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NAHOST/1105: Al Kaida dank "Arabischen Frühlings" im Aufwind? (SB)


Al Kaida dank "Arabischen Frühlings" im Aufwind?

Auslegung der von Al Kaida ausgehenden Bedrohung wird zur Beliebigkeit


Dem Laien fällt es schwer bis unmöglich, die vom "Terrornetzwerk" Al Kaida ausgehende Bedrohung richtig einzuschätzen. Manchmal könnte man meinen, die "Sicherheitsexperten" bei den Behörden, Medien und Denkfabriken wollten es auch so, sind doch sie die größten Nutznießer der seit dem 11. September 2001 herrschenden Unsicherheitslage. Es mutet jedenfalls seltsam an, daß die gleiche Freiwilligentruppe, die mit den massenmörderischen Flugzeuganschlägen in den USA die Weltöffentlichkeit erschütterte, danach bis auf primitive Selbstmordattentate im islamischen Raum und dubiose Videobotschaften kaum noch in Erscheinung getreten ist. Verfügt Al Kaida nach der Verhaftung des mutmaßlichen 9/11-Chefplaners Khalid Sheikh Mohammed 2003 und der angeblichen Hinrichtung ihres Gründers Osama Bin Laden im vergangenen Mai im pakistanischen Abbottabad nicht mehr über die Fähigkeit, größere Anschläge mit Tausenden von Toten durchzuführen, oder sind vielleicht irgendwelche finsteren Gestalten doch noch irgendwo in einer westlichen Metropole bereits mit einer atomaren Kofferbombe unterwegs, die echten Jack Bauers und Tony Almeidas vom Sondereinsatzkommando ihnen dicht auf den Fersen?

Niemand scheint es zu wissen. Die Meinungen gehen auseinander. Am 29. August meldete die britische Tageszeitung Independent unter Verweis auf nicht namentlich genannte Mitglieder der Regierung von US-Präsident Barack Obama, nach der gelungenen Ausschaltung von Atiyah Abd al-Rahman, der Nummer zwei in der Al-Kaida-Hierarchie nach Bin-Laden-Nachfolger Aiman Al Zawahiri, sieben Tage zuvor durch einen mittels Drohne durchgeführten Raketenangriff im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan stünde die angeblich global agierende Terrororganisation "am Rande der Niederlage". Damit sei demnächst für die USA jener "strategische Sieg" über Al Kaida zu erwarten, wie ihn in den letzten Wochen der neue Verteidigungsminister Leon Panetta und sein Nachfolger als neuer CIA-Chef General David Petraeus in Aussicht gestellt hatten, so Matt Apuzzo, der Washingtoner Korrespondent des Independent.

Ganz anders beurteilt Michael Scheuer, der von 1996 bis 1999 Leiter von "Alec Station", der Anti-Al-Kaida-Abteilung, bei der CIA und von 2001 bis 2004 persönlicher Berater des damaligen Director of Central Intelligence George Tenet war, die derzeitige Situation. Bei einem Auftritt am 28. August auf der internationalen Buchmesse in Edinburgh bezeichnete der Bin-Laden-Biograph, der heute Friedens- und Sicherheitspolitik an der Georgetown Universität in Washington D. C. lehrt, den "Arabischen Frühling", das seit Monaten anhaltende Aufbegehren gegen die autoritären Regime im Nahen Osten, als eine "geheimdienstliche Katastrophe für die USA, Großbritannien und unsere europäischen Partner".

In einem Bericht über den denkwürdigen Auftritt Scheuers in der schottischen Hauptstadt berichtete am 29. August die britische Tageszeitung Guardian und zitierte diesen wie folgt: "Die Hilfe, die wir früher vom ägyptischen Geheimdienst, weniger von den Tunesiern, aber sicherlich auch von den Libyern und Libanesen erhalten haben, ist versiegt - entweder wegen ihres Grolls darüber, wie unsere Regierungen ihren politischen Führern in den Rücken gefallen sind, oder weil sich diejenigen, die für die Dienste arbeiteten, aus Angst, inhaftiert zu werden oder Schlimmeres zu erleiden, rar gemacht haben. ... das Ergebnis ist, daß wir in unserer Fähigkeit, das, was die Militanten treiben, unter Beobachtung zu halten, blind geworden sind". Über nämliche Entwicklung würde Al Kaida "frohlocken", so Scheuer.

Die Ermahnungen des ehemaligen Bin-Laden-Jägers stehen im krassen Gegensatz zu den überschwenglichen Lobliedern zahlreicher Kommentatoren, die nach dem Sturz des langjährigen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak im vergangenen Februar meinten, die demokratische Reife der arabischen Massen hätte den Al-Kaida-Ansatz des gewaltsamen Widerstands gegen "westliche Kreuzritter", "zionistische Besatzer" und "korrupte Potentaten" im Nahen Osten auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt. Doch möglicherweise greifen beide Interpretationen zu kurz. Schließlich sind es nicht zuletzt die Al-Kaida-Kampfgefährten von der Libyan Islamic Fighting Group (LIFG), die dieser Tage Seite an Seite mit Spezialstreitkräften und Söldnern aus Großbritannien, Frankreich, den USA, Jordanien, Katar und den Vereinigten Arabischen Staaten in Tripolis, Benghazi und Sirtre dabei sind, mit militärischen Mitteln das Ende der Ära Muammar Gaddhafis in Libyen einzuläuten.

In Syrien heizen militante Mitglieder der sunnitischen Muslimbruderschaft in Hoffnung auf einen "Regimewechsel" in Damaskus seit Monaten den Konflikt zwischen den Ordnungskräften Baschar Al Assads und der sogenannten Demokratiebewegung blutig an, während in Ägypten die gleiche Organisation die neuen Militärherrscher stützt und sich bereits auf eine Regierungsübernahme nach den bevorstehenden Parlamentswahlen vorbereitet. In beiden Fällen wird Saudi-Arabien, nach Israel der wichtigste Verbündete und größte Rüstungsabnehmer der USA in der Region, als Geld- und Ideengeber der Muslimbruderschaft vermutet. Gleichzeitig sorgen die ebenfalls von den Saudis unterstützten Al-Kaida-Ableger im Irak und im Jemen für eine gefährliche Destabilisierung sowohl am Horn von Afrika als auch am Persischen Golf, deren Ausgang wie der des gesamten Umbruchprozesses in der arabischen Welt vollkommen ungewiß ist.

Von daher ist die Frage, ob sich Al Kaida im Aufwind oder Abtrudeln befindet, irrelevant. Gewaltbereites Aufbegehren scheint angesichts der sozialen Verelendung, der sich ausbreitenden Armut und der kulturellen wie politischen Unterdrückung in der islamischen Welt unvermeidlich. Al Kaida ist lediglich der Titel, den die Mächtigen derzeit dieser Entwicklung geben, um sie für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren - um beispielsweise Sunniten und Schiiten im Irak, Pakistan und anderswo gegeneinander aufzuhetzen. Als sich die USA, Pakistan und Saudi-Arabien in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts der gleichen Kräfte bedienten, um der Sowjetunion ihren eigenen Vietnamkrieg in Afghanistan zu bereiten, war man für den Kampfesmut der afghanischen Mudschaheddin und der arabischen Freiwilligen voll der Bewunderung und stellte sie moralisch auf die gleiche Stufe mit den Gründervätern der USA. Die sowjetischen Soldaten in Afghanistan haben ihre damaligen Gegner mit Sicherheit ganz anders erlebt und gesehen.

30. August 2011