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NAHOST/1325: Obama-Regierung mit Netanjahus Kurs unzufrieden (SB)


Obama-Regierung mit Netanjahus Kurs unzufrieden

Nahost-Beauftragter Philip Gordon spricht in Tel Aviv Klartext



Operation Protective Edge gegen Gaza geht inzwischen in den vierten Tag. Die Zahl der hierbei getöteten Palästinenser liegt bei 102, bei den meisten Opfern handelt es sich um Zivilisten. Hunderte Menschen sind verletzt worden. Bei den Raketenangriffen der Hamas und anderer palästinensischer Milizen von Gaza aus auf Israel ist bislang niemand ums Leben gekommen. Während die Regierung von Benjamin Netanjahu 40.000 Reservisten in Stellung gebracht hat, um eventuell eine Bodenoffensive zu starten, wächst international der Druck auf Tel Aviv, das Feuer einzustellen. Die Regierung von US-Präsident Barack Obama hat sich öffentlich als Vermittler angeboten.

Inwieweit Netanjahu, der noch am 10. Juli eine erneute Waffenruhe mit der Hamas kategorisch abgelehnt hat, zum Einlenken bereit ist, läßt sich schwer sagen. Schließlich hat er die aktuelle Krise provoziert. Nach der Entführung dreier Thora-Schüler im Westjordanland am 12. Juni hat er entgegen den Erkenntnissen der eigenen Polizei und des eigenen Inlandsgeheimdienstes die Hamas bezichtigt, hinter der Aktion zu stecken. Es folgten zweieinhalb Wochen brutaler Razzien auf der Westbank, bei der sechs palästinensische Jugendliche erschossen, Tausende Wohnungen verwüstet und fast 600 Menschen verhaftet wurden. Unter den Inhaftierten befanden sich zahlreiche Hamas-Mitglieder, von denen sich nicht wenige aufgrund früherer Abmachungen mit Israel auf freiem Fuß befanden. Als dann am 30. Juni die Leichen der drei Entführten entdeckt wurden, goß Netanjahu unter anderem mit der Aussage "Hamas ist verantwortlich. Hamas wird bezahlen" weiteres Öl ins Feuer.

Bei einem Luftangriff in der Nacht vom 6. auf den 7. Juli auf einen Tunnel in Gaza hat Israel sechs Hamas-Mitglieder umgebracht. Als Reaktion darauf hat die Hamas noch in der selben Nacht die ersten Raketenangriffe seit November 2012 gestartet und damit formell die bis dahin geltende Feuerpause beendet. Für Israel war dadurch der Vorwand gegeben, Operation Protective Edge, die nach außen als große Anti-Terror-Aktion zum Schutz israelischer Bürger vor Hamas-Raketen verkauft wird, nach innen jedoch auch als Vergeltungsaktion für die Ermordung der drei Religionsschüler aus einer jüdischen Siedlung bei Hebron gilt, zu verwirklichen.

Ausgerechnet am selben Tag, dem 8. Juli, an dem besagte Operation begann, hat Philip Gordon, der als Nahost-Koordinator im Nationalen Sicherheitsrat der USA Sonderberater Obamas ist, die Netanjahu-Regierung heftig kritisiert und ihr eine große Verantwortung an der aktuellen Krise im Nahen Osten angelastet. Dies machte Gordon mit einer wenig diplomatischen Eröffnungsrede auf einer von der linksliberalen israelischen Tageszeitung Ha'aretz veranstalteten Israel Conference for Peace, die im David InterContinental Hotel in Tel Aviv stattfand. In einem Bericht der Times of Israel vom 9. Juli wurde der 25minütige Vortrag Gordons als "ungewöhnlich scharf" für eine "außenpolitische Rede" bezeichnet.

