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NAHOST/1399: Ramadi an IS gefallen - Washington und Bagdad ratlos (SB)


Ramadi an IS gefallen - Washington und Bagdad ratlos

Dschihadisten-Armee im Irak weiterhin auf dem Vormarsch


Im Kampf gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) haben die Armee und die Zentralregierung des Iraks am 17. Mai eine verheerende Niederlage erlitten. An diesem Tag ist Ramadi, Hauptstadt der größten, zumeist von Sunniten bewohnten Provinz Anbar, vollständig an den IS gefallen. Zuvor hatten die letzten Soldaten dort, Mitglieder der irakischen Spezialstreitkräfte, ihre Positionen geräumt und waren zusammen mit Tausenden Zivilisten Hals über Kopf Richtung Bagdad geflohen. Auch für die USA, die seit vergangenem Sommer eine multinationale Militärkoalition gegen den IS im Irak und in Syrien anführen, ist der Fall Ramadis in höchstem Maße peinlich. Fast ein Jahr, nachdem im Juni 2014 der IS im Norden des Iraks Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, erobert und die irakische Armee in die Flucht geschlagen hatte, zeigen die Bemühungen Washingtons, die Streitkräfte Bagdads zu einer ernstzunehmenden Truppe aufzubauen und den IS zurückzudrängen, keinen nennenswerten Erfolg.

Vor kurzem hat die erste große Bodenoperation gegen den IS, die Rückeroberung von Tigrit, dem Heimatort Saddam Husseins, nicht wie erwartet wenige Tage, sondern einen Monat gedauert. Zwischendurch war der Vorstoß ins Stocken geraten. Erst massive Luftangriffe auf IS-Stellungen haben den Durchbruch herbeigeführt. Darüber hinaus waren an der Tigrit-Aktion nicht nur Tausende reguläre Soldaten, sondern auch Zehntausende schiitische Volksmilizionäre, die von iranischen Militärberatern begleitet wurden, beteiligt. Aus Angst, es könnte in Ramadi wie nach der Vertreibung der letzten IS-Dschihadisten aus Tigrit zu Übergriffen der schiitischen Milizionäre auf sunnitische Zivilisten kommen, sollten die irakischen Streitkräfte Ramadi, das bereits seit Januar 2014 von den Salafisten umzingelt war, nur mit Hilfe weniger sunnitischer Stammeskrieger und der Flugzeuge der Anti-IS-Koalition zurückerobern. Diese Operation, die im April anlief, gilt nun als gescheitert.

Am 16. Mai haben IS-Kämpfer ihrerseits eine massive Offensive zur vollständigen Einnahme Ramadis begonnen. Mit Autobomben, die von Selbstmordattentätern gezündet wurden, haben sie mehrere Stellungen der irakischen Armee in die Luft gejagt. Anschließend haben sie mit Planierraupen den Verteidigungsring um die Innenstadt an mehreren Stellen dem Erdboden gleichgemacht. Innerhalb von rund 24 Stunden hatten die vorstoßenden IS-Freiwilligen den größten Teil der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Dort, wo sie die Rolle von Armee und Polizei übernahmen, wurden alle Mobiltelefone eingesammelt und mutmaßliche Sympathisanten der Zentralregierung in Bagdad massakriert. Während eine massive Fluchtwelle aus der Stadt ansetzte, riefen die letzten Soldaten von ihrem Stützpunkt aus in Telefonaten mit Journalisten und dem irakischen Verteidigungsministerium verzweifelt um Verstärkung. Sie haben sie aber nicht bekommen. Darum haben die übriggebliebenen Mitglieder der Eliteeinheit Goldene Brigade am 18. Mai den Kampf aufgegeben und sich dem Flüchtlingsstrom Richtung Bagdad angeschlossen. In den beiden Tagen davor sollen in Ramadi mindestens 500 Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen sein. Die Höhe der Verluste beim IS ist nicht bekannt.

Die offiziellen Reaktionen der Regierungen der USA und des Iraks auf die jüngste Entwicklung zeugen von Ratlosigkeit und Realitätsferne. Während die bedrängten Soldaten in Ramadi sich dem gewaltigen IS-Vorstoß verzweifelt widersetzten, versprach der am 17. Mai im Weißen Haus weilende Vizepräsident Joseph Biden dem irakischen Premierminister Haider Al Abadi telefonisch schnelle Rüstungshilfe und lobte diesen für seine "unerschütterliche Führung". Am selben Tag versuchte US-Außenamtssprecher Jeff Rathke vor Journalisten in Washington die schlechten Nachrichten aus dem Zweistromland mit folgender Aussage zu relativieren: "Wir haben früher gesagt, es würde gute Tage und schlechte Tage geben. ISIL [Islamischer Staat in Syrien und der Levante - die frühere, noch heute von der Administration Barack Obama verwendete Bezeichnung des IS] will den Tag heute für uns zu einem schlechten Tag machen."

Der in Kuwait stationierte Vizeoberbefehlshaber der internationalen Operation Inherent Resolve und General der US-Marineinfanterie, Thomas Weidley, wollte die sich abzeichnende Niederlage in Ramadi nicht wahrhaben. Auf einer Pressekonferenz behauptete er, die IS-"Terroristen" hätten lediglich "vorübergehende Gewinne im Osten und Süden der Stadt" erzielt, und wischte Augenzeugenberichte, wonach die schwarzweiße Fahne des Kalifats bereits über dem Hauptverwaltungsgebäude Ramadis wehe, kurzerhand beiseite. "Wir glauben zutiefst, daß sich der IS im ganzen Irak in der Defensive befindet." Am 18. Mai gab sich US-Außenminister John Kerry "überzeugt" und "absolut zuversichtlich", daß der Vormarsch des IS in den kommenden Tagen und Wochen gestoppt und verlorenes Terrain zurückerobert werden könnte. Die Durchhalteparolen von Kerry u.a. erinnern fatal an diejenigen von George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld während der US-Besatzung des Iraks. Damals wollten Bush jun. und seine Getreuen jeden taktischen Erfolg der Aufständischen als Beweis für deren zunehmende Verzweiflung verstanden wissen.

Für die Amerikaner zeichnet sich im Krieg gegen den IS derzeit kein Licht am Ende des Tunnels ab. Das Gegenteil ist der Fall. Der Einnahme von Ramadi ging ein am 14. Mai im Internet veröffentlichter Kampfaufruf von IS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi an alle Muslime auf der Welt voraus, womit der selbsternannte Kalif alle Gerüchte, wonach er bei einem US-Luftangriff im März getötet bzw. äußerst schwer verletzt worden sei, widerlegt hat. Am 15. Mai hat der von den irakischen Baathisten betriebene Fernsehsender Al Taghier eine Tonbanderklärung von Izzat Ibrahim Al Duri veröffentlicht und damit ebenfalls die These, daß der frühere Stellvertreter Saddam Husseins Mitte April in der Nähe von Tigrit durch einen US-Luftangriff getötet wurde, widerlegt. Al Duri, Anführer der mit dem IS verbündeten, sunnitischen Armee der Männer des Naqshbandi Ordens machte für das anhaltende Blutvergießen im Irak allein "die persische Besatzung" verantwortlich. Al Duris Wortwahl läßt die Hoffnung der Regierung in Bagdad, trotz des geplanten Einsatzes schiitischer Milizen in Ramadi und in anderen Landesteilen die Mehrheit der sunnitischen Stammeskrieger für den Kampf gegen den IS zu gewinnen, als illusorisch erscheinen.

18. Mai 2015


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