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NAHOST/1403: Islamischer Staat (IS) gewinnt in Libyen an Stärke (SB)


Islamischer Staat (IS) gewinnt in Libyen an Stärke

Kalifatsanhänger schlagen Aufstand in Sirte blutig nieder


Die dramatischen Kriegsereignisse in Syrien, wie die Zerstörung eines Tempels von archäologisch unschätzbarem Wert in Palmyra und die Flucht Hunderttausender Menschen in Richtung Europa, hat in den letzten Wochen das Geschehen in Libyen in den Hintergrund treten lassen, was die mediale Aufmerksamkeit betrifft. In dem nordafrikanischen Land tobt seit dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis vor vier Jahren ebenfalls ein mörderischer Bürgerkrieg. Der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung hat Libyen zum Transitland für Hunderttausende Menschen gemacht, die vor Krieg, Unterdrückung oder wirtschaftlicher Not aus vielen afrikanischen Staaten - einschließlich Libyen selbst - fliehen. Derzeit patrouillieren Kriegsschiffe aus den Staaten der Europäischen Union in den Gewässern zwischen Libyen und Italien, um in Seenot geratene Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten.

Auf diplomatischer Ebene versuchen Vertreter der Vereinten Nationen seit Monaten eine Versöhnung zwischen den beiden Hauptbürgerkriegsparteien - das sind die Regierung um das im Juni 2014 gewählte Parlament, das international anerkannt ist und sich aus Sicherheitsgründen in Tobruk im Osten des Landes niedergelassen hat, und die Fajr Libya ("Libysche Morgendämmerung") um die von Islamisten dominierte Interimsnationalversammlung, die nach dem Sturz Muammar Gaddhafis 2011 gegründet worden war und die Hauptstadt Tripolis im Westen kontrolliert - zu erzielen. Warum die diplomatischen Bemühungen um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit bislang nicht gefruchtet haben, ist nicht ganz klar. Nach dem Zusammenbruch des vierzig Jahre währenden Libyen Gaddhafis lassen sich die zutage getretenen Partikularinteressen der vielen Stämme und Regionen offenbar nicht so leicht in Einklang bringen.

Das Machtvakuum in Libyen hat das Kalifat Islamischer Staat (IS), das Abu Bakr Al Baghdadi nach der Eroberung der irakischen Millionenstadt Mossul im vergangenen Sommer ausgerufen hat, auf den Plan gerufen. Im Februar haben IS-Kämpfer, darunter nicht wenige ausländische Gotteskrieger, die Kontrolle über die libysche Hafenstadt Sirte, die etwa auf halber Strecke zwischen Tripolis und Tobruk liegt, übernommen und dort die erste Dependance des Kalifats außerhalb des Irak und Syriens errichtet. Von Sirte aus haben IS-Krieger zahlreiche Anschläge auf Öl- und Gasanlagen durchgeführt, ausländische Auftragsarbeiter verschleppt und hingerichtet und generell durch äußerste Brutalität Werbung in eigener Sache gemacht.

Anfang August haben die Einwohner von Sirte mit Hilfe von Milizionären aus Misurata einen Aufstand gegen den IS gestartet. Anlaß soll die Ermordung eines örtlichen Imams durch die neuen Machthaber gewesen sein. Nach einem tagelangen Gefecht trugen die IS-Kämpfer den Sieg davon. Berichten zufolge kamen bei dem Aufstand 150 bis 200 Menschen ums Leben. Im Anschluß haben die IS-Anhänger am 14. August 15 gefangengenommene Gegner auf dem zentralen Platz von Sirte öffentlich hingerichet - zwölf durch Enthauptung, drei durch Kreuzigung. Auch wenn derlei bestialische Greueltaten bei jedem Menschen Abscheu hervorrufen, so verursachen sie gleichzeitig Angst und haben sich militärpsychologisch meistens als höchst nützlich für die beteiligten Kräfte erwiesen, wie dies historische Beispiele bei den Römern oder dem Mongolenheer Dschingis Khans belegen. Von daher überrascht die Meldung der britischen Zeitung Daily Express vom 15. August nicht, wonach sich die Mitglieder der einst Al Kaida zugerechneten Gruppe Ansar Al Scharia in Libyen, die 2011 bei einem Überfall auf das US-Konsulat in Benghazi den amerikanischen Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter ermordete, dem IS untergeordnet und einen Treueeid auf den selbsternannten Kalifen Al Baghdadi geleistet haben.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Vorfälle in Sirte hat Mohamed El-Dayri von der libyschen Regierung in Tobruk bei einem Treffen der Außenminister der Arabischen Liga am 18. August in Kairo um Hilfe gegen den IS gebeten. El-Dayri regte einerseits die Entsendung einer multinationalen Interventionstruppe an, andererseits forderte er die Aufhebung jenes UN-Waffenembargos, das 2011 auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen den islamistischen Milizen und den Truppen Gaddhafis gegen Libyen verhängt wurde. Solange man die libysche Armee nicht angemessen ausrüste, werde diese nicht den "notwendigen Sieg" gegen die "schwarze Finsternis" des IS erzielen können, so der Chefdiplomat der Tobruker Regierung.

Seit Monaten wird in westlichen und arabischen Politikerkreisen die Idee eines internationalen Eingreifens in Libyen diskutiert. Am 26. Juli meldete der konservative Londoner Daily Telegraph, Hauptpostille der britischen Generalität, sogar, Premierminister David Cameron hätte das Ministry of Defence (MoD) mit der Planung "einer neuen Intervention in Libyen, das zu einem Tummelplatz für die Dschihadisten vom IS geworden" sei, beauftragt. Vermutlich diente die Meldung in erster Linie dazu, Cameron vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, durch die Militärhilfe Großbritanniens und Frankreichs für die Gaddhafi-Gegner 2011 hätte er das Chaos in Libyen und in der Folge das aktuelle Flüchtlingsdrama in Calais mitverursacht und keine entsprechenden Gegenmaßnahmen ergriffen. Nach den leidvollen Erfahrungen der USA in Afghanistan und im Irak während der Ära George W. Bush herrscht in den wichtigsten westlichen Hauptstädten Washington, London, Paris und Berlin eine begründete Skepsis bezüglich der Effektivität der Entsendung westlicher Truppen zur Befriedung ethnisch-religiöser Konflikte in Nordafrika bzw. im Nahen Osten.

Nach einem zweitägigen Besuch in Jordanien konnte General Khalifa Hifter, der frühere CIA-Kontaktmann und heutige Oberbefehlshaber der libyschen Armee, der Presse am 24. August lediglich vermelden, daß sich die Regierung in Amman, was die Hilfe für Tobruk betrifft, darauf beschränken wolle, libysche Soldaten ausbilden und Kriegsverletzte medizinisch behandeln zu lassen. Die Jordanier haben derzeit alle Hände voll mit der Versorgung unzähliger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und der Verhinderung eines möglichen Aufstands einheimischer IS-Anhänger zu tun. Zusammen mit Ägypten, dessen Armee sich auf der Sinai-Halbinsel mit einem IS-Ableger herumschlägt, ist Jordanien bereits an der von Saudi-Arabien angeführten Militärintervention im Jemen beteiligt. Folglich wären es die Libyer selbst, die in ihrem Land dem Schreckgespenst IS ein Ende setzen müßten. Doch ob es dafür die erforderliche Geschlossenheit der verschiedenen libyschen Akteure gibt, muß sich erst noch zeigen.

26. August 2015


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