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NAHOST/1316: Israel greift Hamas wegen Entführungsfall an (SB)


Israel greift Hamas wegen Entführungsfall an

Netanjahu will die neue palästinensische Koalitionsregierung stürzen



Drei Wochen nach der Gründung einer gemeinsamen Regierung zwischen der eher säkularen Fatah im Westjordanland und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen droht die Versöhnung zwischen Ramallah und Gazastadt wieder zu scheitern. Grund ist die drakonische Reaktion Israels auf die Entführung dreier Jugendlicher aus einer jüdischen Siedlung bei Hebron am 12. Juni. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bezichtigt die Hamas, hinter der Entführung zu stecken, und macht den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas für den Vorfall verantwortlich, weil er angeblich eine Koalitionsregierung mit einer "mörderischen Terrororganisation" eingegangen sei.

Abbas steckt nun in einer verzwickten, wenig beneidenswerten Situation. Möglicherweise ist die Hamas tatsächlich in die Entführung der drei israelischen Jugendlichen verwickelt. Doch um die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) international nicht gänzlich zu isolieren und Netanjahu weitere Angriffsflächen zu bieten, muß die Regierung in Ramallah die Sicherheitsarbeit mit den israelischen Behörden fortsetzen. Vermutlich versucht Abbas' Fatah im Hintergrund mit der Hamas eine Lösung der Krise auszuhandeln. Am 18. Juni hat Abbas demonstrativ die Entführung verurteilt und den unbekannten Auftraggebern unterstellt, Frieden und Stabilität im Nahen Osten torpedieren zu wollen.

Durch diese Haltung entfernt sich Abbas jedoch gefährlich weit von der unter seinen Landsleuten vorherrschenden Meinung. Seit Jahren sitzen Tausende palästinensische Bürger wegen fadenscheiniger Gründe in israelischen Gefängnissen. Entführungen von israelischen Soldaten und Zivilisten haben sich in der Vergangenheit als probates Mittel erwiesen, die Freilassung gefangener Palästinenser zu erwirken. In diesem Fall zeigt Tel Aviv jedoch keinerlei Kompromißbereitschaft, sondern nur erbitterte Härte. In den letzten Tagen haben rund 2000 israelische Soldaten die Region um Hebron durchforstet, bei Razzien Tausende von Wohnungen auf den Kopf gestellt, im ganzen Westjordanland etwa 400 palästinensische "Verdächtige" festgenommen, drei Jugendliche bei Protesten erschossen und zahlreiche Menschen verletzt bzw. traumatisiert zurückgelassen. 240 der Gefangengenommenen sind Mitglieder der Hamas oder stehen der Bewegung nahe. Israel droht nun damit, diese Männer, die allesamt auf der Westbank leben, in den Gazastreifen abzuschieben und sie damit bis auf weiteres, möglicherweise für immer, von ihren Familien zu trennen.

Bei der palästinensischen Bevölkerung herrscht das Gefühl vor, die Reaktion Israels auf den jüngsten Entführungsfall sei vollkommen unverhältnismäßig. Die Palästinenser stellen die Verschleppung der drei Israelis mit der Verhaftung von Hunderten ihrer Landsleuten in Relation und fragen sich, warum sie in solchen Situationen einen soviel höheren Preis zahlen müssen. Sie empören sich darüber, daß sich die internationale Diplomatie für die Freilassung der drei israelischen Jugendlichen einsetzt, während im Ausland die Medien den gewaltsamen Tod der drei jungen Palästinenser im Verlauf der israelischen "Suchaktion" kaum wahrnehmen. Kein Wunder also, daß es am Nachmittag des 21. Juni in Hebron zu einer Demonstration von Familien kam, die ihre Unterstützung für die Entführungsaktion unter anderem deshalb zeigen wollten, weil ihre eigenen Angehörigen seit Jahren in israelischen Gefängnissen sitzen.

Bislang hat sich niemand zu der Entführung bekannt oder irgendwelche Forderungen gestellt, durch deren Erfüllung die drei israelischen Jugendlichen freigelassen werden könnten. Die Hamas hat bisher eine Verwicklung in die Aktion weder bestätigt noch dementiert. Bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, daß am 5. Juni bei einer Sitzung des Netanjahu-Kabinetts das Szenario einer Entführung von drei jungen Israelis erörtert wurde. Dies berichtete am 15. Juni die liberale israelische Zeitung Ha'aretz.

In der Kabinettsdiskussion ging es um ein neues Gesetz, das der israelischen Regierung künftig die Begnadigung und damit den Austausch gefangener "Terroristen" verbieten sollte. Gegen das Gesetz, eine Initiative der Siedler-Partei Habayit Hayehudi um Wirtschaftsminister Naftali Bennett, setzte sich Tamir Pardo vehement ein. Unter Anspielung auf die aufsehenerregende Verschleppung von 234 Schülerinnen durch die islamistische Gruppe Boko Haram im April im Norden Nigerias entwarf der Mossad-Chef das Szenario der Entführung dreier vierzehnjähriger Mädchen aus einer jüdischen Siedlung und plädierte dafür, den Handlungsspielraum der Exekutive durch das geplante Gesetz nicht unnötig einzuengen. Nur eine Woche nach dieser Unterredung verschwanden die drei israelischen Jugendlichen auf dem Heimweg von der Schule.

21. Juni 2014