvorhersehbar in seiner Entstehung, rasant in seiner Ausweitung, gewaltig in seiner Dimension und bedrohlich für die kalt überraschte Regierung dieser von sozialen Forderungen getragene Protest auch sein mag, müssen seine Konsequenzen doch mit der gebotenen Skepsis eingeschätzt werden. Die israelische Führung wird nichts unversucht lassen, das Aufbegehren zu zügeln, einzufrieden und im Sande verlaufen zu lassen, lange bevor es sensible Strukturen der herrschenden Verhältnisse erschüttert. Da es sich um eine Bewegung der verarmenden Mittelschicht handelt, die bessere Lebensverhältnisse für sich fordert, steht zu befürchten, daß sich die Flutwelle kanalisieren läßt, sofern sie mit gewissen Zugeständnissen besänftigt und Zukunftsversprechen aus Politikermund geködert dem eigenen Vorteil zu Lasten schlechter gestellter Gesellschaftsschichten den Zuschlag gibt.

Die Organisatoren des Protests haben es bislang vermieden, sich mit parteipolitischen Stellungnahmen zu positionieren, um die Breite der Bewegung nicht zu beeinträchtigen. Dies hat zu einer hohen Zustimmung in allen Altersgruppen und den verschiedensten Sektoren der Gesellschaft geführt. Der Gewerkschaftsverband Histadrut nahm an den Kundgebungen teil und die oppositionelle Arbeitspartei spricht von einem Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Bürgern und Regierung, der die politische Landschaft endlich neu sortieren werde. Der Gesellschaftsvertrag müsse neu geschrieben werden, verlangt der Kommentator Nadav Eyal im Massenblatt Maariv: "Israel fordert einen New Deal." Viele springen auf den fahrenden Zug auf, solange er ihre Interessen zu befördern scheint, und werden in Scharen wieder abspringen, sobald ihren jeweiligen Zwecken gedient ist oder die Lokomotive gar auf die tragenden Säulen staatlicher Ordnung und kapitalistischer Verwertung zurast, um sie zu Fall zu bringen.

Allerdings fehlt es auch nicht an Stimmen wie jener Stav Shafirs, der zu den Aktivisten der ersten Tage in der Zeltstadt auf dem Rothschild-Boulevard gehört. "Wir verlangen keinen Austausch des Premierministers, wie fordern ein anderes System", erklärte er für alle Landsleute vernehmlich im israelischen Fernsehen. Das müssen nicht verbalradikale Stimmungsausbrüche bleiben, deren Tragweite sich auf eine Anleihe an mißverstandenen Politjargon erschöpft und sich lediglich im Scheinwerferlicht öffentlicher Wahrnehmung spiegelt. Nicht auszuschließen ist, daß die Bezichtigung, jeder sei an den zunehmenden Härten seiner Existenz selbst schuld, angesichts der urplötzlich aufbrechenden Sichtbarkeit allgegenwärtiger Verelendung zu anderen Schlüssen vorstößt, als dem Gefüge unausweichlicher und niemals abzutragender Schuld und Umlastung auf ewig verhaftet zu bleiben.

An guten Gründen, an den Grundprinzipien gesellschaftlicher Besitzstandssicherung und -fortschreibung zu zweifeln, fehlt es nicht. Eine von fünf Familien in Israel lebt unter der Armutsgrenze. Der durchschnittliche Monatslohn liegt bei etwa 1800 Euro, Lehrer oder Sozialarbeiter verdienen in der Regel weniger als 1400 Euro, was nicht selten gerade für die Miete reicht, da eine bescheidene Wohnung mit drei Zimmern in Jerusalem leicht mehr als 1000 Euro im Monat kostet, vom teueren Tel Aviv ganz zu schweigen. Eine normale 100-Quadratmeter-Eigentumswohnung in mittlerer Wohnlage kostet in Tel Aviv und Jerusalem gut und gern über 420.000 Euro. [3] Neben der Wohnungsnot protestieren die Menschen auch gegen hohe Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne und gravierende Lohnunterschiede, erdrückende Steuersätze wie auch Mängel im Bildungs- und Gesundheitssystem. Allen stolzen Wirtschaftsdaten zum Trotz kommt der Ertrag des Wachstums einer kleinen Elite zugute, während die Mehrheit der Bevölkerung bis tief hinein in die schrumpfende Mittelschicht kaum noch ein Auskommen findet.

Was lange tabuisiert wurde, kommt nun offen zur Sprache: Die Besatzung des Westjordanlands und die Subvention der Ultraorthodoxen verschlingt Unsummen an Steuergeldern. In einem "Memo für die Marschierenden" schreibt der Wirtschaftsprofessor Bernard Avishai in der Zeitung Haaretz: "Mehr als 20 Milliarden Schekel sind für Siedlungen und Infrastruktur in den besetzten Gebieten ausgegeben worden." Ein Sechstel des Gesamthaushalts werde für Sicherheit und Verteidigung aufgewendet. Selbst wenn der Hightech-Sektor noch so viel Geld generiere: "Ohne Frieden wird die ,Start-up'-Nation vor die Hunde gehen."