Gordon bekräftigte zunächst die Verbundenheit der USA zu Israel. Die Vereinigten Staaten würden Israel "immer den Rücken freihalten", doch deshalb fühle man sich in Washington wenn nötig auch verpflichtet, den Freunden in Tel Aviv unangenehme Wahrheiten zu sagen. Gordon äußerte sein Bedauern über den Ausgang der jüngsten Friedensinitiative von US-Außenminister Kerry, die bekanntlich an der Frage der jüdischen Siedlungen auf der Westbank und der Freilassung palästinensischer Gefangener aus israelischer Haft gescheitert war. Daraufhin hatte Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas eine Einheitsregierung mit der Hamas gegründet und die Mitgliedschaft Palästinas bei verschiedenen UN-Unterorganisationen beantragt. Vor allem die von Washington signalisierte Bereitschaft, mit jener neuen Palästinenser-Regierung zusammenzuarbeiten, hatte Netanjahus Kabinett mächtig erzürnt.

Gordon trat für eine Wiederaufnahme von Gesprächen und die Schaffung eines endgültigen Friedensabkommens auf Basis der Grenzen von 1967 ein, also vor der israelischen Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands und des Gazastreifens. Israel sollte auf die Gelegenheit, einen solchen Frieden mit Abbas auszuhandeln, nicht verzichten, denn Palästinas Präsident hätte "sich immer wieder zur Gewaltlosigkeit sowie der Koexistenz und Zusammenarbeit mit Israel bekannt", so Gordon. Mit unmißverständlichen Worten warnte Obamas wichtigster Nahost-Experte die Netanjahu-Regierung vor einer Fortsetzung ihres derzeitigen Kurses:

Israel sieht sich mit einer unbestreitbaren Realität konfrontiert: Es kann die militärische Kontrolle über ein anderes Volk nicht unbefristet ausüben. Es zu tun ist nicht nur verkehrt, sondern auch ein Rezept für Ressentiments und wiederkehrender Instabilität. Es ermutigt die Extremisten auf beiden Seiten, zehrt an Israels demokratischer Substanz und nährt die gegenseitige Entmenschlichung.

Vor diesem Hintergrund stellte Gordon eine Reihe Fragen auf, die sich für die rechtsgerichtete Regierung Netanjahus bestimmt nicht angenehm anhörten:

Wie soll Israel ein demokratischer und jüdischer Staat bleiben, während es versucht, Millionen palästinensischer Araber, die auf der Westbank leben, zu regieren? Wie kann es Frieden genießen, wenn es sich weigert, seine staatlichen Grenzen festzulegen, die Besatzung zu beenden und den Palästinensern Souveränität, Sicherheit und Würde zu gewähren? Wie sollen wir [die USA - Anm. d. SB-Red.] andere Staaten daran hindern, palästinensische Bemühungen bei internationalen Institutionen zu unterstützen, solange Israel als friedensunwillig gesehen wird?

Angesichts dessen rief Gordon die Israelis dazu auf, endlich die schwierigen Entscheidungen zur Verwirklichung eines dauerhaften Friedens zu treffen; ohne eine Lösung im Nahost-Konflikt seien die Menschen dort zu "mehr Spannungen, mehr Ressentiments, mehr Ungerechtigkeit, mehr Tragödien und mehr Trauer" verdammt.

Gordon widersprach Netanjahu, der vor kurzem angesichts des Vormarsches sunnitischer Fundamentalisten vom Islamischen Staat im Irak behauptete, daß nur Israel seine Ostgrenze verläßlich sichern könne und deshalb dauerhaft seine Truppen im Jordantal stationieren müsse. Gegen diesen Standpunkt laufen die Palästinenser Sturm, weil er in der Konsequenz bedeutet, daß ihr Staat, sollte er jemals zustande kommen, keine Außengrenze hätte und daß die Übergänge nach Jordanien in israelischer Hand blieben. Gordon verwies auf Pläne der USA, die General a. D. John Allen vor kurzem mit der israelischen Militärführung erörtert hat, eventuell im Rahmen der NATO eine Sicherheitsarchitektur im Jordantal zu installieren, die jeder kriegerischen Bedrohung, ob konventionell oder unkonventionell, standhält.

Seit 2009 hat sich Netanjahu allen Bemühungen Obamas um eine friedliche Beilegung des Nahost-Konfliktes konsequent widersetzt. Selbst wenn er sich in den kommenden Tagen auf eine Waffenruhe in Gaza einläßt und dafür für sich irgendwelche Zugeständnisse seitens der USA herausholt, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von seiner bisherigen Linie der Konfrontation statt der Versöhnung mit den Palästinensern abrücken.

11. Juli 2014