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NAHOST/1221: Libyen - auf dem Weg zum Somalia am Mittelmeer? (SB)


Libyen - auf dem Weg zum Somalia am Mittelmeer?

Zwei Jahre nach der "Revolution" kommt Libyen nicht zur Ruhe



Zwei Jahre nach dem Auftakt der gewalttätigen Proteste, die im Oktober 2011 mit dem widerwärtigen Lynchmord an Revolutionsführer Muammar Gaddhafi ihren Höhepunkt fanden, sieht die Lage in Libyen alles andere als rosig aus. Noch immer hat sich das Mittelmeerland innenpolitisch nicht stabilisiert. Das Staatswesen, das nach der "Revolution" mit brutalen Methoden von Gaddhafigetreuen gesäubert wurde, liegt nach wie vor im argen. Vom Gewaltmonopol des Staates kann jedenfalls nicht die Rede sein. An vielen Orten, darunter auch in einigen Vierteln der Hauptstadt Tripolis, sorgen polizeilich unausgebildete Milizionäre für "Ordnung". In Benghazi hat weiterhin die islamistische Ansar Al Scharia, die hinter der Ermordung des US-Botschafters Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter im vergangenen September in der ostlibyschen Küstenstadt vermutet wird, das Sagen. US-Präsident Barack Obama erklärte Libyen am 14. Februar formell zu einer "außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Außenpolitik der Vereinigten Staaten". Eine rasche Änderung dieses Zustandes ist nicht in Sicht.

Im Jargon der Technokraten gesprochen, tut sich Libyen seit mehr als einem Jahr hauptsächlich als Exporteur von Instabilität hervor. Offenbar in Absprache mit der NATO sind seit Ende 2011 Hunderte kampfbereiter Dschihadisten, die größere Mengen Waffen bei sich tragen, aus Libyen über das Mittelmeer in die Türkei transportiert und von dort nach Syrien eingeschleust worden, damit sie zusammen mit sunnitischen Extremisten aus aller Welt auch in Damaskus für einen "Regimewechsel" sorgen. Die Islamisten, die letztes Jahr weite Teile im Norden Malis unter ihre Kontrolle brachten und damit den Streitkräften Frankreichs vor wenigen Wochen einen Grund zum Einmarsch lieferten, hatten sich vorher mit schweren Waffen und Munition aus libyschen Beständen eingedeckt. Seit Monaten werden auf der Sinai-Halbinsel alle möglichen Waffensorten aus ehemals libyschen Armeebeständen an aufständische Gruppen aus Nordafrika und dem Nahen Osten versteigert. Die ägyptischen Behörden können nur einen Teil des Waffenschmuggels aus Libyen unterbinden. Zuletzt gelang ihnen am 27. Februar südlich von Kairo die Beschlagnahmung zweier Geländewagen samt 60 Anti-Panzerraketen.

Es zeugte von einer gewissen Ironie, als sich Hillary Clinton kurz vor ihrem Ausscheiden als US-Außenministerin am 1. Februar unter Verweis auf das Geiseldrama Mitte Januar in der Gasförderanlage in der Nähe des ostalgerischen In Amenas - ein Vorfall, der fast eine Woche dauerte und 37 Menschen das Leben kostete - über die "Büchse der Pandora", welche die Waffen aus Nordafrika für sie bedeuten, beschwerte. Schließlich war es Clinton gewesen, die im Frühjahr 2011 die Fraktion der Befürworter innerhalb der Obama-Regierung für eine militärische Unterstützung der libyschen Rebellen durch die NATO angeführt und ein halbes Jahr später auf die Nachricht von der Ermordung Gaddhafis mit dem triumphierenden, kaltblütigen Spruch "Wir kamen. Wir sahen. Er starb." reagiert hatte. Darüber hinaus gab Clinton mit ihrer Feststellung - "Es steht außer Zweifel, daß die algerischen Terroristen Waffen aus Libyen hatten" - eventuell nur einen Teil der Wahrheit wieder. Einem Bericht der britischen Zeitung Daily Telegraph vom 20. Januar zufolge stammten die meisten Waffen, welche die Angreifer von In Amenas benutzten, nicht aus Beständen der Gaddhafi-Ära, sondern waren neueren Produktionsdatums und kamen über den Weg aus Libyen ursprünglich aus Katar. [1] Demnach trugen die Angreifer sogar Uniformen, welche die Behörden in Doha der neuen Übergangsregierung in Tripolis im vergangenen Jahr hatten zukommen lassen.

Innenpolitisch herrscht in Libyen ein völliges Durcheinander, aus dem vor allem muslimische Hardliner, die seit der Beseitigung des früheren säkularen "Regimes" Moscheen, Heiligtümer und Friedhöfe der gemäßigten Sufis zerstören, Nutzen ziehen. Vor wenigen Wochen haben sich die Abgeordneten im Parlament in Tripolis aus Angst vor Übergriffen religiöser Eiferer aus ihrer Verantwortung für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestohlen und sich für Wahlen zur Bildung eines entsprechenden Gremiums ausgesprochen. Die Ergebnisse der Arbeit jener Versammlung vorwegnehmend verkündete Parlamentssprecher und De-Facto-Staatsoberhaupt Mohammed Magariaf anläßlich einer Rede zum zweiten Jahrestag der "Revolution" am 17. Februar, die neue Verfassung werde auf der islamischen Gesetzgebung der Scharia fußen.

Bereits jetzt entwickelt sich Libyen im schnellen Lauf in Richtung Gottesstaat. So hat vor wenigen Tagen der Oberste Gerichtshof eine Entscheidung gefällt, die schwerwiegende Nachteile für die weibliche Hälfte der libyschen Bevölkerung haben dürfte. Wie der Onlinedienst des staatlichen US-Radiosenders Voice of America am 27. Februar berichtete, haben Libyens oberste Richter aus der noch geltenden Verfassung aus der Gaddhafi-Zeit eine Passage für ungültig erklärt, wonach Ehemänner die Erlaubnis zur Heirat einer zweiten Frau entweder von ihren Gattinnen einholen oder vor Gericht erstreiten müssen. Der Gerichtsbeschluß eröffnete libyschen Männern nun die Möglichkeit, bis zu vier Frauen zu heiraten, völlig unabhängig davon, ob die erste Gattin damit einverstanden ist oder nicht.

Im Bericht der Voice of America heißt es: "Liberale [Libyer - Anm. d. SB-Red.) machen sich nun Sorgen, daß noch andere Gesetze aus der Gaddhafi-Ära gestrichen werden könnten, darunter eine Verfügung, die Eltern verbietet, ihre jugendlichen Töchter zu verheiraten. Sie befürchten, daß andere rückschrittliche Erlasse verhängt werden könnten, zum Beispiel reisenden Frauen vorzuschreiben, daß sie von ihrem Ehemann oder männlichen Verwandten begleitet werden müssen." Da wäre es interessant, hierzu Gaddhafi-Bezwingerin Clinton um ihre Meinung zu fragen, standen doch während ihrer vierjährigen Amtszeit im State Department die Rechte der Frauen ganz oben auf der Tagesordnung.

Fußnoten:

1. Mélanie Materese, "Algeria hostage crisis: Most weapons used in attack came from Libya", The Telegraph, January 20, 2013, 08.50PM GMT

http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/algeria/9814510/Algeria-hostage-crisis-Most-weapons-used-in-attack-came-from-Libya.html

2. Jamie Dettner, "Libya's Women Activists Outraged by Court Ruling on Wives", Voice of America News, February 27, 2013

http://www.voanews.com/1611645.html

1. März 2013