Premierminister Netanjahu, der inmitten einer Phase vermeintlicher Ruhe an der innenpolitischen Front, relativer Stabilität seiner Koalition und vorzüglicher Umfragewerte fast über Nacht in den Fokus vehementer Angriffe des Sozialprotests katapultiert wurde, sieht sich zum Handeln gezwungen. Versuchte er anfangs, den Protest als "populistische Welle" weniger "verwirrter Sushi-Esser" zu diskreditieren, entdeckte er angesichts anschwellenden Protests plötzlich sein Herz für die Sorgen und Nöte der jungen Bürger. Seine vollmundig angekündigten Sofortmaßnahmen wie die Freigabe von Bauland und Steuererleichterungen entlarvte die Protestbewegung umgehend als Privatisierungsprogramm zugunsten von privaten Investoren und Miethaien. Die Demonstranten verlangen hingegen den Bau bezahlbarer Wohnungen, die Besteuerung von leerstehenden Apartments, die Erhöhung des Mindestlohns, kostenlose Kindergärten und eine kostenlose Schulausbildung für alle Altersgruppen.

Will Netanjahu nicht aus dem Amt gespült werden, muß er größere Geschütze auffahren. Finanzminister Juwal Steinitz stellte umgehende Schritte zur Reduzierung der steigenden Lebenshaltungskosten in Aussicht und kündigte die Einrichtung eines Sonderkomitees aus Ministern und Experten an, womit man auf die Forderungen der Demonstranten eingehen wolle. Der Regierungschef berief dazu 18 Minister zusammen, die trotz der Sommerpause der Knesset in diesem Gremium, an dessen Spitze der ehemalige Vorsitzende des Nationalen Wirtschaftsrats, Professor Manuel Trachtenberg, steht, die Forderungen der Protestierenden prüfen und Lösungsvorschläge erarbeiten sollen.

Finanzminister Steinitz, der ebenfalls dem Komitee angehört, deutete im israelischen Rundfunk an, wohin der Hase laufen soll. "Dies ist ein beeindruckendes Phänomen und wir müssen ihnen zuhören", simulierte er Verständnis für die demonstrierenden Menschen, um dann sofort die Bremse einzulegen: "Wir müssen Lösungen finden, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir den finanziellen Rahmen nicht sprengen und unsere Errungenschaften - wie eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein hohes Wirtschaftswachstum - nicht gefährden."

Davon abgesehen, daß die Zahl der Arbeitslosen viel höher als angegeben ausfällt, sobald man die nicht arbeitende, aber subventionierte Gruppe der Orthodoxen einbezieht, hat der Protest einem Wirtschaftswachstum, das nur die Taschen einer Minderheit füllt und insbesondere den Einfluß und Reichtum einiger weniger mächtiger Familien nährt, eine Absage erteilt. Der einzuhaltende finanzielle Rahmen, den Steinitz zur Vorbedingung macht, bezieht sich zweifellos auf die Wahrung dieser etablierten Verhältnisse. Die Privilegien von Randgruppen wie den jüdischen Siedlungen im Westjordanland und den Ultraorthodoxen, die von der Wohlfahrt leben, zu beschneiden, käme einem Bruch nicht nur der Koalition, sondern weit darüber hinaus des gesellschaftlichen Machtkomplexes gleich, der die israelische Gesellschaft immer weiter nach rechts driften ließ.

Die Wurzeln von Sozialrassismus und Besatzungsregime lassen sich nicht auf dem Wege einer gewissen Umverteilung der Einkünfte und Verbesserung staatlicher Fürsorge ausreißen. Schon auf dem Weg dahin stößt der aus der Unzufriedenheit der Mittelschicht erwachsene Sozialprotest auf Konflikte, die weit über den bloßen Wunsch nach einer halbwegs saturierten Existenz in der Mitte der Gesellschaft hinausreichen. Mit jedem Schritt, den die nicht länger schweigende Mehrheit geht, steht sie vor einer weiteren Mauer, die nicht nur für unüberwindlich, sondern für unberührbar erklärt wird. Wie die Palästinenser, die bei ihrem Protest gegen die Sperrmauer Gefahr laufen, mit Tränengas beschossen, niedergeknüppelt, festgenommen oder erschossen zu werden, läuft auch der unbeugsame Teil des Sozialprotests Gefahr, im Falle fortgesetzter Unbotmäßigkeit Erfahrungen mit der staatlichen Ordnung zu machen, die für arabischstämmige Bürger Israels und insbesondere die Menschen in den besetzten Gebieten tagtägliche Lebenswirklichkeit sind.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/massendemonstration-in-israel-marschiert-wie-die-aegypter-1.1128851

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,778830,00.html

[3] http://www.abendblatt.de/politik/article1982962/Nach-Demonstration-Netanjahu-ernennt-Expertenteam.html

8. August 2011